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No.
Boston
Medical Library
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ig BOYLSTON PLACE.
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HEDIBil JAHBBÜB
HERAUSGEGEBEN
TOH DIB
K. K. GESELLSCHAFT DER ÄRZTE.
REDIGIRT
TOK
PROF. E. ALBERT, PBOFrltrKUNQRAT uid PROF. E. LUDWIG.
1887.
(leMFilf«, ILJahrfuf.)
(DEB GANZEN REIHE 88. JAHRGANG.)
Mit 83 Abbfldnngen und 80 Tafeln.
WIEN, 1887.
ALFRED HOLDER,
K. K. HOF- UND UNIVBRSITÄTS-BÜCHHÄNDLBB,
BOTBI1ITHVKM8TBA8U 1».
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CATALOGUED,
R. F. D.
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Allo Unolitc vorboluilton.
Inhalt.
Seite
I. Üeber D&- und Regeneration von Nervenfasern. Von Br. Lothar
Frankl v. Hochwart ^ . , . . 1
IL Die psendosystematischen Degenerationen des Rückenmarkes in Folge
von chronischer Leptomeningitis. Anatomisch-pathologisch-klinische
Studie von Dr. Alexander Borgherini, Docenten an der Uni-
versität zn Padna. Mit 5 Abbildungen 21
m. Ueber Dilatation des rechten Vorhofes und ihren Nachweis. Von Pro-
fessor Schrötter. Mit 1 Abbildung 51
lY. Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung
der Gehörknöchelchen. Von Dr. G. Gradenigo aus Padua .... 61
y. Drei Ohinesen-Gehime. Anatomische Mittheilung von Prof. Dr. Moriz
Benedikt 121
YI. üeber oongenitale Herzmyome. Von Dr. AlexanderKolisko^ Assi-
stenten am pathologisch-anatomischen Institute in Wien. Mit 1 Tafel 135
VII. Bemerkungen zur Ehrlich*schen Nervenfärbung. Von Dr. J. Pal . . 159
VIII. Ueber den therapeutischen Werth der Salzwasserinftision beim Ver-
blutungstode. Von Dr. Carl Maydl, Privatdocent der Chirurgie
in Wien 165
IX. Ueber Lupus des Kehlkopfes , des harten und weichen (raumens und
des Pharynx. Von Dr. Michael Grossmann in Wien. Mit 2 Tafeln 185
X. Bartholinische Dräsen mit doppelten Ausfähmngsgängen. Von Prof.
Eduard Lang in Innsbruck. Mit 1 Tafel 199
XI. Ueber das Verhalten der fluchtigen Fettsäuren im Harn des gesunden
und kranken Menschen. Von Dr. Freih. y. Rokitansky .... 205
XIL Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung
der Gehörknöchelchen. Von Dr. G. Gradenigo aus Padua. 11. Abth.
mit 5 Tafehi 219
Xm. Zur Frage der Blutung nach Tonsillotomie. Von Dr. Otto Zucker-
kandl, Operationszögling an Prof. Albert's Klinik. Mit 1 Taf. . . 309
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IV
Inhalt.
XIV.
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XV.
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XVI.
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XXIX.
Seite
Üeber das ätiologische Verhältniss des Erysipels zar Phlegmone.
Von Dr. M. Hajek, Secnndararzt l. Classe des Budolfb-Spltales.
Mit 3 Tafeln 327
Znr Frage der Znckerbildong in der Leber. Von Dr. M. A b el e s . . 383
Üeber einige seltene Moskelvarietäten. Von Oberarzt Dr. H er m ann
Hinterstoisser. Mit 4 Tafeln 407
Oasnistischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. Von Dr. Ludwig
Wich, k. 1l. Begimentsarzt im Wiener Invalidenhause. Mit 6 Tafeln 423
lieber Harnsäure im Blute und einigen Oi^ganen und Geweben.
Von Dr. M. Abeles 479
üeber die wechselseitigen Beziehungen zwischen den centralen
ürsprungsgebieten der Augenmuskelnerven. Von Dr. Julius Nu ss-
bäum, Secnndararzt am k. k. allgem. Erankenhause zu Wien . 487
Zur Frage der Bachitis der Neugeborenen. Von Dr. FelixSchwarz,
em. Operateur der Kliniken der Herren Hofräthe Billroth und
Breisky. Mit 2 Tafeln 495
Zur Eenntniss der Strophantin Wirkung. Von Dr. H. Pasch kis
und Dr. Th. Zerner jun. Mit 3 Holzschnitten 513
Das Eiweiss der Kibitzeier als Nährboden für Mikroorganismen.
Von Dottore Domenico Dal Pozzo aus Fagnza (Italien) . . 523
üeber die- Abhängigkeit der Speichelsecretion vom Blutdrucke. Von
Th. Zerner jun 530
üeber Jejunostomie oder die Anlage einer Emährungsfistel bei
radical inoperabler Pylorusenge. Von Dr. CarlMaydl, Privat-
docent für Ohirui^ie, chirurgischer Abtheilungsvorstand an der
PolikHnik in Wien 539
Notiz zur Nervenfärbung. Von Dr. J. Pal 589
üeber zwei gesonderte Nervenbiindel in der grauen Axe des mensch-
lichen Bfickenmarkes. Von Dr. J. Pal. Mit 3 Illustrationen . . . 592
Ein Beitrag zur Lehre von der Kemvermehrung. Von Stud. med.
Josef Emil Berggrün. Mit 1 Tafel 597
Das Verhalten des Veratrins gegen Schimmelpilzwaohsthum. Von Dr.
Arnold Paltauf, Assistent am ger.-med. Institute zu Wien . . 609
üeber die Tuberculose der Brustdrüse. Von Dr. LudwigPiskaöek,
gew. Operateur an Prof. Albert's, z. Z. Assistent an Hofr. Breisky 's
Klinik in Wien. Mit 4 Tafeln 613
■li^-
►H^
Ueber De- uiid\weneFaäea pvl Nervenfasern .
Br. Lothar FranETr. Hoehwart.
(Aus dsfn iDstitflt flr allism. und exparim. Pstkolofle in Wisn.)
(Am 14. December 1886 von der Redaction übernommen.)
Degeneration nach Dorchschneidung peripherer Nerven.
Untersucht man den in Osmiumsänre gefärbten Nerven des
peripheren Ischiadicusstnmpfes des Kaninchens oder Hundes etwa
am 3. bis 4. Tage nach der Durchschneidung, so kann man an
den einzelnen Fasern bereits auffallende Veränderungen wahr-
nehmen. In Kürze ausgedrückt dürfte sich diese Veränderung
dahin resumiren, dass die Substanz der Nervenfaser innerhalb
der Schwann'schen Scheide zerklüftet ist.*)
Es zerklüftet sich sowohl der Markmantel, ich meine jene
Zone, welche von den doppelten Contouren begrenzt ist, als auch
der innerhalb dieser Zonen gelegene Abschnitt.
Es lässt sich beiläufig bemerkt aus der Literatur dieses
Gebietes nicht leicht entnehmen, wie jener innere, von dem Mark-
mantel umhüllte, cylindrische Theil des Nerven genannt wird.
Max Schnitze hat ihn Axency linder genannt. Es ist aber offen-
kundig, dass er dem Primitivbande Remak's nicht entspricht.
Das durch Alkohol darstellbare Primitivband Remakes ist
von viel kleinerem Durchmesser als jener Cylinder, welcher von
*) Die Degenerationsphänomene sind in letzterer Zeit namentlich von
Ran vi er (Le^ns snr l'histologie da Systeme nervenx) nnd S. Mayer, Ueber
Vorgänge der Degeneration nnd Begeneration im unversehrten peripheren Nerven,
Separatabdr., Prag, Tempsky 1881, geschildert worden. Daselbst auch Literatur.
3red. Jahrbücher. 1887. 1 (1)
1
2 Frankl y. Hochwart.
der durch Osmium^) dunkel gefärbten Zone umhüllt wird. Da
ich keine neue Nomenclatur einfuhren kann, will ich jenen Cy-
linder unter HinweiB auf diese Inconsequenzen den Axencylinder
oder auch „axialer Cylinder" nennen und es anderen bewährteren
Kräften überlassen, die Nomenclatur richtigzustellen. .
Die Zerklüftung der Nervenfaser^) ist unter den oben
erwähnten Bedingungen eine so mannigfaltige, dass es schwer
fällt, alle die Bildungen mit Worten zu schildern, welche inner-
halb der Mantelzone auftreten. Ob alle die Bilder auch in tIto
vorhanden waren, ist allerdings noch fraglich ; denn es unterliegt
jetzt keinem Zweifel mehr, dass der Inhalt auch der normalen
Nervenfaser beim Absterben in gewissen Reagentien mannigfache
Veränderungen durchmacht. Ich hielt es daher für nicht gerecht-
fertigt, alle die bizarren Formen durch Wort oder Bild des Ge-
naueren wiederzugeben. Das Wesen der Sache besteht in der
schon angedeuteten Zerklüftung. Aber die Zerklüftungsfelder sind
von verschiedener Grösse. Zuweilen sieht der Nerv so aus, als
wenn innerhalb einer Scheide eine Reihe cylindrischer Stücke
aneinander gereiht lägen. An der Grenze eines solchen Stückes
kommt manchesmal das bekannte Manchettenbild zur Ansicht.
Die einzelnen Stücke sind stellenweise in der Osmiumsäure
sa dunkel gefärbt, als würden sie nur aus Mark bestehen, oder
(vielleicht richtiger ausgedrückt) als würden sie so von Fett durch-
setzt sein, wie der Markmantel des normalen Nerven. Andere
Stücke zeigen wieder eine dunklere Randzone und ein weniger
dunkleres Innenstück, also gleichsam kurze von Mark umsäumte
Nervenstttcke. An anderen Stellen wieder sind diese Stücke im
Innern mit bizarren Zeichnungen versehen, oder so zerklüftet,
dass dunklere rundliche oder unregelmässig begrenzte Massen in
etwas hellerer Umgebung liegen. Wollte man die durch Osmium
total dunkel gewordenen Zerklüftungsproducte im Nerven eben-
') Die meiaten meiner Untersuchungen sind an mit Osmium und Picro-
carmin gefärbten Nerven angestellt. BeEtlglicb der Details dieser Methode siehe
die DarsteUnng Ranvier's 1. c.
') Von einer Reihe älterer Autoren (Schiff, Archiv f. physiol. Heilk.
1852; Erb, Arch. f. klin. Medic. 1869, V., pag. 42 etc.) wurde Persistens des
Axencylinders angenommen. Das Zugrundegehen desselben nahmen u. A. Neu-
mann, (Arch. d. Heük. 1868) und Beneke (Virchow's Arch., Bd. 55, 1872) an.
(2)
Uelxer De- und Regeneration von Nervenfasern. 3
sowohl wie jene, welche nur dunkle Ränder haben, schon als
Maiiballen bezeichnen, so hätten wir kleinere Markballen inner-
halb grösserer Markballen vor uns. Ich \n\l trotz dieser Incon-
Sequenzen den Augdruck Markballen mit Rücksiebt auf die Ge-
schichte unseres Faches beibehalten und sagen: der Inhalt der
Nervenfaser zerklüftet sich zu Markballen.
Doch kann ich es nicht unterlassen, nochmals zu betonen,
dass die Ballen dieses Stadiums nicht aus Mark allein bestehen.
Die Ballen sind vielmehr Trümmer der innerhalb der Schwann'schen
Scheide befindlichen markhaltigen Nervenfaser.
Schon in den hier geschilderten Stadien sieht man da, wo
sich die Markballen von einander entfernen, zwischen denselben
eine ungefärbte Zwiscfaenlage. Es liegt nahe, diese Zwischen-
stücke als die Wand des Schlauches zu deuten, in welchem die
Markballen liegen. Vergleicht man hingegen die hier geschilderte
Phase mit einer späteren, so vrird uns die Vermuthung nahe gelegt,
dass die erwähnten Zwischenstücke als junges Gewebe, als Proto-
plasma aufzufassen seien.
Damit ist natürlich die Abstammung desselben aus der
Scheide nicht ausgeschlossen. Da indessen über die Genesis dieser
Stücke gestritten werden kann und thatsächlich gestritten wird,
und ich keinen Anhaltspunkt finde, die Frage zu lösen, will ich
sie auch nicht weiter discutiren. ^)
In einer weiteren Phase erscheinen kleine, durch Osmium
dunkel farbbare Kugeln, die innerhalb einer Faser aneinander
gereiht sind. Behandelt man solche Fasern mit Alkohol und
Aether, so tritt in denselben noch ein Netz auf. Bald verlieren
die oben erwähnten Kugeln die Eigenschaft, sich durch Osmium
zu schwärzen. Die Faser ist mit einer gelblichen , krümmligen
Masse erfüllt. Hie und da nur erhalten sich die sogenannten
Markkngeln und persistiren unverändert durch lange Zeit.
Zu gleicher Zeit mit der Veränderung des Faserinhaltes ge-
winnt die ehemalige Nervenfaser die Eigenschaft, sich mit Garmin
^) Dass der gesammte Inhalt sich zu einer protoplasmatischen Masse nm-
S«8talte, wnrde von Nenmann behauptet. Ranvier ist der Ansicht, dass eine
Wachemog des schon in der Faser ursprünglich vorhandenen Protoplasmas vor
ach gehe.
!• (8)
4 Frankl v. Hochwart.
za färben. *Wir sehen dann nach der Osmium-Caiminbehandlang
zumeist rothe spindelförmige Elemente von bestimmter Breite,
die mit gelblichen Körnchen, den Residuen der sogenannten Mark-
ballen, mehr oder minder dicht besät sind. Es sind dies Form-
elemente, die von embryonalen Nervenfasern einer gewissen
höheren Stufe meist nicht mehr zu unterscheiden sind. Nur hie und
da eingestreute Markballen erinnern an die Herkunft der Gebilde.
Durch diese Beobachtungen scheint mir der Gang der Er-
eignisse in den grossen Zügen wenigstens klar zu liegen. Aus
dem markhaltigen Nerven wird ein dem embryonalen Nerven
analoges Gebilde. Die Phase, in welcher die degenerirten Nerven
anfangen sich in Carmin zu färben, bietet uns nur ein Merkmal
für die vollzogene Umgestaltung. Dem Wesen nach beginnt die
Rückkehr auf den embrvonalen Zustand vielleicht früher, vielleicht
unmittelbar nach der Durchschneidung. Ausser der Färbbarkeit
in Cannin zeigen die degenerirten Fasern noch ein anderes Merk-
mal, welches ihre Rückkehr auf den embryonalen Zustand an-
deutet : Ich meine den Reichthum der Fasern an Kernen.
Woher nun diese neuen Kerne kommen, ist eine alte Streit-
frage. Nach einigen Autoren (Ranvier, Leegard*) etc.) sollen
sie durch Kemtheilung entstehen, nach anderen sollen sie von
weissen Blutkörperchen abstammen, die zu Kernen werden (Kory-
butt*). Nach der Angabc von S. Mayer bilden sie sich frei
aus der degenerirten Masse.
Die Abstammung aus farblosen Blutkörpern wird heute wohl
nicht mehr ernstlich in Erwägung gezogen. Es bleibt nur die
Alternative zwischen der Ansicht Ran vi er und jener von S.
Mayer. Für die letztere spricht der — übrigens schon Ran vi er
bekannte — Umstand, dass die Kerne nicht so nebeneinander liegen,
wie sie wenigstens stellenweise liegen müssten, wenn sie durch
Theilung entstanden wären.
Für Ranvier spricht andererseits die jetzt dominirende
Ansicht, dass die Kerne nur aus Kernen entstehen.
^) lieber die EntartuDgsreaction. Arbeiten a. d. med.-klin. Institate der
Ludwigs-Universität. I. Band, 1. Heft. Leipzig 1884.
*) Korybutt-Daskiewicz, Ueber Degeneration und Regeneration der
markhaltigen Nerven. Inaug.-Diss. Strassburg, ref. im Centralbl. f. die medicin.
Wiss. 1878.
(4)
Ueber De- und Regeneration von Nervenfasern. 5
Die jetzt dominirende Ansicht ist aber noch durchaus nicht
als für alle Fälle giltig erwiesen. Und es scheint mir, dass es
der Logik in der Wissenschaft nicht entspricht , den Specialfall,
ohne jeden Anhaltspunkt , ja selbst gegen solche Anhaltspunkte
im Sinne einer herrschenden Lehre zu deuten.
Der eine Anhaltspunkt, der hier vorliegt, ist durch die schon
erwähnten Lagerungsverhältnisse der Kerne gegeben, und der
spricht eben gegen die herrschende Lehre.
Doch fallt es mir selbstverständlich nicht ein, auszuschliessen,
dass sich hier die Kerne ebensowohl durch Theilung vermehren,
als auch ans dem Protoplasma irei bilden. Die Kemtheilungs-
figuren, welche Ran vi er u. A. gesehen haben, die ich übrigens
zu constatiren nicht vermochte, mögen im Sinne dieser Alter-
native sprechen.
Die Rückkehr der Nervenfaser auf den embryonalen Zustand
legt uns die Vermnthung nahe, den Degenerationsprocess als einen
entzündlichen aufzufassen.
Für diese Auffassung spricht wohl auch das Vorkommen
von Fettkömchenzellen, die im Beginne der Degeneration in mehr
oder minder grosser Zahl auftreten. Es sind dies grosse, mit einem
Kern versehene Zellen, die in ihrem Innern mit Osmium farbbare
BaUen tragen.
Ueber die Abstammung dieser Zellen zu discutiren, halte
ich nach air dem, was über die Herkunft der Eiterzellen bereits
geschrieben worden ist, für wenig lohnend. Ich signalisire nur
das Vorkommen der Zellen als unterstützendes Moment für die
Auffassung des Processes.
Die durch Degeneration oder, wie ich lieber sagen möchte,
durch Rückbildung entstandenen Fasern sind schmäler als die
markhalügen Fasern im Durchschnitte gefunden werden, aber sie
sinken zunächst — ich meine nach der ersten Metamorphose —
kaum unter die Breite der schmälsten markhaltigen Fasern herab.
Im Verlaufe des Processes scheint aber an einzelnen Faseni noch
eine weitere rückgängige Metamorphose stattzufinden. Es treten
nämlich neben den bisher genannten embryonalen Fasern auch so
schmale Fasern auf, dass wir sie, der gebräuchlichen Nomenclatur
folgend, als Fibrillen bezeichnen müssen, die, wie schon Leegar d
(5)
6 Franklv. Hochwart.
vermuthungsweise ausgesprochen hat, als Abkömmling oder Nerven-
fasern betrachtet werden könnten.
Die meisten der durch die Degeneration entstandenen Fasern
sind durch die Körnung charakterisirt und unterscheiden sich von
dem fibrillären Bindegewebe durch grössere Breite und
schärfere Contouren. Jedoch bekommt man hie und da die eben
beschriebenen Formelemente im Zusammenhang mit feinen Fi-
brillen zu Gesicht. Eingestreute Markkügelchen sprechen aber
dafür, dass auch diese feineren Fibrillen aus markhaltigen Nerven
stammen.
Wenngleich dieses Argument kein absolut zwingendes ist, denn
die Markkügelchen könnten ja in die weichen Fasern von aussen
hineingerathen, so ist doch die Möglichkeit, dass auch fibrilläres Ge-
webe aus Nervenfasern entstehen könne, nicht ausser Acht zu lassen.
Nach Verlauf von 20 Tagen besteht dev periphere Stumpf
nur mehr aus embryonalen Fasern (das sind kernhaltige, granu-
lirte Sti-änge einer gewissen Breite) und einer grossen Menge von
Fibrillen, die man nach den jetzigen Gepflogenheiten unter den
Begriff des Bindegewebes subsumiren sollte. Ich ziehe es aber vor,
alle diese Gebilde vorerst keiner bestimmten Gewebsart zuzurechnen.
Ich will nur constatiren, dass die Nerven auf Formationen herab-
sinken, die wir ohne Eenntniss der Abstammung nicht in allen
Fällen mit Sicherheit als Nervengewebe ansprechen dürften. — Und
selbst Autoren, welche fUr die specifische Natur der bei der Degene-
ration entstehenden Gebilde eintreten, gestehen zu, dass sie häufig
nicht im Stande sind, bestimmte differential-diagnostische Anhalts-
punkte zu geben. So sagt S. Mayer ^): „Es liegt eine Schwierig-
keit darin, im Einzelfall zu entscheiden, ob wir es mit dem
letzten Reste einer degenerirten, markhaltigen Faser, einer mark-
losen Nervenfaser oder einem faserigen Elemente des nicht ner-
vösen Zwischengewebes (Bindegewebes) zu thun haben." Auch
Neu mann ^) äussert sich dahin, dass die Unterscheidung zwischen
den beschriebenen Gebilden und gewissen Elementen des Binde-
*) S. Mayer, Ueber Degeneration und Regeneration im unversehrteu
peripheren Nervensystem. Separatabdr. a. d. Zeitschr. f. Heilk. Prag 1881.
^) Ueber Degeneration nnd Regeneration zerquetschter Nerven. Archiv f.
mikr. Anatomie. XVII F, pag. 302.
(6)
lieber De- und Begeneration von Nervenfasern. 7
gewebes „eine schwere^ sei. Auch er konnte keine sicheren An-
haltspunkte zur Sonderung derselben geben.
Ob auch im centralen Stumpfe eines durchschnittenen
Nerven Degeneration stattfindet, ist noch strittig. Gossy und
Dejerine^) behaupten, dass die Fasern des centralen Stumpfes
intact bleiben. Nach Ranvier gehen sie wohl Veränderungen *
ein, die aber mit denen im peripheren nicht identisch sind. Es
findet nach ihm Zerstörung des Markes und Schwellen desAxen-
cylinders ohne Degeneration des letzteren statt.
Andere Beobachter behaupten, dass die Degeneration am
centralen Stumpfe der am peripheren Stumpfe analog sei. —
Doch soll der Process nur auf eine kurze Nervenstrecke beschränkt
bleiben. Engelmann gibt den ersten Schnürring als Grenze an,
bis zu der die Degeneration fortschreitet. Aehnliche Angaben haben
Korybntt, Rumpf*), Tizzoni') u. A. gemacht. Leegard
stimmt mit den yorhergenannten liberein, gibt aber an, dass die
nächsten 3 oberen Segmente auch pathologisch und zwar in einer
für den centralen Stumpf charakteristischen Weise verändert seien.
Im Folgenden will ich nun die Veränderungen auf Grund
meiner Beobachtungen schildern.
Im nntersten Stück des centralen Stumpfes sehe ich immer
Degenerationserscheinungen, die mit jenen im peripheren Theile
völlig identisch sind : Bildung von Markballen, Kernvermehrung,
Entwicklung embryonaler Stränge. Der 1. Schnürring kann häufig
die Grenze der Veränderungen sein. Die Markballenbildung kann
aber auch unter demselben sistirt sein oder ihn überschreiten. In
einzelnen Fasern steigt sie — namentlich bei jungen Thieren —
mehrere Centimeter weit hinauf.
Wohl kommen auch, wie S. Mayer nachgewiesen hat, in
jeden normalen Nerven einzelne degenerirte Fasern vor. Doch
sind diese, wie ich mich durch meine Untersuchungen überzeugt
habe, relativ selten; der Befand degenerirter Nervenfasern in
höheren Theilen des centralen Stumpfes ist hingegen so häufig,
') Arch. de physiol. norm, et path. 1875, VH, pag. 567.
•) Üntersuchnngen ans dem physio]. Institut der Universität Heidelberg.
\m, pag. 307.
') Centralbl. f. d. medic. Wiss. 1878, Nr. 13-
(7)
8 Frankl v. Hochwart.
dass man wohl annehmeu rauss, dass sie erst durch das Trauma
erzengt sind und nicht schon früher bestanden haben. Oberhalb
der Markballenzone kann die Faser normal erscheinen ; viel
häufiger befindet sie sich aber in einem eigenthümlich veränderten
Zustand. Das Mark ist fein krümelig geworden; es nimmt nach
der Osmiumbehandlung einen graulichweissen Farbenton an. Nach
der Osmium-Carminbehandlung zeigt sich ein breites rothes Band,
das an das in Alkohol entstehende Remak'scbe Axenband er-
innert, aber nur etwas breiter als dieses in der Regel erscheint.
Beschreibungen dieser Veränderungen liegen von Rumpf,
Korybutt und L e e g a r d vor. Der Zustand scheint demjenigen zu
entsprechen, welchen die pathologischen Anatomen mit dem Namen
,, einfache Atrophie" bezeichnen. ^) Diese Art der Verändernn^s:
erstreckt sich über mehrere Segmente oberhalb der Markballen-
zone; dann ecst folgen normale Theile.
Im ganzen unteren Abschnitt des centralen Stumpfes sowohl
in der Region der erkrankten, als auch in der der normalen
Fasern kommt es überdies zur Wucherung des zwischen den
markhaltigen Elementen liegenden Zwischengewebes. In diesem
Zwischengewebe liegen %• ohl schon de norma embryonale Fasern
(S. Mayer). Diese sind aber nach Setzung des Traumas be-
deutend vermehrt. Der Umstand nun, dass viele neue embryonale
Elemente auch in jenen Regionen entstehen, wo sehr wenig oder
gar keine markhaltigen Fasern zu Grunde gehen , beweist , dass
bei der Entzündung nicht die markhaltigen Nervenfasern allein
das Substrat fllr die Jugendformen sind (wie dies einige Autoren
annahmen), sondern dass solche Foimen auch anderweitig ent-
stehen können. ^)
Regeneration durchschnittener Nerven.
Fontana war der erste, welcher erkannte, dass durch-
schnittene Nerven wieder zusammenheilen. Dass an Stelle der zu
^) Vergl. Birch-Hirschfeld, Patholog. Anatomie. II, pag. 284. Leip-
zig 1885.
^) In der Literatur finde ich ausser bei Lee gar d nur noch eine dies-
bezügliche Bemerkung, u. zw. in Virchow's Geschwulstlehre (in, pag. 284): ^Am
Amputationsneuromen erstreckt sich die Neubildung von Nervenfasern weit über
die Schnittenden der Nerven in die Stamme".
(8)
lieber De- und Regeneration von Nervenfasern. 9
Grunde gegangenen Elemente im peripheren Stumpfe neue Fasern
auftreten, wird von allen Seiten anerkannt. Aber über die Art
der Abstammong sind die Meinungen noeb äusseret divergent.
Ich will vorerst in Etlrze die versehiedenen Ansichten mittheilen.
Waller*), der erste Autor, der sich mit der Erforschung der
histologischen Vorgänge bei der Regeneration der Nerven inten-
sirer befasste, stellte sich vor, dass die Axencylinder der Fasern
des centralen Stumpfes in den peripheren, der eine passive Rolle
spielt, hinüberwachsen und dort das Substrat der Neubildung
werden. Brueb*) und in neuerer Zeit Ran vi er haben sich
dieser Anschaanng angeschlossen.
Eine überwiegende Anzahl von Forschern haben jedoch dem
peripheren Stumpfe selbst die Fähigkeit zugesprochen, neue
Nervenelemente zu bilden. Fast alle daselbst vorfindlichen Gewebs-
arten sind als Substrat der Neubildung betrachtet worden. So
wurde vielfach die Meinung vertreten, dass durch Auswachsen
der Kerne neue Fasern entstünden. Bertolet") und Beneke*)
sahen die Kerne des Neurilemms als die eigentliche Bildungsstätte
der jungen Formen an , H j e 1 1 ß) schrieb den Kernen des Peri-
neuriums diese Aufgabe zu; eine ähnliche Ansicht war von
Weissmann»), Förster') und Virchow®) in Bezug auf das
Neurom geäussert worden. Korybutt*) behauptete, dass beim
Frosch aus den sogenannten Plasmazellen Fasern würden. Bako-
wieckii«) beschreibt die Entstehung der neuen Fasern aus
*) Waller, Snr la reprodnction des nerfe etc. Mttller*8 Archiv f. klin.
Medidn. 1869, V, pag. 42.
') Zeitschr. f. Zoologie. 1855, VI, pag. 135.
^ Bertolet-Mitchell, Neurotomy. The Amer. Jonni. of the medic.
■eienees 1876.
*) Yirchow's Archiv, Bd. 55.
') ÄTif Gnmd von Borchschneidangs versuchen. Ueber die Regeneration d.
Kwren. Yirchow's Archiv, 1860, XIX, pag. 352.
*) Ueber Nervennenbildnng in einem Nenrom. Zeitschr. f. ration. Pathol.
3. Reihe, 1859, YH, pag. 259.
^) Handbuch d. allg. path. Anatomie. 2. Aufl. Leipzig 1865, pag. 346.
*) CeUolarpathologie.
*) Archiv f. mikrosk. Anatomie. XY.
'^) Znr Frage vom Yerwachsen peripherer Nerven. Archiv fttr mikrosk.
Autonie XHI, pag. 420.
(•)
10 Frankl v. Hochwart.
spindelförmigen Elementen, ohne über die Herkunft der letzteren
sich zu äussern. Laveran^) und Hertz') hielten ausgewanderte
Blutkörperchen flir die Bildungsstätte der neuen Fasern.
Mehrere Autoren sprachen sich dahin aus, dass das Material
der Regeneration in den Resten der zu Grunde gegangenen Fasern
des peripheren Stumpfes zu suchen sei. Nach der Ansicht der meisten
Beobachter soll das lebende Material, welches vom zertrümmerten
Axencylinder und Mark übrig geblieben ist, zum Neuaufbau der
Faser verwendet werden : Remak^), Eichhorst^), Neumann,
Stricker ß), Leegard nach Versuchen am durchschnittenen and
gequetschten Nerven , S. Mayer bei Neubildung am normalen
Nerven, Korybutt bisweilen an Fröschen, die gehungert hatten
und wieder unter günstige Nahrungsbedingungen gesetzt wurden.
Einzelne Autoren, welche der Meinung waren, dass der Axen-
cylinder während der Degeneration sich unversehrt erhalte, nahmen
nur Neubildung des Markes an (Schiff»), Erb 7). Nach Auf-
recht^) entstehen bei der subacuten Spinalparalyse in den zer-
störten peripheren Nerven neue Gebilde aus den Nervenkemen.
Um nun die Resultate meiner einschlägigen Beobachtungen
mitzutheilen, knüpfe ich meine Darstellung an jenen Punkt an,
wo ich auseinandersetzte, dass die Fasern im degenerii-ten peri-
pheren Stumpf auf den embryonalen Zustand zurückkehren. Die
vollkommene Aehnlichkeit dieser neuen Gebilde mit den Strängen,
die bei Embryonen einer bestimmten Grösse vorkommen, legt
schon an und für sich die Vermuthung nahe, dass aus ihnen neue
Fasern entstehen können. Eine nähere Untersuchung embryonaler
') Beclierches experimentales snr la r^g6n. de nerfs etc. Jonm. de Tanat.
et physiol. 1868.
^) üeber Degeneration n. Regeneration durchschnittener Nerven. Virchow's
Archiv 1869, Bd. 46, pag. 257.
^) üeber Wiederherstellong von Nervenfasern. Virchow's Archiv 1862,
Band 23.
*) Ueber Nervendegeneration nnd Regeneration. Virchow's Archiv 1874,
Bd. 59, pag. 1.
*) Vorlesungen über allg. n. experim. Pathol. 1883, 32 n. 33. Vorles.
*) Archiv des Vereines fär gemein schaftl. Arbeiten, n, pag. 411.
') 1. c.
*^) Die Ergebnisse eines Falles von snbacuter Spinalparalyse. Deutsche!
Archiv f. klin. Medicin. 1878, Bd. 22, pag. 33.
(10)
Ueber De- und Begeneration von Nervenfasern. 11
Nerren (des HtihnchenB and des Meerschweinchens) hat mich in
die Lage Tersetzt, weitere Beweise anfznbringen. Ich bemtihte
mich nämlich an diesen Objecten die Criterien der jugendlichen
Fasern kennen zn lernen. Nengebildetes Mark erkennt man an
den frischen Fasern sowie anch an Osmiumpräparaten an der Schmal-
heit des Markmantels oder des Marksanmes ; nach Osmiombehand-
lug fallt das eigenthtimliche mattgraae Colorit auf, das sich
leicht von der grünlichgelben Färbung degenerirter Fasern unter-
seheidet. Ausserdem erscheinen die jungen Fasern nicht gleich-
massig tingirt, sondern wie mit grauen Pünktchen übersäet. Eine
fernere Eigenschaft der jugendlichen Faser ist ihre Schmalheit.
Dass dies wirklich ein Griterium der Jugendform ist, geht daraus
hervor, dass wir in den cerebrospinalen Nerven der Embryonen
nur schmale Fasern finden, bei ausgewachsenen Tbieren meist
breite, dass femer der Sympathicus, den wir als einen Nerven
auf niederer Ehitwicklungsstufe zu betrachten haben , zeitlebens
wenig breite aber ziemlich viel schmale Fasern führt.
Bezüglich der Entstehung des Markes kann sich die Histo^
logie aUerdings nur in Hypothesen bewegen. Es scheint, als ob
das Mark aus einer Differenzirung des Protoplasmas hervorginge.
leh habe nach der Osmium-Carminfärbung Fasern gesehen , in
deoen auf eine Strecke hin nur gleichmässige Böthung wahrnehmbar
war, weiterhin folgten blasse, weissliche Strecken, dann traten
einzelne mattgraue Punkte auf; diese wurden immer dichter, bis
endlieh am Ende ein vollkommenen grauer Markmantel erschien. ')
Ich glaube also die Hypothese aufstellen zu dürfen, dass die em-
bryonale Faser durch Umgestaltung einer mantelförmigen Rand-
lone zu einer markhaltigen Faser wird. Der centrale Best dürfte
ab Axency linder (Max Schnitze) persistiren.
Mit Hilfe der so gewonnenen Erfahrungen können wir nun
<huran gehen, die Bilder in der degenerirten Faser zu deuten, die
in der Entwicklung begriffenen Gebilde von denen in der regressiven
Metamorphose befindlichen zu unterscheiden.
Es ist leicht mit Bücksicht auf diese Erkenntnisse nach-
n&weisen, dass die embryonalen Stränge, welche aus den alten
0 In äbnliclier Weise steUfc sich KöUiker die Entwicklung des Markes
«& if^ Kerrenelementen der Batrachierlarven vor. Zeit sehr. f. wiss. Zool. XLlH.
(11)
12 Frankl v. Hochwart.
Fasern hervorgegangen sind, wieder der Sitz der Neubildung:
sind; denn nicht selten tragen solche Stränge noch Reste von
degenerirtem Mark in Form von Ballen oder Kugeln in sich,
während zu gleicher Zeit wieder neues Mark auftritt. Diese Ballen
sind bisweilen noch — den Kugeln eines Rosenkranzes gleich —
aneinandergereiht, bisweilen jedoch auf kleine Haufen zusammen-
gedrängt (Regenerationsgarnituren S. M a y e r's). Wohl kommen An-
sammlungen von Mark auch bei der Nervenneubildung im embryo-
nalen Zustande vor. Man hat es dann mit relativ kleinen Mark-
kligelchen zu thun, welche um die Kerne herumliegen ; sie erscheinen
ferner nie in grösserer Menge neben- oder hintereinander ^) und
sind daher leicht von den Degenerationsproducten zu scheiden.
Nicht immer erfolgt die Regeneration gleichmässig über die
ganze Faserlänge; weiter herangebildete Stücke wechseln mit
solchen ab, die auf tieferer Stufe stehen (Schaltstücke Mayer^s).
Hier und da scheinen mehrere Fasern in einem embr}'onalen
Strang zu entstehen.
Nachdem wir die Neubildung von Nerven aus den degene-
rirten Fasern als erwiesen hinstellen, entsteht aber die Frage:
Ist der beschriebene Modus der einzige Weg, auf dem neue Fasern
entstehen können oder können sich noch andere Gewebsforma-
tionen am Aufbau des jungen Gewebes betheiligen? Durch die
Untersuchungen S. Mayer's haben wir erst einen näheren Ein-
blick in das Nervenzwischengewebe erhalten. Wir wissen jetzt,
dass sich zwischen den vollkommen ausgebildeten Fasern immer
noch Jugendformen finden, die sich wieder im Laufe des Lebens
wahrscheinlich höher organisiren können. Es ist nun denkbar, dass
bei einem entzündlichen Reize eine grosse Anzahl dieser schon
vorhandenen embrvonalen Elemente sich weiter entwickelt.
Aber wir müssen noch der Vermuthung Raum geben, dass
auch nieder organisirte Formelemente bei dem Regenerationsacte
betheiligt seien. Einer der Autoren, der sich mit der Regeneration
der Nerven beschäftigte, Hjelt, hat den Kernen des Zwischen-
') Auf diese Formationen liat in neuerer Zeit Vignal (Arcb. de phys.
norm, et pathol. 1883) liingewiesen. Eigenthümliche Markballenbildung anderer
Art, die ich in embryonalen Fasern beobachtete, werden znm Schlüsse dieser
Abhandlung znr Sprache kommen.
(12)
Ueber De- und Regeneration von Nervenfasern. 13
gewebe8 allein die Aufgabe zugewiesen, nene Fasern zu bilden.
Bei anderen Processen ist diese Art der Neubildung wiederholt
behauptet worden. So fdr die Entstehung von Nervenfasern in
Nenromen (Virchow u. A. s. pag. 9), femer bei der Neubildung
TOD Nerven bei Sommerfröschen (Korybutt).
Da man in neuerer Zeit die so augenfällige und leicht zu
beweisende Bildung neuer Fasern aus den Besten der alten er-
kannt hat, ging man über die ältere Anschauung hinweg, ohne
ZQ fragen, ob nicht beide Meinungen nebeneinander bestehen
können. Leegar d ist der einzige, der vorübergehend der letzt-
genannten Yermuthung Raum gibt.
Den directen unumstösslichen Beweis haben die vorher ge-
nannten Autoren allerdings nicht erbracht. Niemand hat das Aus-
wachsen der Kerne und das Verschmelzen derselben unter dem
Mikroskop beobachtet. Aber der Vergleich mit den embryonalen
Formen erlaubt es uns, die Betheiligu^g des nieder organisirten
Zwischengewebes am Eegenerationsact mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit zu vermuthen.
Es gibt ein Stadium beim Embryo, wo bei dem Zerzupfen
von mit Osminm-Garmin behandelten Nerven fast nur Kerne,
respective Gebilde erscheinen, in welchen der Kern an Masse so
prävalirt, dass die Protoplasmazone um denselben kaum merklich
ist. Einzelne sind mit zwei, andere mit einem Fortsatze ausge-
stattet; viele scheinen ohne Ausläufer zu sein. Bei Embryonen
höherer Stufe werden durch das Zerzupfen Kerne mit langen
feinen Fäden isolirt; bisweilen sind die Fäden doppelseitig, an
einigen sieht man in der einen Richtung eine kurze Spitze, in
der anderen einen langen Ausläufer. Es macht hie und da den
Eindruck , als würden solche ' fadentragende Kerne zusammen-
bangen. — Bei noch höher entwickelten Embryonen sieht man
endlich kernhaltige Stränge (Platten der Autoren) von ziemlicher
Breite, die leicht gekörnt erscheinen. In diesen beginnt dann auf
die schon geschilderte Weise die Markanlage.
Es scheint mir daher die Vermuthung gestattet, dass so wie
beim Embryo aus nieder organisirten Material kernhaltige Platten
entstehen, auch bei der Regeneration diese kernerfüllten Lager
ein Substrat der Neubildung sein können.
'13)
14 Frankl y. Hochwart.
Eb mögen nur noch wenige Worte über die Waller-
R a n V i e r'sche Theorie der Nervenregeneration hier Platz finden.
Diese lautete dabin, dass vom centralen Stnmpf die Axencylinder
in den peripheren Stnmpf hinüberwachsen. Zwei Gründe fuhrt
Ranvier zur Stütze seiner Behauptung an: 1. dass man die
Regeneration centralwärts früher auftreten sieht als in der Peri-
pherie; 2. die Aussage der Embryologen, dass beim Embryo das
Wachsthum der Nerven vom Centrum zur Peripherie schreitet
Gegen den ersten Grund spricht, wie schon £. Neumann
hervorhebt, der Umstand, dass die Regeneration in verschiedenen
Stücken einer Faser nicht continuirlich vor sich geht, sondern
sprungweise. Wir sehen oft im peripheren Stumpfe auch voll-
kommen entwickelte (d. h. mit deutlichen Doppelcontoaren und
Axencylinder versehene) Segmente solche folgen, die noch im em-
bryonalen Zustande verharren, d. h. einen protoplasmatischen Strang
darstellen. Diesem folgt dann häufig ein vollausgebildetes Segment.
Bei einem stetigem Hinüberwachsen wäre ein solcher Vorgang
wohl schwer denkbar. Was das zweite Argument betrifft, so ist
die auf den Embryo bezügliche Prämisse noch nicht völlig fest-
gestellt.
Soviel steht jedenfalls fest, dass die Ranvier'sche Lehre
nicht genügend bewiesen ist.
Andererseits muss man aber sagen, dass zahlreiche Gründe
dafür sprechen, dass die Elemente des peripheren Stumpfes sich
activ am Neuaufbau des Nerven betheiligen. Was bei der Dege-
neration zurückbleibt, das sind ja nicht leere Hülsen, ^vie dies
mehrfach angenommen wurde, das sind embryonale Stränge, die
mit Protoplasma erfüllt sind, und wir konnten mit grosser Wahr-
scheinlichkeit nachweisen^ dass sich um diese Stränge ein Mark-
mantel bildet. Es liegt also kein Grund vor, uns der so complicirten
Hypothese des Hinüberwachsens der Axencylinder anzuschliessen.
Wenn wir uns noch erinnern, dass auch nieder organisirte Elemente
wahrscheinlich das Substrat der Nervenneubildung sein können, so
liegt es viel näher dem peripheren Stumpfe eine active Rolle
zuzuweisen. Und wir sehen, wenn wir die Literatur überblicken,
dass sich die meisten Autoren dieser letzteren Ansicht zuwenden.
(14)
üeber De- und Regeneration von Nervenfasern. [5
üntenuohimgeii an peripheren, nnverwachsen gebliebenen
NerYenstttmpfen.
leh habe, um über diese oben erwähnte Frage in's Klare
za kommen, an 7 Kaninchen aus peripheren Nerven (Vagus und
Hjpogloesns) Stücke von 2—3 Ctm. Länge excidirt oder den
Nerven sammt den centralen Wurzeln ausgerissen. Die Unter-
soehung erfolgte 40 — 120 Tage nach der Operation. Es zeigte sich
dami, falls nicht zu lauge Zeit nach der Operation verstrichen
war, an Stelle der früheren Nervenfasern nur embryonales Gewebe.
Während sonst die meisten Fasern nur bis zu einer gewissen
Stufe absinken, um dann nach Vereinigung mit dem centralen
Stücke sich rasch zu erheben, finden wir hier die Rückkehr auf
einen viel früheren Status. Nebst den breiten kernhaltigen Platten
sind hier viele Kerne mit langen Fibrillen und Kerne mit feinen
Spitzen. Wir sehen eine Menge von Gebilden, deren Beziehungen
zum Nervensystem wohl durch Uebergangsformen nachweisbar sind,
die aber ebenso zum jungen Bindegewebe gerechnet werden
können. Wir könnten diesen Formencomplex als einen neutralen
Gewebsboden^) bezeichnen.
Nach mehreren Monaten sah ich in solchen Stümpfen m a r k-
haltige Nervenfasern auftreten. Dieses letztgenannte Phä<
nomen wurde schon im Jahre 1859 von Phillipeaux und
Vulpian*) beobachtet und als eine vom Centralnervensystem
unabhängige Regeneration gedeutet. In letzterer Zeit hat jedoch
Vul p i a n auf Grund neuer Versuche diese Auffassung aufgegeben. ')
Er stellt nnn die Ansicht auf, dass die feinen Anastomosen der
Nervenstämme nach Monaten genügend erstarken, um den peri-
pheren Stumpf wieder vom Centralnervensystem abhängig zu
machen.
Degeneration und Regeneration unversehrter Nerven.
Die merkwürdige Thatsache, dass in unversehrten peripheren
Nerven ünmerfort Fasern degeneriren und regeneriren, wurde in
*) Dieser Ansdmck wurde zum ersten Male von Deiters gebraucht.
*) Note enr des ezperiences eet. Gompt. reod. 1859, 15.
*) Arcb. de Physiologie, 1874.
(lö)
16 Frankl v. Hoohwart.
ihrem vollen Umfange erst von S. Mayer erkannt.^) Wenn ich
anch in der Auffassung der Vorgänge in manchen Stücken von
den Ansichten Mayer's differire, so muss ich doch sämmtliche
Thatsachen, die dieser Autor beschrieben hat, bestätigen. Es ist
kein Zweifel darüber, dass man bisweilen in den peripheren
Nerven junger oder erwachsener Thiere Fasern mit den deut-
lichen Zeichen der Degeneration vorfindet. Ich habe solche beim
Frosch, beim Kaninchen und bei der Ratte (nie beim Hunde) ge-
sehen. Es ist auch kein Zweifel darüber, dass zwischen den aas-
gebildeten Nervenfasern sich immer jugendliehe Formen in ziemlich
bedeutender Anzahl finden. Auch die Auffassung, dass die soge-
nannten marklosen (unverzweigten) Fasern des Sympathicus nur
Durchgangsformen seien, dürfte viel Wahrscheinlichkeit für sich
haben.
S. Mayer gibt an, dass sich aus dem Material der alten
Faser die neue entwickelt; eine Ansicht, die in Bezug auf die
durchschnittenen Nerven schon von Neu mann, Stricker U.A.
geäussert worden ist.
Ich habe nun ebenfalls nach Durchsicht vieler Präparate
normaler Nerven nach und nach alle Bilder getroffen, welche
diese Art der Neubildung beweisen. Aber ich muss im Gegen-
satz zu Mayer die Betheiligung des Zwischengewebes auch ftlr
diesen Process für wahrscheinlich halten. Ueberall, wo man im
Zwischengewebe zahlreiche Jugendformen findet, sieht man alle
jene Gebilde, die mich zu der Aussage veranlasst haben, dass
aus den Kernen des Zwischengewebes, respective den Gebilden
mit prävalenter Eemmasse, neue Fasern werden. Dass es häufig
Zwischenformen zwischen Bindegewebe und Nervenfaseni gibt,
gesteht 8. Mayer selbst zu. Er meint aber, dass diese frag-
lichen Fasern weder Bindegewebe, noch Nervenfasern seien. 2)
Er gibt also zu, dass man diese Gebilde, wenn sie ausser
allem Zusammenhang betrachtet würden, für Bindegewebe ansehen
') Ueber die Geschichte der Entdeckung und die Arbeiten der Vorgänger
(Luschka, Leydig), femer die Kuhnt's, Korybutt's, Rumpfs, Wit-
k 0 w s k y's und R e na u t's, s. d. Originalabhandlung M a y e r's.
^) Mayer stipulirt einen Unterschied zwischen diesen Derivaten des
Nervengewebes und den embryonalen Formen; ich kann denselben nicht als
durchgreifend anerkennen,
d«)
Ueber De- und Regeneration von Nervenfasern. [7
konnte. Allerdings hat Mayer in seiner Polemik gegen die
Bindegewebstheorie damit Recht, wenn er sagt, dass sie sich
weit vom fibrillären ausgebildeten Bindegewebe unterscheiden;
aber wenn man Jogendfonnen des Bindegewebes mit solchen vom
Nerven vergleicht, findet man häufig genug gleichartige Bilder. Eine
jnnge Nervenfaser lässt sich eben nicht von einer jungen Binde-
gewebsfaser unterscheiden. Eine isolirte, marklose Nervenfaser
liest sich, losgelöst von ihrer Umgebung, nicht als solche
agnoBciren.
Hit Recbt erkennen die Histologen nur dann eine Nerven-
endigung für erwiesen an , wenn man die betreffende marklose
Nervenfaser bis zu einer markhaltigen verfolgen kann und so
aus dem Ursprung des Gebildes einen Schluss auf die Natur
desselben zieht.
Wenn S. Mayer diese faserigen, kerntragenden Elemente
desshalb für das Nervengewebe in Anspruch nimmt, weil er mit
Sicherheit nachweist, dass sie vom Nervengewebe stammen, so
scheint er mir über die Grenzen der morphologischen Betrachtung
so Gunsten der speculativen Richtung hinauszugehen. Sobald ich
Elemente aus Nerven hervorgehen sehe, die der Bindegewebsform
analog sind, muss ich, so lange scharfe Gegenbeweise fehlen, die
Möglichkeit offen lassen : Es kann Bindegewebe aus Nerven ent-
stehen. S. May er's Schluss — aus Nervenfasern kann kein Binde-
gewebe entstehen — entspringt eben der noch unerwiesenen Annahme
von der vollkommen gesonderten Stellung der Nervenfaser in der
Gewebsreibe. Ich muss hingegen einerseits die Möglichkeit aner-
kennen, dass unter normalen Verhältnissen bindegewebige Fasern
(d. b. solche, die man, wenn man sie im Bindegewebe fände, auch
zam Bindegewebe rechnen würde) aus Nerven entstehen , und
andererseits auch für wahrscheinlich halten, dass sich aus Binde-
gewebselementen im Nervenstrang neue Fasern bilden können.
Uebergangsbilder, welche mich zu dem voranstehenden Satze
führten, beobachtete ich an normalen Nerven vom Säugethier und
vom Frosche.
Wiederholt habe ich an mehreren Stellen dieser Abhandlung
meiner Stadien am embryonalen Nerven gedacht, in-
Med. Jahrbücher, 1887. 2 (i?)
18 Frankl v. Hochwart.
soweit sie für die Lehre von der Neubildung wichtig waren.
Hier möge noch eine eigenthümliche Beobachtung Platz finden.
Bei Untersuchung der Nerven von Meerschweinchen- und Htihner-
embryonen habe ich häufig Fasern mit Markballenbildung, also
dem Zeichen der Degeneration, gefunden. Im Anfang hielt ich
es für möglich, dass ich es mit Artefacten durch Einfluss des
Osmiums zu thun hatte. Indessen habe ich die genannten Bilder
auch bei Zerzupfen in VaVo Kochsalzlösung gesehen. Uebrigens
studirte ich die Osminmeinwirkung direct unter dem Mikroskop
und fand, dass durch dieses Reagens wohl ein Zerfall des Markes
in cylindrische Bröckeln stattfinden kann, dass sich aber nie die
fttr die Degeneration charakteristischen Ballen finden. Es frsLgt
sich nun, ob wir es in der That mit Rückbildung oder mit einer
eigenthttmlichen abnormen Entwicklung zu thun haben. Zu Gunsten
der Annahme einer Degeneration sprechen folgende Momente:
1. Ich habe diese Markballen um so häufiger gefunden, je
weiter der Embryo ausgebildet war : also zu einer Zeit, wo schon
in den meisten peripheren Fasern das Mark entwickelt war.
2. Alle Eigenthümlichkeiten der Fasern, wie sie nach
Traumen zu sehen sind, konnte ich ab und zu auch da finden.
Ich sah Fasern im ersten Stadium der Degeneration, wo nur die
bekannten schwarzen Kugeln auftreten; ich beobachtete die Um-
wandlung in grünlichgelbe Massen und den Uebergang in Proto-
plasma.
Sohlussbemerkungen.
(Betrachtungen über die Stellung der Nervenfaser
in der Gewebsreihe.)
Ich habe im Laufe der Arbeit wiederholt darauf hingewiesen,
dass zwischen den Jugendformen des Nervengewebes und gewissen
Bindegewebsformen kein durchgreifender Unterschied besteht.
Ich will nun hier die Angaben einiger Autoren citiren, die
daftir sprechen, dass die Stellung des Nervengewebes in der
Gewebsreihe keine so scharf begrenzte ist , wie dies im Allge-
meinen angenommen wird. Der Beweis daftir, dass Binde-
(18)
Ueber De- und Regeneration von Nervenfasern. \ 9
gewebsfaserD von den Nervenelementen histogenetisch
nicht völlig geschieden sind, wurde zuerst von Förster, Weiss-
mann und Yirchow anNeuromen gefuhrt, indem diese Autoren
das Entstehen junger Nervenfasern aus Bindegewebskörperehen
behaupteten. Hjelt plaidirte in begeistertem Anschluss an
V i r e h o w auch für diesen Entyricklungsmodus bei Nervenregene-
lation nach Durchschneidung , ohne . dass er mit dieser Ansicht
durchgedrungen wäre. Auch die schon erwähnte Forderung der
Histologen, bei Nachweis von Nervenendigungen die Abkunft
der marklosen Faser von einer markhaltigen zu constatiren,
spricht fiir eine Vorahnung der hier vertretenen Ansicht. Für
die markhaltigen Fasern des Bückenmarkes ist es von
Fromann und N. Weiss (letzterer unter Stricker's Leitung) i)
sehr wahrscheinlich gemacht worden, dass sie bei der Tabes die
Entwicklungsstätte des Bindegewebes sein dürften.
Und wären nicht so zahlreiche Uebergangsfonnen zwischen
Bindegewebsfasern und jungen. Nervenelementen, so hätte ja der
Streit, ob die Remak'schen Fasern bindegewebig oder nervös
seien, nicht so viele Jahre hindurch wogen können. Es hatten
Termnthlich beide Parteien Recht ; man hat es mit Elementen zu
thnn, die aus Bindegewebe entstehen, zu Bindegewebe werden,
oft theils bindegewebig, theils nervös sind. Vielleicht wird sich
der Neurogliastreit einmal ähnlich entscheiden.
Für die zelligen Elemente der grauen Substanz
hat schon Deiters^) Uebergangsformen von Bindegewebselementen
za Nervenzellen beobachtet; von ihm stammt die Hypothese von
der Existenz eines „neutralen Gewebsbodens" — eines Bodens,
ans dem verschiedene Gewebsarten sich entwickeln können.
Stricker und Unger^) haben in einer speciell darauf ge-
richteten Arbeit die Angaben Deiters' bestätigt und erweitert.
Auch fär den stetigen Zusammenhang zwischen Muskel- und
Nervengewebe liegen Angaben vor. Die Thatsache, dass die
Nervenfaser bei ihrer Endigung continuirlich in die Muskelsubstanz
<) Sitzungsberichte der Wiener Akademie. 1879. Daselbst auch Literatur.
*) Untersnchnngen über Gehirn nnd Rückenmark etc. Brannschweig 1865.
*) Berichte d. k. k. Akademie zu Wien. 1879.
2* (W)
20 Franklv. Hochwart. üeb. De« a. Regeneration v. Nervenfasern.
tibergeht, ist jetzt fast allgemein anerkannt (6 e r 1 a c h i), M a r g 6 ^),
Stricker»), Wolff*), Gessler») n. A.)
Caberla") hat den Nachweis geliefert, dass Muskel- und
Nervenendigung aus demselben Bildungsmaterial entsteht; wir
haben also auch für diese beiden, in ihrer Ausbildang so
differenten Gewebsformen einen neutralen Gewebsboden. Hierher
gehört auch die Bemerkung Billroth's^), dass man gewisse
spindelförmige Elemente in Neubildungen nicht mit Sicherheit
in eine bestimmte Gewebsgruppe (Nerven oder Muskeln) einreihen
könnte. Brücke führt aus, dass man in einem gewissen Stadinm
der Entwicklung der Nerven „täuschend den Anblick hat, als
ob man es mit Zügen von glatter Muskulatur zu thun hätte. ^
(Vorlesungen 11. Wien. Braumüller.)
Dass Nerven am peripheren Ende continuirlich in Zellen
übergehen können, ist eine allgemein anerkannte Thatsache. Auf
die Bedeutung, welche diese Thatsache für die Erkenntnisse in
der Gewebspathologie haben könnte, hat bereits Virchow hin-
gewiesen.
Die Lehre Virchow's, dass im Bindegewebe „eine ewige
Vorrathskammer** flir alle möglichen Gewebsformationen liege,
wird in der neueren Zeit selbst in der pathologischen Histologie
zu wenig beachtet. In die Lehre vom normalen Nervengewebe
ist sie nie eingedrungen. Die monographischen Darstellungen des
peripheren Nervensystems selbst der hervorragendsten Kenner
dieses Zweiges — ich verweise hier nur auf Ranvier, Axel
Key undRetzius, Neumann und S.Mayer — haben diese
Virchow'sche Richtung gänzlich ausser Acht gelassen.
^) Arch. f. mikroskop. Anat. Bd. XIII.
') üeber die Endigangen der Nerven in der quergestreiften Mnskel-
snbstanz. Pest 1862.
3) 1. c.
*) Archiv f. mikroskop. Anat. Bd. 19, pag. 33 i.
') Die motorisclie Endplatte. Leipzig 1885.
^) Arch. f. mikroskop. Anat. Bd. XI, pag. 442.
') Die aUg. cliimrg. Pathologie. 11. Anfl., bearb. v. Win i warl er.
Berlin 1883, pag. 825.
•m^
(80)
II.
Die psendosystematiscben Degenerationen des
Bflckenmaikes in Folge Ton chronischer Lepto-
meningitis.
Auatoxnisch-pathologiflch-klmisclie Studie vou
Br. Alexander Borgherlni,
Docenten an der Universität zn Padna.
(Am. 23. Docember 1886 von der Redaction Übernommen.)
Seitdem Kahler und Pick^) ihre Beobachtungen über
primäre, combinirte Systemerkrankungen des Rückenmarkes ver-
öffentlicht haben, wurde von den pathologischen Anatomen und
den Klinikern die Aufmerksamkeit wiederholt auf die Thatsache
gelenkt, dass das Rückenmark in zwei oder mehreren seiner Faser-
svsteme gleichzeitig oder nach und nach erkranken könne.
Wir werden später sehen, nach welcher Methode und auf
Grund welcher Kriterien die Pathologen, seit Kahler und Pick
die Frage der Histo-Pathologie des Rückenmarkes behandelt
haben ; für jetzt sei nur hervorgehoben , dass nicht alle Forscher
über das Wesen der combinirten systematischen Degenerationen
einig sind und dass die Meinungen gleichsam mehr scholastisch
als wissenschaftlich, man möchte sagen, je nach der Nationalität
der verschiedenen Autoren, auseinander weichen.
^) Archiv f. Psycli. B. VIIF, 2. Heft.
(1)
22 Borghcrini.
Der Fall von Kahler und Pick, der bis heute als einer
der reinsten gilt, zeigte unter der Form von Sklerose eine be-
trächtliche und diffuse Veränderung in den Hintersträngen, den
Vorder- und Seitensträngen; in den letzteren war sie ausschliess-
lich auf die Kleinhirn- und Pyramidenbahnen beschränkt, in den
Vordersträngen auf die Pyramiden-Vorderstrangbahn. Es waren
demnach an diesem Rückenmark sämmtliche lange Riickenmarks-
bahnen von dem sklerotischen Process ergriffen, indem nur die
sogenannten kurzen Bahnen verschont blieben; die Hüllen des
Rückenmarkes boten ein vollkommen normales Aussehen dar.
Noch vor den zwei genannten Autoren hatte schon Fried-
reich einen, diesem eben erwähnten, in mancher Beziehung ähn-
lichen Fall zu beobachten Gelegenheit gehabt, an welchem
Schultze') die histologische Untersuchung angestellt hatte ; weil
hierbei beträchtliche entzündliche Läsionen älteren Datums an den
weichen Meningen constatirt wurden, so schloss man, dass die
primär in den Hintersträngen aufgetretenen krankhaften Verände-
rungen von hier aus auf die Pia mater übergegangen wären und
erst durch diese unter der Form von peripherer Sklerose sich den
Seiten- und Vordersti-ängen mitgetheilt hätten.
Diese von Friedreich beschriebene Läsion war, seiner
Auffassung nach, pseudosystematischer Natur, denn wenn auch die
Bilateralität und die scheinbare Symmetrie des Processes zur
Annahme eines primären, systematisch localisirten Processes ver-
leiten konnten, so waren es hingegen andere Argumente, welche
zur Evidenz darlegten, dass die combinirten Alterationen der
Seiten- und Vorderstränge einem secandären und meningealen
Vorgange ihre Entstehung verdankten.
Im Grunde genommen, waren also die Ergebnisse beider
Arbeiten, von denen wir oben berichtet haben, verschieden, ja
sie standen geradezu im Gegensatze zu einander, indem die
ältere Arbeit, jene Fried r ei ch's und Schultze's, die Läsionen
und mit diesen die klinischen Thatsachen auf Grund der ge-
wohnten pathologischen Anschauungen zu erklären suchte, während
die neuere (Kahler und Pick) ein neues pathologisches Princip
>) Virchow's Archiv, Bd. 70, pag. 140.
12)
Die psendoBystematisdieii Degenerationen des Rückenmarkes etc. 23
schuf, oder besser gesagt: eine bis damals nieht gekannte Com-
bination von krankhaften Processen, d. i. die Möglichkeit einer
primären systematiscben und combinirten Degeneration in ver-
schiedenen Rückenmarkssträngen.
Von jener Zeit an bis zu dem heutigen Tage zeigten
Bamentlicb die Autoren, welche sieb in Deutschland mit diesem
Gegenstande beschäftigten, eine besondere Vorliebe für die An-
sichten K a h 1 e r's und P i c k's. Einige Forscher, wie W e s t p h a 1 *),
Strümpell*), Sioli^), Babesiu*), Vierordt*^), denen sich
die Franzosen Prevost*^) und Reymond') anschliessen, sprachen
stets, wenn auch nicht immer mit Begründung, von primären,
combinirten und systematischen Degenerationen des Rückenmarkes,
während andererseits Vulpian^), Debove und Gombauld^),
Damaschino^®), D^jerine"), Behier^^) u. A. immer und
überall in ähnlichen Fällen neben dem spinalen Processe auch
eine meningeale Läsion hervorhoben, von welcher sie den Ursprung
des Processes in den Seiten- und Vordersträngen, der als p send o-
systematische Degeneration bezeichnet wurde, ableiteten.
Hier dürfte auch der Fall von J. Wolff eingereiht werden, den
er als strangformige Degeneration der Hinterstränge mit gleich-
zeitigen meningo - myelitischen Herden beschreibt, i«) Die ein-
schlägigen Publicationen von Raymond und Tenneson^*),
') Archiv f. Psych. Bd. VIII, 2. H. — IX, X, XV, XVJ.
«) Archiv f. Psych. Bd. X, XI, XII, XVII.
*) Archiv f. Psych. Bd. XI.
*) Virchow's Arch. Bd. LXXVI.
-) Archiv f. Psych. Bd. XIV.
*) Archives de physiol. norm, et pathologique. 1877.
^) Archives de physiol. norm, et pathologique. 1879.
^ Archives de physiol. norm, et pathologique, 1869, et Maladies de Systeme
■erveox. Paris 1879.
^) Archives de physiol. norm, et pathologique. 1879.
»^) Gaasette des Höpitaux. 1883.
") Arch. de phys. norm. et. path. 1884.
^») Thöse de Paris 1885.
»=) Arch. f. Psych. XII.
**) Arch. de physiol. norm, et path. 1886.
(3)
24 Borgherini.
Grasset^) und Erlitzky und Rybalkin*) sind mir erst
nach Abscblnss dieser Arbeit zugekommen, konnten demnach hier
nicht weiter in Berücksichtigung gezogen werden.
Ich will jedoch gleich bemerken, dass der Gegensatz der
Meinungen nur auf histopathologischem Gebiete existirt , während
in klinischer Hinsicht die von Westphal zuerst und später von
Strümpell so scharf gezeichnete und discutirte Krankheitsform
nie anders beschrieben und von Niemandem in abweichender
Weise interpretirt wurde.
Wir werden auf die von den verschiedenen Autoren zum
Ausdruck gebrachten Meinungen und auf die Symptomatologie des
fraglichen Processes noch zurückkommen ; da wir Gelegenheit gehabt
haben, einige Fälle von Erkrankungen des Rückenmarkes, die
mehr oder weniger mit dem hier behandelten Gegenstand zusammen-
hängen, genau anatomisch zu untersuchen, so wollen wnr vorerst
auf die Beschreibung derselben eingehen.
Von den klinischen Erscheinungen können wir nur derjenigen
Erwähnung thun, die sich auf den ersten Fall beziehen , da von
den anderen Fällen die Krankheitsgeschichte gänzlich fehlt. 3)
I. FaU.
Schmigotz Marie, 43 Jahre alt. starb am 10. April 1885
unter den Symptomen einer schweren Spinalläsion im Wiener
Versorgungshause. Das Präparat, sowie die auf den Verlauf der
Krankheit bezüglichen Notizen verdanken wir der Liebenswtlrdig-
keit des dortigen ersten Hausarztes, Herrn Dr. Lud. Pfleger.
Drei Jahre vorher war sie in einer Fabrik angestellt gewesen,
wo sie, ihrer Beschäftigung gemäss, durch lange Zeit während
des Tages die unteren Extremitäten zum Stampfen des Arbeits-
materiales gebrauchen musste. Zu jener Zeit bekam sie Schmerzen
') Arch. de Neurol. Bd. XI u. XII.
'*) Arch f. Psych. Bd. XVII.
^) Vorliegende Arbeit wurde im Laboratorium des Professors Ober-
steiner in Wien begonnen , woselbst ich den Fall I untersuchte. Ich fühle
mich verpflichtet, dem hochgeehrten Professor hier meinen aufrichtigsten Dank
auszusprechen für die Winke, die er mir bei der histologischen Untersuchung
gegeben, und für den freundlichen Beistand, den er mir auch in dem Aufisnehen
der so reichen einschlägigen Literatur gewährt hat.
(4)
Die paeudoQystematischeii Degenerationen des Rackenmarkes etc. 25
Vi den unteren Extremitäten nnd bemerkte, dass ihr Gang schwer-
fiUbger wnrde; die Schmerzen nahmen dann alsbald einen
kndnirenden Charakter an nnd reichten bis znm Kreuzbein hinanf.
Ifaeh Äblanf eines Jahres , während welches der geschilderte Zn-
stand fortdanerte, traten ernstere Beschwerden hinzu: Urinlassen
erschwert« Gehen unmöglich; die unteren Extremitäten wurden
Ton Contractnren befallen, namentlich an der Muskulatur um
die Kniee nnd nm das linke Sprunggelenk; Reflexe gesteigert.
Zuletzt trat eine beträchtliche Abmagerung, namentlich an den
Beinen, auf nnd den Schluss der traurigen Scene bildete eine
Cystitis mit nachfolgender Pyelitis.
Bei der Nekroskopie fand man neben den Läsionen im uro-
poetischen Apparate eine hochgradige, nicht auf die Hirnhäute
abergreifende Läsion der inneren Rückenmarkhäute, die an dem
Dorsaltheile mehr ausgesprochen war, und eine gleichfalls beträcht-
fiche Veränderung des Rückenmarkes, vorwaltend in seinem Dorsal-
theile, w^o es eine weniger consistente Beschaffenheit und ein
fibröses Aussehen darbot.
Mikroskopische Untersuchung. Pia mater. Ihre
beiden Schichten erscheinen sehr yerdickt, aber mehr die innere
circoläre, als die äussere längsgefaserte. Die Gefäs^e in der
leteteren Schichte zeigen beträchtlich verdickte Wandungen und
sind mit Blutkörperchen dicht erfüllt. Die sehr dicke tiefere
Schichte ist an ihrer inneren Fläche durch eine bedeutende Ver-
dickung der sogenannten submeningealen Schichte verstärk
(Fromm an n's Rindenschichte), welche normal aus zartem Binde-
gewebe von feinem granulärem Aussehen auf dem Querschnitte
besteht und meist eine nicht sehr bedeutende Dicke aufweist. ^) In
unserem Falle ist die Rindenschichte, namentlich an den mehr
veränderten Stellen des Rückenmarkes, hochgradig verdickt, sie
bildet dort eine zusammenhängende Masse; verbreitert dringt sie
aach in die normalen Spalten, Gefässe und Sepimente begleitend,
welche die Pia in das Innere des Rückenmarkes, gleichfalls ver-
dickt, hineinsendet.
^) Untersrachnngen über d. norm. n. pathol. Anatomie des Rückenmarkes.
— Frommann. Jena 1864.
(5)
26 Borgherini.
Die histologischen Alteratioiieii beginnen an der Mednlla.
oblongata; weiter cerebralwärts ist nichts Pathologisches zu
sehen.
Die Mednlla oblongata zeigt in ihrem caadalen Theile^
den Seitensträngen entsprechend, zwei massig sklerosirte Stellen ^
welche in ihren, der Peripherie näher liegenden Partien fein
granulirt erscheinen. Der sklerosirende Process setzt sich in die
Tiefe eine kürze Strecke fort, nimmt jedoch von aussen nach
innen an Intensität ab, so dass der innere Abschnitt der Seiten-
stränge nur noch von einem fibrillären Netze mit dazwischen
liegenden normalen Fasern dargestellt erscheint.
An deu Hintersträngen sind ähnliche sklerosirte Stellen
vorhanden; die Sklerose beschränkt sich mehr auf den dorsalen
Antheil der Hinterstränge und ist dort durch compactes, fein granu-
lirtes Bindegewebe charakterisirt.
An dem Reste des Rückenmarksumfanges bemerkt man
Randsklerosc , welche weiter cerebralwärts auch die Pyramiden
in sich begreift, sie ist jedoch hier nur auf einen dtinnen
peripheren Theil beschränkt, wo die von der Pia herrührenden
Sepimente sehr verdickt erscheinen und von Einbiegungen der
Rindenschicht und den verdickten Gefassen begleitet sind.
In dem sklerosirten Gewebe der Seitenstränge sind umso-
mehr erhaltene Nervenfasern zu erkennen, je weniger intensiv
die Verändeioing ist (Weigert'sche Hämatoxylinfärbung) ; ferner
sieht man zahlreiche Keraelemente und Amyloidkörperchen (Alaun-
hämatoxylinfarbung).
Obere Cervicalgegend (Fig. 1): Beträchtliche Ver-
dickung der Pia und Rindenschicht; Seitenstränge, in ihrer
hinteren Hälfte an der Peripherie in ein feinkörniges Gewebe um-
gewandelt, das eine Strecke weit in die Masse des Stranges
hinein vordringt, gegen die Mitte hin wie mit Fransen endend,
die oflFenbar durch das Vorwärtsschreiten des sklerotischen Pro-
cesses gegen das Centrum zu gebildet wurden. In den sklerotischen
Theilen sind noch Markfasem erhalten, deren Zahl nach Innen
hin zunimmt. Längs der Septa in den Seitensträugen und be-
sonders dort, wo ein Blutgefäss eindringt, vertieft sich die Sklerose
mehr; die interstitiellen Blutgefässe sind gleichfalls verdickt.
(6)
Die psendosystematischen Degenerationen des Rfickenmarkes etc. 27
In den Hintersträngen erscheint der GolVsche Strang voll-
ständig verändert; der Bnr dach'sche Strang indessen ist nament-
lich in seinen lateralen Partien intact. An den übrigen Theilen
des Sftckenmarksqnerschnittes ist nnr ein sklerotischer peripherer
RiDg vorhanden, den man auch in der Fissura longitudinalis
anterior zn sehen bekommt; Ganglienzellen, dem Aussehen nach
normal; zahlreiche Kemelemente überall in den sklerosirten
Partien disseminirt, namentlich um die Gefässe herum; zahl-
reiche Amyloidkörperchen.
Halsanscliwellnng des Rückenmarkes (Fig. 2),
Alteration bedeutend. Der ganze Umfang des Rückenmarkes ist,
die Begrenzung der vorderen Längsspalte mit inbegriflfen, sklerosirt ;
der Process reicht hier mehr in die Tiefe. In den Grundbündeln
der Yorderstränge nnd in den gesammten Seitensträngen sind
ebenfalls, wenn auch nicht überall , in gleichem Masse die näm-
lichen Veränderungen vorhanden.
In der hinteren Hälfte der Seitenstränge zieht sich die
Läsion mehr in der Tiefe als vorne ; sie ergreift jedoch in ihrer
stärksten Ausbildung nicht den ganzen Umfang der PyS, indem
die vollständige Sklerosirung circa bis zur Mitte der Dicke des
bezüglichen Stranges reicht. Auch hier besteht die schon oben
angegebene Graduirung des Processes.
Die Hinterstränge sind ganz und gleichmäss sklerosirt und
die Alteration ergreift auch den hinteren Rand der Hinter-
hömer. Kerne und Amyloidkörperchen wie oben; Ganglienzellen
dem Aussehen nach normal; Centralcanal mit Zellen erftillt;
Nervenwurzeln an ihrer Austrittsstelle aus dem Marke atrophisch.
Ein Längsschnitt an dieser Stelle zeigt das sklerotische Gewebe
von deutlich faseriger Beschaffenheit, während es auf den Quer-
schnitt granulirt erscheint.
Gegend der fünftenDorsalwurzel (Fig. 3): Läsionen
noch mehr ausgesprochen. Die Hinterstränge sind ganz in eine
gleichförmige Masse von Bindegewebe umgewandelt, die Seiten-
stränge gleichfalls von dem Processe tief ergriflfen ; das sklerosirte
Gewebe reicht bis oder fast bis an die graue Substanz ; dasselbe
gilt auch von dem Yorderstränge. Jedenfalls erscheint die Läsion
iB den kurzen Bahnen des Vorderseitenstranges (Grundbündel des
(7)
28 Borgherini.
Vorderstranges und Seitenstrangreste weniger vorgeschritten), man
beobachtet nämlich hier einen minder hochgradigen, gleichförmig:
diffusen Process mit noch vielen intacten Nervenfasern.
Die beiden Hinterhömer der grauen Substanz sind ebenfalls
sklerotisch verändert und von fibrösem Aussehen ; Die Zellen der
Clarke'schen Säulen erscheinen mit wenigen Ausnahmen un-
verändert: Nervenfasern sind dort in geringer Anzahl vorhanden.
Lumbargegend (Fig. 4.) : Die Alteration ist viel weniger
ausgesprochen. Die Hinterstränge sind vollständig ergriffen, aus-
genommen den vorderen Winkel neben der grauen Commissar.
Partielle sklerosirende Veränderung der hinteren Hälfte der
Seitenstränge in Form eines schmalen Dreiecks, welches von dem
Rande des Seitenstranges zur Mitte reicht. Von den Hinterhömem
ist dieses Dreieck durch normale Marksubstanz getrennt.
Die Intensität des sklerosirenden Processes nimmt auch hier
von der Peripherie gegen das Centrum zu ab. Ausserdem am
Umfange des Rückenmarkes Randsklerose. Die Nervenwurzeln an
ihrer Austrittsstelle aus dem Rückenmark atrophisch.
Conus medullaris (Fig. 5): Rindenschicht dicker als
anderwärts; Atrophie der aus dem Conus austretenden Wurzeln;
vollständige Sklerose der Hinterstränge; an den Seitensträngen
schwache Randsklerose, links jedoch etwas mehr markirt. Im
hinteren Theite der Seitenstränge reicht die Degeneration etwas
mehr in's Innere hinein. Hinterhörner leicht verändert.
Spinalganglien: Starke Vermehrung des Bindegewebes ;
die Nervenzellen sind aber noch ziemlich gut erhalten.
Vordere Wurzeln (6. Dorsal-, 3. Lumbarwurzel): Blut-
gefässe mit verdickten Wandungen; reich an Kernen, mit vielen
atrophischen und varicösen Fasern; viele Elemente jedoch noch
intact.
Hintere Wurzeln beiläufig wie die vordem, nur mehr
atrophische Fasern führend, die Blutgefässe mehr verändert.
II. Fall.
Bei der Beschreibung dieses Falles und der nachfolgenden
werden wir uns kürzer fassen.
Sections-Diagnose: Meningitis spinalis chronica.
(8)
Die peeiido^ystematisclieii Degenerationen des Rückenmarkes etc. 29
Die mikroskopische Untersuchung ergab: Weiche
Meningen bedeutend verdickt ; Blutgefässe mit sehr dicken Wan-
dungen; Rindenschicht beträchtlich entwickelt, insbesondere an
der unteren Cervical- und Lumbargegend. Die Sepimente der Pia
sind verdickt.
Unterer Abschnitt des Cervicalmarkes: Rein
periphere Sklerose an den Seitensträngen, die auf der einen Seite
besser markirt ist als auf der anderen. An der mehr erkrankten
Seite sind die normalen Sepimente der Pia auch verdickt, und
sie werden von Fortsetzungen der ebenfalls verdickten Rinden-
schicht begleitet; es besteht die im früheren Falle beschriebene
Abflchwächung des Processes von der Peripherie gegen die Mitte
ZQ. Sammtliche fibrilläre Balken, die von der Pia aus quer das
Rückenmark durchziehen, sind sehr verdickt. In den Hintersträngen
sind die GolFschen und die Bu.rdach'schen Stränge erkrankt,
jedoch nicht in beträchtlicher Weise; es blieben nämlich verschont
der hintere Rand, der laterale Rand und die Spitze neben der
grauen Commissur.
Ganglienzellen normal; die graue Substanz erscheint über-
haupt unveiÄndert; Kerne reichlich im sclerosirten Gewebe zer-
streut: namentlich um die Gefasse herum.
Oberer Abschnitt des Lendenmarkes: Innere
Hirnhäute überall verdickt, insbesondere die Pia in ihrer tieferen
Schichte; Rindenschicht ebenfalls verdickt. Unter ihr bemerkt
man den peripheren Theil des Rückenmarkes namentlich in den
I^V von verdickten Sepimenten quer durchzogen. In der hinteren
Hälfte der Seitenstränge beobachtet man eine sclerosirte Partie,
die von der Peripherie gegen die Mitte vordringt ; sie ist von un-
regdmässiger, zackiger Form, compact, gegen den Rand zu von
gnuralirtena Aussehen ; sie wird gegen innen zu allmälig weniger
dicht, und immer mehr von normalen Bündeln durchsetzt. Diese
sclerosirte Partie entspricht jenem Gebiete, welches von den KS
önd den PyS occupirt wird.
An den Hintersträngen begegnet man ähnlichen Verhält-
nissen; beide Bestandtheile sind degenerirt, mit Ausnahme des
tiefsten Abschnittes neben der hinteren Gonunissur.
(10
30 Borgherini.
Die HintersträDge weisen aach sonst neben den Hinter -
hörnern, femer in der Medianlinie und an ihrem peripheren Bande
sehr viele normale Fasern auf. Die hinteren Wurzeln erseheinen
an ihrer Eintrittsstelle zum grossen Theile degenerirt. Die Ganglien-
zellen sehen normal aus; der Centralcanal ist durch Anhäufang
von Zellen verschlossen ; die Arterien sind stark und verdickt.
m. FaU.
Die klinische Diagnose lautete: Tabes dorsalis
incipiens. Die Person starb an einer intercurrenten acuten
Krankheit.
Untere Dorsalgegend: Innere Meningen sehr verdickt ;
desgleichen die Rindenschicht. Von der Pia gehen zahlreiche sehr
dicke Sepimente ab, die zur grauen Substanz hinziehen, und von
sklerosirten Gefässen begleitet werden. In den Seitensträngen,
hintere Hälfte, ist ein sklerotischer Abschnitt vorhanden, der von
der Peripherie gegen die Mitte vordringt; auf der einen Seite
tiefer hineinreicht als auf der anderen. Diese sklerotische Partie
ist an der Peripherie mehr compact, wo sie das Aussehen eines
feinkörnigen Gewebes hat. Gegen die Mitte zu endigt sie in
Strahlen, die sich in dem gesunden Gewebe verlieren.
In den Hintersträngen sind verändert : die Wurzeln , die
Wurzelzone und der G o 1 l'sche Strang. Der mediane und hintere
periphere Rand der Stränge, ferner ein Theil des äusseren Randes,
welcher an das Hinterhom grenzt, sowie der Winkel neben der
hinteren Gommissur sind unverändert geblieben. Der Centralcanal
ist verschlossen. Arterien mit dicken Wandungen. Ganglienelemente
der Vorderhörner und der Clark e'schen Säule von normalem
Aussehen.
Obere Dorsalgegend. Meningen wie oben. Die Rand-
degeneration erscheint beträchtlicher, es breitet sieh das sclerosirte
Gewebe Über das ganze Rückenmark aus, derart, dass auch der
Pyramidenvorderstrang ergriffen ist. In den Seitensträngen tritt
die Alteration noch mehr hervor und greift mehr in die Tiefe ein ;
die Charaktere jedoch sind dieselben wie oben ; das Gleiche gilt
auch ftir die Hinterstränge; Ganglienzellen normal.
(10)
IMe psendosystematisclien Degenerationen des Rückenmarkes etc. 3X
Gegend der Halsanschwellnng: ScleroBe der Seiten-
stränge weniger ausgeprägt, nnd über die Begrenzung derselben
luich den Vordersträngen hin ausgebreitet. Aach an der nicht
flderosirten Partie des Rtickenmarksrandes ist Verdickung der
normalen Sepimente und abnorme Bindegewebswucherung be-
meifcbar.
In den Hintersträngen ist die Degeneration der Wurzelzone
starker markirt.
IV. Fall.
Klinische Diagnose: Amyotrophische Lateral-
selerose.
Obere Lendengegend: Auch hier besteht eine beden-
tende Alteration der Pia mater und ihrer Gefässe ; Rindenschicht
stark entwickelt. Die Septa sehr verdickt. Erhebliche Selerose in
den Hintersträngen, in der hinteren Hälfte der Seitenstränge,
sowie in dem PyV; aber auch an den übrigen Partien des
Rtlekemnarkes ist eine Randsclerose erkennbar. Der der grauen
Äxe anliegende Abschnitt der weissen Substanz ist gut erhalten
nnd normal. Die Läsion in den beiden Hintersträngen ist fast
gleichförmig, jederseits in Gestalt eines Dreieckes, das an seinen
drei Seiten durch gut erhaltene Fasern umgrenzt wird.
In der hinteren Hälfte der Seitenstränge ist die Alteration
beiderseits von gleicher Ansdehnnng. Sie beginnt intensiv an der
Peripherie nnd erstreckt sich gegen die Mitte hin, allmälig an
Intensität abnehmend. In den Vordersträngen sind namentlich deren
Kanten gegen die Fissura longitudinalis zu verändert. Gentral-
eanal verwachsen.
Untere Halsgegend: Pia und Rindenschicht wie oben.
Usion stärker markirt als in den unteren Abschnitten des Rücken-
markes; in Form eines Ringes umfasst sie den ganzen Umfang
des Rückenmarkes. In der hinteren Hälfte der Vorderstränge und
in den Hintersträngen besteht eine hochgradige Selerose, die sich
mit den oben angegebenen Charakteren sehr weit bis nahe an
die graue Substanz erstreckt , an der Grenze derselben jedoch
eine normale Partie freilässt. — Graue Substanz von normalem
Aussehen.
(11)
32 Borgherini.
ObereHalsgegend: Die Alteration der einzelnen Rücken-
marksbflndel ist hier viel weniger deutlich ; man bemerkt die Bil-
dung von interstitiellem Oewebe vorwiegend in den Hintersträngen ;
aber auch an den Rändern der Seiten- und Yorderstränge. Central-
canal frei; Nervenzellen normal.
V. FaU.
Wir fuhren hier noch diesen Fall an, behufs Vergleich mit
dem vorhergehenden.
Klinische Diagnose: Tabes dorsalis.
Untere Dorsalgegend: Spinalwurzeln atrophisch. Trian-
guläre Sklerose der Hinterstränge. Pia bedeutend verdickt, des-
gleichen die Rindenschicht und die Septa. Gentralcanal verschlossen.
Ganglienzellen normal.
Obere Dorsalgegend bietet beiläufig dasselbe Bild.
Clark e'sche Säulen normal. Septa, Rindenschicht und Pia verdickt.
Untere Halsgegend: Der ganze Umfang des Rücken-
marks ist verändert ; aber am stärksten markirt ist die Läsion in
den Hintersträngen.
Mittlere Halsgegend: Dieselbe Alteration an den Hinter-
strängen. In der hinteren Hälfte der Seitenstränge bemerkt man
eine stärkere Läsion als in anderen Höhen. Hier ist zu sehen«
wie die Rindenschicht stark entwickelt ist.
Wir haben also bei den ersten vier beschriebenen Fällen,
die auch zur Grundlage unserer weiteren Auseinandersetzungen
dienen sollen (während das 5. Beispiel nur des Vergleiches wegen
herbeigezogen wurde), geftmden, dass das Rückenmark an einer
Sklerose erkrankt ist, welche viele seiner Fasersysteme gleich-
zeitig ergriffen hat; nämlich die Pyramidenbahnen, die Kleinhirn-
seitenstrangbahn und die GolTschen Stränge, mit einem Worte,
alle langen Rtickenmarksbahnen.^)
*) Wir werden auch in der Folge fortfahren , die G o 1 Tschen Stränge
nnter die langen Bahnen einzureihen, und zwar auf Grund einer Anschauung,
die von der Physiologie acceptirt ist, wenn wir auch wohl wissen, dass man
heute an der systematischen Natur dieser Stränge zu zweifeln beginnt. — Die
meisten Autoren nehmen aber doch die Existenz von systematischen Fasern in
denselben an, die von den hinteren Wurzeln herrühren.
Die paeudosyst^matischen Degenerationen des Rückenmarkes etc. 33
Es soll aber hier gleich bemerkt werden, dass nicht nnr
diese langen Bahnen, sondern auch gleichzeitig, wenn auch nicht
in 80 hohem Grade , die übrigen FaserbUndel , nämlich die soge-
nannten knrzen Bahnen erkrankt waren.
Und nun entsteht die Frage: Bilden denn die angeführten
Fälle ebenso viele Beispiele von degenerativen, combinirten, syste-
matischen und protopathischen Vorgängen im RUckenmarke, wie
sie von Kahler und Pick zuerst beschrieben wurden? Wir
wollen hier gar nicht sofort behaupten, dass sie mit jenen, nament-
lich von Westphal vorgebrachten Fällen volle Uebereinstimmung
darbieten, da wir, wenn wir ohne weiters die von diesem Autor
vertretene Ansicht acceptiren wollten, unsere Frage auch bejahend
beantworten müssten.
Der Fall von Kahler und Pick, der nunmehr allgemein
als Repräsentant einer classischen Form der combinirten, syste-
matischen, primären Degenerationen gilt, ist vor allem dadurch
gekennzeichnet , dass der pathologische Process strenge auf die
langen Spinalbahnen beschränkt bleibt; und ferner durch den
Umstand, dass die inneren Häute des Rückenmarks gar nicht an
der Alteration participiren. Es scheint, dass der Process in den
verschiedenen erkrankten Partien nahezu gleichzeitig aufgetreten
ist In unseren Fällen aber verhält sich die Sache anders. In dem
ersten Falle fanden wir eine beträchtliche Alteration der Pia und
(eine noch stärker ausgeprägte) der Rindenschicht, welch letztere
die charakteristischen Zeichen einer neoproductiven Entzündung
anfvreist. Das Rückenmark zeigt an seinem ganzen Umfange die
Sparen eines chronischen interstitiellen Processes ; und wenn dieser
vornehmlich in den langen Bahnen zum Ausdruck gelangt, so ist
er doch deutlich genug auch in den kurzen Bahnen zu sehen.
Betrachtet man den Vorgang in den Seitensträngen etwas näher,
so hat er einen ganz anderen Charakter als bei den typischen
systematischen Degenerationen. An jedem der oben beschriebenen
Bückenmarksquerschnitte konnten wir allerdings in der hinteren
Hälfte der Seitenstränge die Existenz eines sklerosirenden Processes
nachweisen, der aber von der Peripherie gegen die Mitte zu all-
malig an Intensität abnahm. Der Process erstreckte sich also
nicht auf das ganze von dem speciellen Fasersysteme des PyS
Ved. Jahrbücher. 1887. 3 (is)
34 Borgherini.
gebildete Gebiet des Seitenstranges und endete naeb der Mitte
bin mit einer Anzabl von strabligen Fransen, die der normalen
Vertbeilnng der zablreicben bindegewebigen Septa entsprecbend
verliefen; die Degeneration zeigte sich endlich proportional der
Schwere des meningealen Processes mehr oder minder hochgradig
and tiefeindringend derart, dass z. B. im Dorsalabschnitte des
Rückenmarkes die beiden Processe am intensivsten waren.
Wie in dem ersten Falle, so haben wir, mit wenigen gra-
duellen Variationen, dieselben Veränderungen auch bei den andern
Fällen angetroffen. Diese anatomisch-pathologischen Alterationen
berechtigen uns, gemäss der bei ähnlichen Fällen von Vulpian,
D^jerine, Behier u. A. gegebenen Beschreibung zu der An-
nahme, dass sowohl in unseren Fällen, als auch in denjenigen
der letztgenannten Autoren, es sich vielmehr um secundäre menin-
geale Formen, als um primäre combinirte Degenerationen handelte.
Im Gegensatze zu jenen Autoren halten wir aber den in den
Hintersträngen sich abwickelnden Process für primär.
Für Letzteres sprechen mehrere Umstände ; die den Meningen
anliegenden Partien der Hinterstränge sind häufig reicher an nor-
malen erhaltenen Nervenfasern, als die inneren Abschnitte; die
sonst bei degenerativen Processen in den Hintersträngen bevor-
zugten Theile scheinen auch hier mehr erkrankt ; die Sklerose ist
im Allgemeinen gleichmässiger über die Hinterstränge verbreitet,
als an anderen Theilen des Querschnittes. Dies alles lässt uns
supponiren, dass der Process in den Hintersträngen thatsächlich
primären Ursprungs sei und nicht hervorgerufen durch dieselbe
pathogenetische Ursache, die wir flir die Alteration in den Seiten-
strängen hervorgehoben haben. Die primäre Veränderung der
Hinterstränge hätte dann zur meningealen Erkrankung geführt.
Mit welcher Leichtigkeit dies geschehen kann, geht aus dem
Umstände hervor, dass schon anatomisch zwischen Hintersträngen
und Meningen innigere bindegewebige Beziehungen existiren, als
zwischen anderen Theilen des Rückenmarkes, die Seitenstränge
mit inbegriffen (Fromann). In der That finden sich auch bei
unseren Fällen die mächtigeren Läsionen der Pia über den
Hintersträngen, und auch bei dem Falle V., der einer reinen Tabes
sehr nahe steht, war die meningeale Läsion ziemlich bedeutend;
(U)
Die psendoeystenuktiaclien Degenerationen des Rückenmarkes etc. 35
doeh hatte sie zn bemerkenswerthen myelitischen Läsionen nicht
geführt, wohl aber zur Hyperplasie der Bindenschicht nnd der von
der Pia stammenden Septa. Später werden wir noch ttber diese
Frage eingebender zu sprechen haben.
Der bei den angegebenen Fällen zur Entwicklung gekommene
Proc^s wäre also unseres Erachtens als eine Form primärer,
systematischer Degeneration der Hinterstränge und secnndärer
chronischer Meningitis mit pseudosystematischer Scierose an den
Seiten- und Yordersträngen aufzufassen. Dieser Process, welcher
in mehrfacher Hinsicht denjenigen in den Fällen von Friedreich
und Schnitze, von Vulpian, Deboye und Gombault,
Damaschino nnd Behier etc. entspricht, präsentirt sich hier
aber in gewisser Beziehung unter so eigenartigen Charakteren,
dass ein näheres Eingehen berechtigt erscheinen dürfte.
Einen Process. der nicht „ systematisch ** ist, weil er sich in
seinem Auftreten und in seiner Verbreitung nicht an die einzelnen
bekannten „Systeme" des Btickenmarksquerschnittes hält, wird
man auch nicbt, im strengen Sinne des Wortes, mit dem Namen
gpsendosystematisch" bezeichnen können. Wir befinden uns vor
Degenerationsvorgängen, welche, abgesehen von den Hintersträngen,
durch Processe bedingt wurden, die in den Btickenmarkshüllen
begannen und sich von der Peripherie aus nach und nach gegen
die Mitte hin ausbreiteten, im ganzen Rtickenmarke Spuren ihrer
Entwicklung zurücklassend. Am besten wird es sein derlei Formen
mitPerimyelitis zu bezeichnen, weil wir bei ihnen vor allem
die Meninx and die Rindenschichte, und dann erst secundär den
ganzen Umfang des Rückenmarkes in mehr oder weniger tiefen
Schichten lädirt sehen.
Es mnss noch eines interessanten Umstandes Erwähnung
getban werden. In manchen Rückenmarken treten die Alterationen
der Hüllen wenig deutlich hervor, wogegen sich die Rindenschicht
sehr verdickt und beträchtlich lädirt zeigt, und es scheint dann,
th ob letztere die Ausgangsstelle des peripheren Processes bilden
würde.
Auf Gnind dieser Beobachtung scheinen uns eben die Be-
sehreibungen , die von Westphal, Strümpell, Babesiu
Sioli u. A. gegeben wurden, nicht vollständig, denn dort, wo
3 * (15)
36 Borgherini.
die genannten Autoren jedwede Alteration der weichen Meningen
in Abrede stellen, wird doch über den Znstand des Bindegewebes
unterhalb der Pia (Rindenschicht) kein Wort gesprochen, einer
Schichte, welche unserer Meinung nach, eine wichtige Rolle
bei der Erzeugung der fraglichen Processe zugeschrieben wer-
den darf.
Ich möchte mich femer der Anschauung hinneigen, dass die
von den obenerwähnten Autoren beschriebenen Fälle, die uns als
die reinsten erscheinen, da sie nämlich an keine meningeale
Läsion gebunden sind , doch bezüglich der Veränderungen im
Riickenmarke, eine unzweifelhafte und ziemlich bedeutende Affinität
zu den unserigen und zu den von den französischen Autoren unter
dem Namen pseudosystematisch beschriebenen Fällen aufweisen,
was den Gedanken entstehen lässt, ob nicht alle oder min-
destens ein Theil jener Fälle zu den unserigen mitzurechnen
wären, und ob nicht bei ihnen ebenfalls die Läsion von einem
in der Rindenschicht zur Entwicklung gekommenen Processe ihren
Ausgangspunkt genommen haben könnte.
Eine Erwägung gibt es, die im ersten Momente unserer
Ansicht als falsch erscheinen lassen würde. Die bei den Formen
von systematischer, combinirter primärer Degeneration beschrie-
benen Alterationen sollen ihren hauptsächlichsten Sitz in
den langen Spinalbahnen haben, mit fast vollständiger Schonung
der kurzen Bahnen. In unseren Fällen hingegen sind auch diese
letzteren ergriffen, jedoch nur dort deutlich wo das Rückenmark
von dem Processe am schwersten betroffen erscheint, während
die Alteration der kurzen Bahnen an weniger veränderten Stellen
des Rückenmarkes nur wenig oder auch gar nicht angedeutet
erscheint, so dass hier das Rückenmark scheinbar das Bild der
systematischen Degeneration darbietet ; andererseits wird auch bei
einigen von Westphal und Strümpell u. A. beschriebenen
Fällen von einer Alteration um das ganze Rückenmark herum
(Randdegeneration) gesprochen, wie es gerade bei unseren Bei-
spielen der Fall ist ; und um noch besser die Aehnlichkeit zwischen
den einen und den anderen erscheinen zu lassen, stimmen die
Alterationen auch bezüglich ihres Sitzes mit einander überein.
Ein Unterschied wäre demnach mehr scheinbar als reell.
(16)
Die pseudosystematisclieii Degenerationen des Rückenmarkes etc. 37
Dieses Ueberwiegen der Läsion in den langen Bahnen würde
aber für uns seinen besonderen Grund nicht in der primären
D^neration der Nervenfasern, als vielmehr einerseits in ana-
tomischen , andererseits in physiopathologischen Verhältnissen
haben, nnd gerade dieselben könnten eben so gut auch zur Er-
klärung der Pathogenese des Processes in jenen Fällen dienen,
bei welchen die primäre Form angenommen wurde. Wenn man
an die Art des Auftretens der Alterationen bei den auf experi-
menteUem Wege erzeugten Degenerationen denkt, so fällt es so-
fort auf, dass letztere nicht partiell nur an einzelnen Stellen des
Querschnittes der betreffenden Bahn, sondern in der ganzen Aus-
dehnung (Dicke) des ergriffenen Systems vorhanden sind ; anfangs
wohl hier und da disseminirt, breiten sie sich aber bald gleich-
massig über das ganze Bündel aus, ohne dessen Grenzen zu über-
schreiten. An unseren Degenerationen ist nun nichts von dem zu
beobachten. Die Destruction schreitet, wie wiederholt hervorgehoben
wurde, von der Peripherie gegen das Centrum vor und alle die an
anderer Stelle schon angegebenen Besonderheiten des sclerotischen
Processes weisen auf die interstitielle Natur desselben hin. Wenn
nim die Pyramidenbahnen zu den am tiefsten ergriffenen Theilen
gehören, so rührt dies eben zunächst schon von der anatomischen
Thatsache her, wonach sie nämlich reichlicher mit interstitiellem
Bindegewebe und mit von der Pia hineinkommenden Sepimenten
versehen sind. Mit dem ist es aber nicht abgethan. Da der Pro-
cess zur Atrophie zahlreicher Nervenfasern geführt hat, liegt der
(bedanke nahe, dass, wenn sie an einem Punkte ihres Verlaufes
im Rückenmarke zerstört sind, sie auch, soweit es sich um lange
Bahnen handelt, secundär und systematisch werden degeneriren
müssen. Man nehme was immer für einen Abschnitt des Rücken-
markes, in welchem solche Fasern durch den Process zerstört
worden sind; man wird sicher finden, dass überall, unterhalb
oder oberhalb desselben, ausser den der besprochenen Sklerose
eigenen Veränderungen, noch die. Zeichen der secundär en auf-
oder absteigenden Degeneration nachzuweisen sind, wie dies ja
auch gar nicht anders zu erwarten ist.
Und darin, dass die Consequenzen der jeden einzelnen
ftUckenmarksquerschnitt treffenden Schädignng sich summiren?
(17)
38 Borgberini.
finden wir auch die Erklärung der Thatsache, dass der in Rede
Btebende Process zum Unterschiede von den systematischen^
secundären, aus Herderkrankungen des Rttckenmarkcs oder des
Gehirnes hervorgehenden Degenerationen in den Pyramidenbahnen
von oben nach unten (caudalwärts) und in den Kleinhimbahnen in
umgekehrter Richtung an Intensität zunimmt. Damit fällt aber,
wenigstens für unsere Fälle, die Nothwendigkeit weg, die Arga-
mentation StrümpelFs zu acceptiren, welcher aus dem Um-
stände, dass die Degeneration der PyS vom Gehirn caudalwärts
zunimmt, eine secundäre Degeneration zurückweisen und einen
primären Process annehmen zu müssen meint.
Wenn wir femer fragen, warum bei vorhandener Perimyelitis
die kurzen Spinalbahnen weniger intensiv ergriffen werden, so
müssen wir den Grund dafür in den zwei oben angegebenen
Factoren, im negativen Sinne genommen, sehen, nämlich, die
geringe Quantität von Bindegewebe in denselben und das Fehlen
von secundären auf- und absteigenden, den Process begleitenden
Degenerationen. Nach den Untersuchungen Schiefferdeckers
ist es allgemein bekannt, dass die systematische Degeneration nur
die Pyramiden- und KS-Bahnen und die GolTschen Stränge
befällt, nicht aber andere Theile des Rückenmarkes (von den
durch Gowers in der letzten Zeit eingehend beschriebenen
Faserzügen im Vorderseitenstrang abgesehen); diesen Umstand
erklärt der genannte Autor dadurch, dass jene Bahnen mit ihren
trophischen Centren nur an einem ihrer Enden zusammenhängen,
so dass bei was immer für einer Läsion jener Abschnitt der
Faser, der von dem trophischen Centrum abgetrennt bleibt,
degeneriren müsse; die anderen Rückenmarksbündel würden in-
dessen an beiden Enden mit trophischen Centren in Verbindung
stehen.
Westphal spricht bei der Erforschung der Pathogenese
der von ihm als combinirte primäre Erkrankung der Rückenmarks-
stränge beschriebenen Erankheitsform die Meinung aus, dass die
Pyramiden- und KS-Bahnen gemeinsame trophische Centren in der
grauen Rückenmarkssubstanz haben dürften und dass die primär
in diesen trophischen Centren auftretende Alteration sich dann
auch gleichzeitig den beiden genannten Systemen mittheile. Diese
Die pfiendosystematiBchen Degenerationen des Rückenmarkes etc. 39
Hypothese erscheint heute nicht mehr acceptirbar, weil gegen-
wärtig die Physiologie die Tendenz hat, die verschiedenen
trophischen Centren in verschiedene Abtheilungen unterzubringen,
und annimmt, dass die Centren fiir die Pyramidenfasern in der
Orosshimrinde und diejenigen für die KS. in den Clark e'schen
Siuden ihren Sitz haben. Aber wenn man auch jene Meinung
annehmen wollte, erübrigt noch immer die Frage, warum denn
die Degeneration der genannten zwei Fasersysterae in ganz ent-
gegengesetzter Weise erfolgt, nämlich : abnehmend von oben nach
unten in den Pyramidenbahnen und umgekehrt in den KS.
Kahler und Pick hingegen nehmen bei Erklärung der
Pathogenese eine andere Hypothese an. Die Degeneration soll
Dämlich durch eine gewisse congenitale Prädisposition bedingt
sein, in Folge welcher bei einer incompleten Entwicklung der
langen Systeme dieselben leichter zur Erkrankung incliniren
würden. Bemerkt sei noch, dass nach Flechsig die Bündel
der Hinterstränge, der Pyramidenbahnen und der KS es sind,
welche zu allerletzt bei dem menschlichen Embryo zur Ausbildung;
kommen. ^)
EJs mnss jedoch mit Strümpell gefragt werden, wieso
denn ein Rückenmark bis zu einem späten Alter normal functio-
niren könne, wenn es doch nicht vollkommen entwickelt ist,
ond wie es erst, wie in dem von Strümpell selbst ange-
führten FaUe, nach 60 Jahren erkranken könne ; desgleichen fragt
es sich, warum nicht alle Fasern eines gegebenen Systems,
sondern nur ein Theil derselben, und diese nicht in gleichförmig
diffuser Weise degenerirt erscheinen.
Die Läsion der Hinterstränge, die in dem ersten Falle beide
Bestandtheile , mit Ausnahme eines kleinen Streifens neben der
grauen Commissur , vollkommen und in den übrigen Fällen nur
oder vorwiegend die GoU'schen Stränge ergriffen hat^ differirt
imserer Meinung nach in nichts von den auf Tabes zurück-
zufahrenden Läsionen. Dort beobachtet man eine Degeneration,
die den Strang inselförmig attaquirt und zunächst die umgebenden
^) Flechsig, Die Leitnngsbalmeii im Gehirn und Eückenmark des
Menschen anf Gnmd entwicidangsgeschichtlicher Untersuchungen. Leipzig 1876.
(19)
40 Borgherini.
Bündel intact lässt; dabei beginnt sie immer an gewissen beson-
deren Stellen und ergreift dann allmälig die übrigen Theile.
Vulpian^) hat die Beziehungen zwischen diesen Formen
von Tabes und der chronischen Leptomeningitis studirt und her-
vorgehoben, dass die Tabes zur Entstehung von Meningitis, auch
per Distanz, Anlass geben könne, nämlich dann auch, wenn
das degenerirte Bündel sich nicht unmittelbar peripher befindet,
sondern von der Meninx durch eine Schichte von gesundem Ge-
webe getrennt liegt, wie dies bei nicht vorgeschrittenen Processen
der Fall ist. Etwas Aehnliches haben wir bei manchen unserer
Fälle constatiren können, in welchen die Meninx an ihrer hinteren
Seite alterirt war, ohne dass der degenerative Process in den
Hintersträngen dieselbe berührt hätte. In der näheren Betrachtang
des degenerativen Processes selbst werden wir den Grund dieses
Einflusses aus der Entfernung finden.
Bei der Tabes, wie auch bei allen degenerativen Processen,
die auf experimentellem Wege hervorgerufen wurden, folgt der
primären Alteration der Nervenfasern die secundäre Veränderung
der Neuroglia, deren wuchernde Elemente zur BUdung von binde-
gewebigen Fasern Anlass geben und dadurch endlich die dege-
nerirte Partie in ein fibröses Gewebe umwandeln, welches durch
die veränderten Nutritionsbedingungen geeignet erscheint, die
Ursache für einen beständigen localen Reizzustand abzugeben,
dadurch aber auch befähigt ist, denselben sclerotischen Process
in die Umgebung zu diflfundiren (S c h i e f f e rdecker, Kusmin).
So entsteht die Meningitis, und in diesem Sinne scheint es uns,
dass Friedreich Recht hat, wenn er der Behauptung Raum
gibt, dass die systematischen degenerativen Alterationen sich auch
in transversaler Richtung ausbreiten können, indem sie die Grenzen
der Faserbündel, in welchen sie ursprünglich aufgetreten waren,
überschreiten. Westphal leugnet diese letztere Thatsache, indem
er behauptet, dass der Process in den Nervenfasern stattfindet,
und dass diese, zu Bündeln grnppirt, unabhängig und isolirt ver-
laufen; er berücksichtigt jedoch nicht in geeigneter Weise den
Umstand, dass in vorgerückteren Stadien an Stelle der Degeneration
*) Vulpian, Maladies du Systeme nerveux. Paris 1879, pag. 442.
(20)
Die pseudosystematischen Degenerationen des Btickenmarkes etc. 41
dk Sklerose tritt, dass die destmctiven Vorgänge in der Nerven-
faser durch prodactive in den Bindegewebselementen ersetzt
werden, welch' letztere eine derartige systematische Anordnung
nicht nachweisen lassen und daher die sie befallenden Processe
nach allen Seiten hin za diffundiren gestatten.
Wir heben nochmals hervor, dass in unseren Fällen sowohl
die Ganglienzellen der Vorderhömer, als auch jene der Clarke-
8chen Säulen, dem Aussehen nach normal waren; wenigstens ist
an denselben irgend welche erhebliche pathologische Alteration
ausgeschlossen. Wir wissen aber, dass dies nicht genügt, um
jeden Verdacht des Vorhandenseins eines krankhaften Vorganges
in denselben zu unterdrücken. Jürgens hat auf eine besondere
Reaetion der Ganglienelemente hingewiesen, die man an Zellen
erhalt, welche , anscheinend normal , sieh doch bereits in dem
Anfangsstadinm einer Degeneration befanden. *) Waren vielleicht in
unseren Fällen die Ganglienzellen in diesem primären Stadium
der Alteration , wo nur eine besondere chemische Reaetion auf
einen krankhaften Zustand hindeutet? Das kann allerdings nicht
entschieden werden, da aber andere besondere Verhältnisse uns
bestimmt haben, auf eine nach einem interstitiellen Process ent-
standene secnndäre Läsion der Nervenfasern zti schliessen, so hat
für uns eine eventuelle geringe Alteration der Zellenelemente, wie
immer auch sie aufgefasst werden möge, nur den Werth einer
accessorischen Thatsache.
Ballet und Minor ^) versuchen neben der Aufstellung
von verschiedenen Typen der in Rede stehenden Rückenmarks-
degeneration auch jene Unterschiede hervorzuheben, welche vom
histologischen Standpunkte aus die differenten Processe charak-
terisiren.
Die zwei Autoren behaupten, dass bei den nicht systema-
tischen Alterationen, aber nur bei diesen, die Nervenfasern in einem
gewissen Stadium ihrer Alteration ein varicöses Aussehen darbieten,
riele Kerne enthalten, dilatirt sind und einen ebenfalls varicösen
Axencylinder besitzen; sie stützen sich dabei auf eine Studie
0 Archiv für Psychiatrie. Bd. Vin, pag. 480.
') Archiyes de Neurologie. VII.
(21)
42 Borgberini.
Charcot's, die einer viel iFrüheren Epoche entstammt.^) Wir sind
nicht derselben Meinung. Ein solches rosenkranzähnliches Aus-
sehen, mit Yermehmng der Kemelemente in der Umgebung der
Nervenfasern und mit Alteration des Axencylinders, ist auch bei
den experimentell hervorgerufenen Alterationen der spinalen Faser-
bündel anzutreffen.
Femer fanden dieselben Autoren in den nicht systematischen
Alterationen die Gefässe mit sehr verdickten Wandungen und
reichlich mit Kernen infiltrirt, welcher Umstand nach ihnen fiir
diese Processe charakteristisch sein soll; daher sie auch den
Namen perivasculäre Processe für dieselben vorschlagen. —
Das ist, wie uns scheint, nur zum Theile wahr; die nicht syste-
matischen Sclerosen treten wohl in dem Initialstadium mit der-
artigen Gefass Veränderungen auf, während im entsprechendem
Stadium der systematischen Sclerosen allerdings der nämliche
Befund nicht vorkommt. Später aber finden successive auch bei
diesen letzteren die gleichen vasculären Alterationen statt, weshalb
dann in dieser Hinsicht beide Formen sich gleich werden.
Wir haben in den Bereich unserer Untersuchungen auch
jene Form von disseminirter Myelitis gezogen, die zuweilen in
Folge von traumatischen Spinalläsionen auftritt und von Pick,
Schiefferdecker und Vulpian etc. beschrieben wurde. In
solchen Herden, namentlich im Initialstadium, ist deutlich zu sehen,
dass die bedeutendsten Alterationen sich in den Gefässen und um
dieselben vorfinden. Die Autoren sprechen femer nahezu Alle bei
der Beschreibung der systematischen Degenerationen, besonders
der Tabes, von der hypertrophischen Alteration der Gefasse wie
von einer constanten Thatsache.
Auf die diesbezügliche reiche Literatur nochmals zurück-
blickend, sehen wir uns demnach mit D 6jerine gezwungen,
auszusprechen, dass ein grosser Theil der als primäre, systema-
tische, combinirte Degeneration beschriebenen Fälle, nichts anders
sei als Formen von secundärer Meningomyelitis (Perimyelitis), die
sich auf der Basis einer systematischen Alteration der Hinterstränge
^) Sur la tnm^faction des ceUüles nerveuses motrices et da cylinderaze des
tubes nervenx dans certains cas des mj^lites. Archives de pbysiologie normale
et pathologique 1871—72.
(22)
Die peendosystematischen Begeneratioiien des Bückenmarkes etc. 43
beTaQsentwickelt bat. — Als solche erscheinen z. B. die Fälle
Friedreicb'B, Prevost's, Reymond's, Ballet'snndMinor's,
mancher Fall StrümpelTs u. A. Es gibt aber eine andere Form,
die, in anatomiscb-patbologischer Beziehung, einen anderen Platz
für sieh beanspmcbt, als den, welcher ihr bis zu dem heatigen
Tage angewiesen wurde: es gilt dies nicht ausschliesslich für
aUe, aber für die meisten Beispiele. Die Form, welche ich meine
ist namlicb die spastische Spinallähmnng. Bekanntlich
erschien den ersten Beschreibem dieser Form, C bar cot und
Erb, angewiss, welcher Art die anatomischen Veränderungen bei
dieser Erkrankung seien, weshalb auch ü bar cot in seiner ersten
diesbezüglichen Arbeit nur in präsumptiver Weise darauf zu
sprechen kommt. Er glaubte, dass die anatomische Grundlage der
spastischen Spinalparalyse in einer Sclerose der Seitenstränge
gesucht werden müsse; die späteren Erfahrungen sprachen jedoch
Hiebt durchwegs zu Gunsten dieser Vermuthung. W e s t p h a 1 und
Strümpell haben eine grosse Anzahl von derartigen Fällen ge-
sammelt, in denen die verschiedenartigsten, später ausfuhrlicher
za erwähnenden anatomischen Befunde, zu Grunde lagen.
Mancher unserer Fälle bietet viel Aehnlichkeit mit einigen
Fallen S r ü m p e 1 Ts und W e s t p h a Fs, welche klinisch als Form
von spastischer Spinallähmung diagnosticirt, bei der Nekroskopie
von den genannten Autoren, auf Grund ihrer speciellen Auffassung,
als Formen von primärer systematischer Degeneration erklärt
wurden.
Dem Symptomencomplexe der spastischen Spinallähmung
entsprechen also verschiedenartige anatomische Befunde ; und wenn
einerseits das Vorkommen einer reinen primären Sklerose der
Seitenstränge nicht geläugnet werden soU^ und auch zugegeben
werden muss, dass primäre combinirte Systemerkrankungen unter
dem BUde der spastischen Spinallähmung auftreten können, so
möchte ich doch mit einiger Sicherheit behaupten, dass in den
meisten Fällen, welche klinisch unter diesen Erscheinungen ver-
liefen, eine chronische Meningitis mit Randdegeneration, also ein
pseudosystematischer Process zu Grunde lag.
(23)
44 Borgherini.
EliniBche Bemerkungen.
Die Yon uns mit dem Namen Perimyelitis bezeichneten,
und secundär nach systematischer Degeneration der Hintersträng'e
auftret;enden pathologischen Alterationen , welche von manchen
anderen Autoren als primäre combinirte und systematische De-
generation des Rückenmarkes beschrieben werden, bieten eine kli-
nische Form, die sich auf zwei wohl unterschiedene nosologische
Typen zurückführen lässt, zwischen welchen aber Mischformen, und
wir möchten fast sagen Uebergangsformen, existiren, nnd die ihre
Entstehung der Prävalenz einer oder der anderen der angegebenen
histologischen Alterationen verdanken. Diese zwei Typen sind :
1. Jener der Tabes dorsalis, complicirt durch paralitische
Erscheinungen, die sich manchmal unter spastischen Charakteren
präsentiren.
2. Jener der spastischen Spinalparalyse.
Der erste der von uns untersuchten Fälle bietet uns das
Beispiel eines dieser beiden Typen.
Obgleich die klinische Geschichte desselben nicht vollständig*
ist, haben wir doch bei demselben ein Initialstadium, welches die
Charaktere der tabischen Formen zeigt (lancinirende Schmerzen,
Blasenbeschwerden), wozu aber bald auch spastische Phänomene
als Zeichen der Lateralsklerose mit Contracturen und erhöhten
Reflexen hinzutreten.
Dieser Krankheitstypus ist auch der häufigste, und wir finden
ihn in vielen Fällen beschrieben, welche mit dem Namen svste-
matische combinirte Degeneration bezeichnet sind.
Das chronologische Studium der in unserem Falle vorhan-
denen Symptome bestätigt also unsere Anschauung, wonach die
Alterationen primär sich in den Hintersträogen etabliren und erst
in der Folge auf die Seiten- und Vorderstränge übergreifen, weil
die ersten bei demselben beobachteten Symptome gerade diejenigen
sind, die auf initiale tabische Formen zu beziehen sind.
Die Aufeinanderfolge der Krankheitserscheinungen ist jedoch
hier nicht so gut markirt wie in anderen Fällen. DiesbezügUch
hat D(^jerine einen geradezu classischen Fall veröffentlicht. Es
handelte sich nämlich um einen Mann, bei welchem die tabischen
(24)
DIb peeudoBystematiBcheii Degenerationen des Rückenmarkes etc. 46
Enäimimgen den paralytischen um circa 6 Jahre voraasgegangen
iraren; und erst dann, als jene sieh vollkommen aasgebildet
hatten, gesellten sich die Symptome einer leichten Form von
Paraparese hinzn, die sich allmälig bis zur Paraplegie steigerte.
Bei der Nekroskopie fand sich eine beträchtliche Alteration der
Pia, die von dem Autor selbst als ein zwischen der Läsion der
Hinter- nnd Seitenstränge existirendes Verbindungsglied aufge-
fasst wurde.
Wenn, wie wir schon oben gesagt haben, die anatomische
Form der in Rede stehenden Processe noch Gegenstand der Dis-
cnasion unter den Pathologen ist, so gilt ein Gleiches nicht fUr die
klinische Form, die insbesondere von Westphal und Strümpell
scharf gekennzeichnet wurde. Schon seit Duchenne de Bou-
logne hielt man die Läsion der Hinterstränge nicht fUr genügend
um Lahmungserscheinungen hervorzurufen. In dem Verlaufe der
Tabes, wenn sie eben eine ganz reine Form repräsentirt, werden
paralytische und selbst paretische Symptome nicht beobachtet.
Nur dann, wenn die Alteration zu einer Neuritis (wie z. B.
häufig Neuritis des N. peroneus) hinzutritt, kommen partielle
Lähmungen zur Ausbildung, die sich in einer Gruppe von Muskeln
localisiren und absolut nicht der Läsion der Hinterstränge zuzu-
schreiben sind.
Je rascher die Alteration in den Seitensträngen auftritt,
desto weniger deutlich zeigen sich die atactischen Symptome, so
dass oft die Läsion der Hinterstränge ganz unbemerkt bleibt.
Wenn sich hingegen die paretischen Erscheinungen wie in dem
Falle von D^jerine erst viel später hinzugesellen, dann siebt
man zu dem primären reinen Bilde der Tabes erst in der Folge
dasjenige der Lateralsklerose hinzutreten, welch' letzteres gelegent-
heh bis zur gänzlichen Verdrängung des ersteren führt.
Nach Westphal scheinen einige von Friedreich mit
dem Namen hereditäre Ataxie beschriebene Fälle, bei welchen
eine Läsion der Hinter- und Seitenstränge bestand, im Wider-
spruch mit der obigen Anschauung zu stehen, da trotz der Seiten-
strangdegeneration die paretischen Erscheinungen mangelten. Bei
näherer Betrachtung dieser Fälle aber wird es sofort klar, dass
die Läsion der Seitenstränge dort nur auf deren peripheren Ab-
(ib)
46 Borgherini.
sehnitt , die Eleinhirn-Seitenstrangbahn, beschränkt war , woraus
sich das Fehlen paralytischer Erscheinungen leicht erklärt.
Westphal citirt zwei Fälle, den einen ßriesinger's,
welcher 1867 in der Charit^ zu Berlin zur Beobachtung kam,
und einen anderen, welcher von Lejden 1877 beschrieben
wurde. Bei beiden hatte eine nur auf die Hinterstränge be-
schränkte Läsion paralytische Phänomene hervorgerufen. Dessen-
ungeachtet stossen diese Fälle die erst ausgesprochene Anschauung
nicht um, weil man, wie Westphal selbst bemerkt, bei den-
selben nichts über den Ernährungszustand der Muskelfasern weiss,
und die Lähmung viel eher in Zusammenhang mit einer Atrophie
der Muskeln als mit einer Läsion der motorischen Spinalbahnen
hätte stehen können. Wenn wir nun daran gehen, die bei unserem
Falle beobachteten Symptome nach der von den Autoren den-
selben beigemessenen Bedeutung zu erklären, so müssen wir sagen,
dass die ursprüngliche, in den Hintersträngen localisirte Läsion
die untere Lendenpartie verschont oder wenigstens nur wenig an-
gegriffen und statt dessen sich in den Seitensträngen ausgebreitet
hatte: erst später, als die Reflexerscheinungen aufhörten und die
Symptome seitens der Blase deutlicher hervortraten, erst dann
scheint sich die Läsion über die ganze Länge der Hinterstränge
ausgedehnt zu haben.
Bei einer Patientin, die wir erst vor Kurzem zu beobachten
Gelegenheit hatten^) und bei welcher, unserer Ansicht nach, die
gleiche Erankheitsform im Initialstadium vorhanden ist, präsen-
tirten sich die Erankheitssymptome folgendermassen :
Die Kranke begann vor zwei Monaten über Ameisenlaufen
und plötzlich anfallsweise in den unteren Extremitäten und am
Kreuzbein auftretende Schmerzen zu klagen, welche sie der Ge-
wohnheit, baarfuss auf nassem Boden zu gehen, zuschrieb. Bald
gesellten sich dazu locomotorische Störungen, welche in Amyostenie,
in erschwerter Ausführung von Bewegungen und in einem GtefÜhl
von Starre bestanden.
Die Kranke muss jetzt fest auf den Boden schauen, um sich
^) Die Beobachtung dieses klinischen Falles verdanke ich der Liebens-
würdigkeit des Herrn Primarius d'Ancona.
(26)
Die psendosystematischen Degenerationen des Rückenmarkes etc. 47
Torwarts bewegen za können ; mit hochgehaltenem Kopfe kann sie
dies nicht thnn, oder nnr äusserst schwer und unbeholfen. Seit
einiger Zeit hat sie auch Störungen beim Urinlassen.
Bei genauerer Untersuchung constatirt man eine verminderte
Contractionsfahigkeit sowohl der unteren, als auch der oberen
Extremitäten; an den unteren ist dies deutlicher ausgeprägt, die
Wadenmuscnlatur ist leicht atrophisch, das Eniephänomen ge-
steigert; den passiven Bewegungen setzen die unteren Extremitäten
einigen Widerstand entgegen, und deren Bewegungen zeigen auch
in horizontaler Lage einen deutlich atactischen Charakter. In
aufrechter Lage ist das Romberg'sche Phänomen deutlich
bemerkbar.
Der zweite Typus, unter welchem die Combination von
Siderose der Hinterstränge mit chronischer Perimyelitis sich zeigen
kann, ist jener der spastischen Spinalparalyse.
Strümpell und Westphal insbesondere verdanken wir
die Mittheilung von Fällen letzterer Art, die von ihnen allerdings
anatomisch als primäre, combinirte, systematische Degenerationen
beschrieben worden, meiner Meinung nach aber wenigstens zum
Theile sich als pseudosystematische Processe darstellen, wie ich
dies oben bereits auseinandergesetzt habe. Eine aufmerksame Yer-
gleichnng der von jenen Autoren gegebenen Beschreibung mit der
nnserigen ergab in der Regel keinen erheblichen Unterschied;
nur &nden sieh in unseren Fällen mit der Spinalläsion zusammen
noch beträchtliche Alterationen der Pia oder wenigstens Verdickung
der Rindenschicht vor.
Es sei auch darauf hingewiesen, dass bei einem unserer
Fälle der Symptomencomplex ein derartiger war, dass man zu
der klinischen Diagnose: spastische Rückenmarkslähmung, hätte
geftohrt werden können. Wir brauchen uns nicht in die klinische
Symptomatologie dieser Erkrankungsform, welche ja allgemein
bekannt ist, einzulassen und wollen nur hervorheben, dass wir
anf Grund der oben angeführten Anschauungen die Behauptung
ftr nicht gewagt halten, dass die spastische Form sich dann
^ransbildet, wenn die Läsion der Seitenstränge sehr frühzeitig
auftritt und die Oberhand über jene der Hinterstränge gewinnt.
Mitunter gesellt sich zu den Erscheinungen der spastischen Spinal-
(27)
48 Borgherini.
paralyse noch eine Atrophie gewisser Muskeln, in einigen Fällen
von Strümpell und in unserem Falle I, so dass dann eine,
wenn auch entfernte Aehnlichkeit mit der amyotrophischen Lateral-
sklerose von Charcot entstehen konnte.
Bei der von Charcot beschriebenen Form beginnt aber
die Muskelatrophie sehr frtth und tritt zuerst an den oberen, dann
an den unteren Extremitäten auf, und ist nicht durch Lipomatose
oder durch Störungen seitens der Blase complicirt.
Die reine Form der primären Seitenstrangsklerose ist, wie
erwähnt, äusserst selten, so dass in der ganzen diesbezüglichen
Literatur nur wenige Beispiele verzeichnet sind.^) Es sind die
anatomischen Alterationen fast immer sehr complicirt. Strümpell
sah mit den klinischen Symptomen der spastischen Spinalparalyse
auftreten: einfache Myelitis des Dorsalabschnittes, Hydromyelie,
traumatische Myelitis des Lumbarabschnittes, Compression durch
Tumoren, Abscesse etc., cerebro-spinale Sklerose, acute Myelitis
nach Typhus; Leyden beobachtete, dass traumatische disseminirte
Myelitis dasselbe Symptomenbild gab, und ein gleiches fand
Charcot bei der Sclörose en plaques. Nochmals bemerke ich,
dass die gleichen Erscheinungen auch bei den primären combi-
nirten Systemerkrankungen, sowie bei den pseudosystematischen
Aflfectionen auftreten können.
In welchem Zusammenhange alle diese verschiedenen
Alterationen mit dem gleichartigen klinischen Bilde, das sie ge-
boten, stehen, könnten wir im absoluten Sinne nicht aussprechen.
Sicher ist es, dass immer die Pyramidenbahnen in den Seiten-
strängen und gelegentlich auch in den Vordersträngen (Charcot)
mehr oder weniger ergriflTen sind. Das prädominirende Symptom
sind die spastischen Contracturen , und es fragt sich nur, worauf
Sic zurückzuführen wären. Die meisten Pathologen sind allerdings
der Anschauung, dass diese Contracturen der Erkrankung der
seitlichen Pyramidenbahnen ihr Zustandekommen verdanken; die
noch leitungsfähig erhaltenen Fasern der Pyramiden-Seitentrang-
bahn sollten sich dabei in einem dauernden Reizzustand befinden.
') Wostphal, 1. c. — Julinean, Th6sc de Paris. 1883. — öom-
bault et Debove, Archives de physiologie. 1879, pag. 751.
(28)
Dia pModoif stem atischeii DifenanitioDeD des Efickemnu'ksa ste.
49
Nicht mit Unrecht bemerkt Strümpell, dass diese letzte Hypo-
these paradox klingt, weil, wenn die Fasern der Pyramidenbahneo
vSUig Temichtet sind , wie es ja in vielen Fällen vorkommt , so
würden die spastiBchen Phänomene keinen G-rood mehr haben,
10 existiTen.
Was die Elrscfaeinnng der spastischen Contractnr anlangt,
so können wir für nnseren Theit eine von ans beobachtete That-
gaehe anführen, die, wenn sie auch von anderer Seite bestätigt
werden wUrde, einige Beriicksichtigang verdiente. Bei mehreren von
Ol» operirten Thieren (Hunden) , denen die Hinter- tmd Seiten-
Bttinge zerstört wnrden, bat das Zurückbleiben der Vorderstränge
mit intactem motorischem Pyramidenbttndel eine langsame und
bis IQ einem gewissen Fonkte vollständige Wiederkehr der Be-
w^nngen in den früher paralTtischen hinteren Gliedmassen ver-
anlasst, nnd dieselben nahmen stela die spastische Bengnng
aller ihrer Gelenke an.
Flf . 1. Kg. t.
ErkEnmg der Abbildtmgen.
Simmtliclie Figii>^i stellen Querschnitte ans dem RDckenmarke des Fallw I
iu; nrbimg aach Weigert, Kvelmaligie VeTgTSsHening.
Hf, 1. Oberes Cerricalmark.
Ftf. i, 6«geiid des 7. Cemcfünerren.
nf. t. , «8. DomlBsrven.
Ifi 4< • »3. Lendennerven.
n(< 5> Conna medoIlBTia.
-mf-
Hel Jahrb&oher. 18S7.
"^MAY 8 1888''
.^
'*MRY f^^
in.
lieber Dilatation des rechten Yorhofes and ihren
Nachweis.
Von
Professor SehrStter.
(Am 14. Dinner 1887 *von der Redaotion flbemommen.)
Wenn wir anch meistens mit grosser Befiriedigang auf die
Uebereinstimmnng der im Leben gestellten Diagnosen bei Er-
krankungen der Brustorgane mit den Ergebnissen der Nekro-
skopien sehen können nnd wenn wir oft nicht wissen , was wir
mehr bewundern sollen, die Schärfe der Sinne oder die Feinheit
der angestellten Schlnssfolgemngen , so gibt es doch noch Fälle,
wo wir in der Stellung der Diagnose unsicher sind, und zwar
selbst dann, wenn wir alle zu Gebote stehenden Hilfsmittel an-
wenden. Man könnte nun allerdings sagen, dass es sich hierbei
mir um rein wissenschaftliche Spitzfindigkeiten handle, sozusagen
nur um die Befriedigung des wissenschaftlichen Ehrgeizes, bei
welehem aber der Patient leer ausgehe. Dem ist aber durchaus
nicht so. Abgesehen davon, dass eine genaue Präcisirung der
Diagnose von grossem prognostischem Werthe sein kann, kann
sie aach unser therapeutisches Vorgehen beeinflussen and nament-
(1)
52 Schrötter.
lieh ist gar nicht daran zu zweifeln, dass mit den weiteren Fort-
schritten der Wissenschaft dies mehr und mehr der Fall sein
wird. Die sofort mitzntheilende Beobachtong wird nach mehreren
Richtungen hin das eben Gesagte erläutern.
Es handelt sich um einen schweren Herzfehler mit einer
ganz eigenthümlichen Form der Herzdämpfung. Ist diese durch
ein pericardiales oder ein abgesacktes pleuritisches Exsudat, oder
durch den abnorm ausgedehnten rechten Vorhof bedingt?
Ich hebe aus der bezüglichen Krankengeschichte nur das
Wichtigste, ftir unsere speciellen Erörterungen Nothwendige hervor.
Die 14 Jahre alte, schwächlich gebaute Patientin C. G. Utt
schon seit ihrer frühesten Kindheit an Herzklopfen und Kurz-
athmigkeit. Gesicht, Hände und untere Extremitäten stark cyanotiscb,
Unterhautzellgewebe allerwärts, theilweise ziemlich stark ödematös.
Die Halsvenen stark ausgedehnt, deutlich und constant
systolisch pulsirend. Der Thorax ziemlich lang, seitlich zn-
sammengedrückt. Auffallend ist die Verschiedenheit der beiden
vorderen Thoraxgegenden. Rechterseits ist nämlich die Gegend von
der dritten bis sechsten Rippe stärker gewölbt als dieselbe Stelle der
linken Seite. Es steht die rechte Brustwarze deutlich höher als
die linke. Es lässt sich leicht nachweisen, dass die angefahrte
Veränderung der rechten Seite nicht etwa durch Oedem des Unter-
hautzellgewebes bedingt ist, was man, da die Kranke viel auf
der rechten Seite liegt, vermuthen könnte, sondern durch eine
Veränderung im Knochengerüste.
Bei den 26 Inspirationen in der Minute, bei denen man anf
Distanz tracheales Rasseln hört, wird das Mesogastrium nur sehr
wenig vorgewölbt, der Thorax stark gehoben. Der Herzstoss ist weder
in der Rücken- noch in der linken Seitenlage zu sehen, schwach in
der linken Seitenlage im sechsten Intercostalraume, etwas nach aussen
von der linken Mamillarlinie, zu fühlen. Die Dämpfung des Herzens
begiimt etwas nach einwärts von dieser Stelle und reicht über
den rechten Sternalrand in die sofort zu beschreibende Dämpfung
bis zur rechten Mamillarlinie herüber. Unter der linken Clavicnla
ist der Pereussionsschall schön voll bis zum unteren Rande der vierten
Rippe. Rechts sind die Verhältnisse der Percussion complicirter.
T3»V«r Düatation des rechten Yoriiofes and ihren Nachweis.
53
Ea mcli\ nämlich in der Mamillarlinie der volle SchaU bis zum
oberen Bande der sechsten Rippe, in einer Linie 1 ^-j Gm. einwärts
TOB der Mamillarlinie nur bis znm unteren Rande der vierten Rippe,
in einer Linie wieder IVa Cm. nach einwärts nur bis zum unteren
Rande der dritten Rippe, nächst dem Stemum aber wieder bis in die
Mitte der vierten Rippe. Es entsteht somit, da diese Dämpfung, wie
schon früher erwähnt, unmittelbar in die Herzdämpfung übergeht
Fig: 1.
und die Dämpfung rechts höher hinaufreicht als links, wo sie
gegen 5 Cm. über den linken Stemalrand hinausreicht, eine
eigenthümliche Dämpfimgsfigur, charakterisirt durch den beschrie-
benen convexen Rand nach rechts hin, die Kuppe nach aufwärts
bis znm unteren Rand der 3. Rippe und den nach unten ein-
springenden Winkel zunächst dem rechten Stemalrande bis zur
Mitte der vierten Rippe. An der Herzspitze hört man ein rein
54 Sohrötter.
systolisches, schabendes und mehr schnurrendes diastolisches Ge-
räusch. Nach der Herzbasis dasselbe, nur schwächer, und tritt die
Accentuirung des zweiten Pulmonaltones deutlich hervor, lieber
dem rechten Ventrikel, respective entsprechend der geschilderten
Dämpfung, hört man ein dem über dem linken Ventrikel gehörten
Yollkonmien identisches, nur schwächeres Geräusch und einen
dumpfen zweiten Ton.
Ueber der Lunge beiderseits vesic. Inspirium, rechts etwas
hörbares Exspirium, ausserdem einzelne mittelgrossblasige Rassei-
geräusche und etwas Schnurren.
Am stark ausgedehnten Unterleibe Ascites nachzuweisen.
Die Leber gut drei Querfinger über den Rand des Rippenbogens
reichend, nach links hin beinahe zur linken Mamillarlinie. Die
Milz massig vergrössert.
An der Rückseite des Thorax ist über den Lungenspitzen der
Schall beiderseits gleich voll ; nach unten links in normaler Aus-
dehnung, rechts drei Querfinger breit nach abwärts vom Schulter-
blattwinkel voll, nach der Seite hin etwas tympanitisch, in der
Axillarlinie voll bis zum unteren Rande der sechsten Rippe. Oben
beiderseits und links an der ganzen Seite vesiculäres Athmen,
rechts unten einzelne mittelgrossblasige, etwas con-
sonirende Rasselgeräusche. Geringe Mengen schleimig-
eitrigen, hie und da blutigen Sputums, der Puls sehr klein, schwach.
Mit Rücksicht auf die geschilderten Erscheinungen musste
man Insuflicienz und Stenose an der Bicuspidalklappe, und zwar
entweder angeboren oder in der frühesten Kindheit erworben,
mit allen den angegebenen Folgezuständen diagnosticiren. Der
deutliche, eonstant systolisch bleibende Halsvenenpuls liess eben
wegen seiner Constanz, obwohl ein selbstständiges systolisches
Geräusch über dem rechten Ventrikel nicht vorhanden war, eine
Insufficienz der Tricuspidalis annehmen.
In welcher Weise war aber die eigenthümliche Form* der
Hcrzdämpfung zu erklären? Mit. einer einfachen Vergrösserung
des Herzens in allen seinen Theilen, wie sie ja bei dem complicirten
Klappenfehler leicht angenommen werden konnte, war sie offen-
bar nicht in Verbindung zu bringen. Für ein grosses Pericardial-
(4)
TSeYMT BUatation defi reehien Vorhofes und ihren Nachweis. 55
eundat sprach die Form der Dämpfung wieder nicht , denn es
fehlte ja jede Dämpfung an der Herzbasis, respective der linken
Seite. Man konnte nur annehmen ,1 dass es sich um ein abge-
sacktes pericardiales Exsudat handelte. Es wäre ja ganz gut
möglich, dass von einer früheren Erkrankung herrührende Verwach-
smigen zwischen Pericardium parietale und viscerale das Exsudat
sich nicht in der gewöhnlichen Weise ansammeln Hessen. So wäre
es auch leicht f erklärlich , dass ein solches, unter hohem Drucke
stehend zu der beschriebenen Hervorwölbung an der rechten
Seite des Thorax geführt hätte. Gegenüber den anderen Autoren
mnss ich hier hervorheben, dass ich die Hervorwölbung der Herz-
g^^end bei hypertrophischen Herzen und bei Pericardialexsudaten
hei Weitem für keine so häufige Erscheinung halte, als dies gewöhn-
lich angenonmien wird. Ich habe riesige Pericardialexsudate, und
auch hei jugendlichen Individuen gesehen , ohne dass eine
stärkere Wölbung in der Herzgegend bestand. In unserem Falle
aber liess sich die Hervorwölbung mit Rücksicht auf das jugend-
liche Alter einerseits und auf den hohen Druck andererseits, unter
welchem das Exsudat unter den angenommenen Absackungsver-
hältoissen stehen konnte, wohl erklären. Der Mangel von Schmerz
üi der Herzgegend schliesst die Annahme einer Pericarditis nicht
aus, und konnte es sich somit um ein solches Exsudat handeln,
aber nur unter der Voraussetzung, dass es abgesackt wäre.
Waren aber nicht auch noch andere Erklärungen möglich?
Ein Aneurysma der Aorta war bei dem jugendlichen Alter,
bei der Stelle der Dämpfung, bei dem Mangel aller anderen Er-
scheinungen leicht auszuschliessen, ebenso zum Theile aus denselben
Grfinden irgend ein Mediastinaltumor.
Hingegen war an die Möglichkeit eines, natürlich wieder
abgesackten plenritischen Exsudates zu denken. Der Umstand,
das8 man die Schallerscheinungen des Herzens über der Dämpfung
noch mit relativer Stärke wahrnahm, schloss diese nicht aus. Die
Form der Dämpfung, namentlich die eigenthümliche Gonfiguration
nach oben, waren allerdings höchst auffallend. Ich untei*suchte daher,
wie sich die Verhältnisse beim tiefen Inspirium der Kranken ver-
halten würden. Wäre bei diesem eine Aenderung eingetreten.
56 Schröiter.
resp. hätte sich die Lunge über die Dämpfungsgrenze hereinge-
schoben, 80 wäre das abgesackte pleuritische Exsudat ausge-
schlossen gewesen. Allein da bei wiederholten Versuchen diese
Aenderung nicht eintrat und da auch einige Wochen vorher b^
der Kranken ein pleurales Beiben an der vorderen Seite des
Thorax gehört worden sein soll, war ein abgesacktes pleuritisches
Exsudat in eigenthlünlicher Form in der Nähe des rechten Herzens,
ebenso wie ein abgesacktes pericardiales Exsudat möglich.
Es lag aber noch eine, und, wie ich glaube, nur noch diese
letzte Deutung vor, nämlich die, dass der bedeutend ausgedehnte
rechte Vorhof die Dämpfung verursachte. Für gewöhnlich ist der
rechte Vorhof bekanntlich vollständig von der rechten Lunge zuge-
deckt und daher der Untersuchung nicht zugänglich. Wenn er aber
in höherem Maasse dilatirt ist, vermag er die Lunge abzudrängen
und wird dann in mehr minder beträchtlicher Ausdehnung zwischen
dem unteren Rande der zweiten Rippe und dem oberen Bande
der sechsten Rippe wandständig. Für eine starke Ausdehnung
des Vorhofes wäre hier allerdings in der Insufficienz und Stenose an
der Bicuspidalis und Insufficienz der Tricuspidalis eine ausreichende
Ursache gefunden. Allein neben der ganz besonders starken Aus-
dehnung, die man hier doch annehmen musste und die man
für gewöhnlich selbst bei den complicirten Klappenfehlern nicht
beobachtet, waren hier noch ein paar Umstände, die diese An-
nahme nicht so ohne weiters gelten lassen konnten, vorhanden.
1. Die eigenthümliche Form, das nicht vollständige Heran-
reichen der Dämpfting zum rechten Stemalrande und 2. das Gleich-
bleiben der Dämpfung beim tiefen Inspirium. Beides aber Hess
sich durch die Annahme von Verwachsungen der Lunge mit der
Pleura wieder hinreichend erklären; denn solche konnten einer-
seits die Retraction der Lunge an der Basis verhindern und so
den einspringenden Winkel mit vollem Schall an der oberen
Grenze der Dämpfung verursachen, und andererseits verhindern,
dass sich die Lunge beim Inspirium weiter über das Herz herein-
lege. Dieses letztere konnte allerdings auch dadurch verhindert
werden, dass der rechte Vorhof unter bedeutendem Drucke der
vorderen Thoraxwand anlag. Es war somit die Annahme, dass
(6)
lieber Dilatation des rechten Vorhofes und' ihren Nachweis. 57
die Dämpfdng und beträchtliche Wölbang der rechten Thorax-
wand durch den stark ausgedehnten Vorhof bedingt sei, durchaus
nicht ausgeschlossen. Wie nun über die Richtigkeit unter diesen
drei Möglichkeiten: „Stark ausgedehnter rechter Vorhof, abge-
sacktes Pericardial-, abgesacktes pleuritisches Exsudat^ Gewissheit
erlangen?
Da nun aber die Kranke in den nächsten Tagen eine sich
hochgradig steigernde Atheinnoth mit noch stärkerer Ausdeh-
nung der Halsvenen und Cyanose bekam, schien die Feststellung
der Diagnose nicht blos akademisch wilnschenswerth , sondern
wegen eines etwaigen therapeutischen Eingriffes durchaus noth^
wendig. Im Falle es sich nämlich um ein Exsudat der einen
oder anderen Art gehandelt hätte, schien die Function eines
solchen angezeigt.
Ich glaube hinreichend erörtert zu haben, dass es aus den
angeführten Symptomen nicht möglich war, eine sichere Diagnose
zu machen, und entschloss mich daher zur Vornahme einer Explo-
rativpnnction. Ich stellte mir vor, dass diese unter allen Gautelen
vorgenommen , selbst wenn es sich um den rechten Vorhof han-
delte, für die Kranke keine Gefahr bringen würde, und war hierzu
besonders durch die Resultate meiner Functionen der Aneurysmen
ennnthigt ^)
Am 18. November 1886 wurde im 4. Intercostalraume,
2 Cm. nach einwärts von der Mamillarlinie , die aasgegltthte
Nadel einer Fravaz'schen Spritze ohne besonderen Widerstand
eingestochen. Sofort machte die ganze Spritze theils von der
Respiration abhängige, theils aber noch auffallendere, rhythmische,
mit den Bewegungen des Herzens gehende , auf- und absteigende
pendehide Bewegungen. Die in die Spritze angezogene dunkel-
rotfae Flüssigkeit erwies sich bei der mikroskopischen Unter-
sachnng als reines Blut. Somit war die Diagnose, dass es
sich mn den colossal ausgedehnten rechten Vorhof handelte , ge-
sichert. Der operative Eingriff war durchaus unschädlich, verlief
') üeber Therapie der Aorienanenrysmen. Von Prof. Schrott er. Deutsch.
AkMt tfkr kUa. tfedidn. 1884, Bd. VI.
Med. Jahrbücher. 1886. 5 (?)
58 Schrötter.
vollständig reactionslos, doch erlag die Kranke am 6. December
1886 ihrem schweren Leiden.
Aus dem von Herrn Prof. Kund rat angegebenen Sections-
befnnde will ich ebenfalls nur das fiir unsere Frage Wichtige
hervorheben.
Haut im Gesichte geschwellt, verfärbt, Unterhautzellgewebe
ödematös , Hals kurz , Brustkorb schmal , stark gewölbt , nach
innen von der rechten Brustwarze stärker ausgebaucht, Unterleib
schwappend, Extremitäten leicht ödematös. . . . Herzbeutel enorm
ausgedehnt, durch colossale Ausdehnung des Herzens. Dieses mit
seinem vorderen Rande nach rechts gedreht, und zwar so, dass
die Spitze in der Höhe vor dem vorderen knöchernen Ende der
6. linken Rippe lagert, der colossal ausgedehnte Vorhof der
rechten Brustwand anliegt. Die rechte Lunge nach hinten und
unten retrahii-t, am Rande und an der Aussenfläche
des Ober- und Mittellappens durch strangförmige
Pseudomembranen fixirt, im Oberlappcn in grösserer Aus-
dehnung verwachsen, an dessen Spitze gedunsen. Nach unten zu
im rechten Brustraume ^s Liter seröser Flüssigkeit angesammelt,
im linken Brustraum etwa ^'a Liter gelblichen, klaren Serums.
Linke Liinge gross, blutreich, etwas rostbraun, dichter. Die rechte
Lunge im Spitzenantheile des Oberlappens emphysematös gedunsen,
blutarm. In den basalen Antheilen im Mittel- und
Unterlappen und zwar im vorderen Antheile des
letzteren schwielig verödet und geschrumpft. Die
Bronchien daselbst erweitert.
Der 1. Ventrikel erweitert, in seinen Wandungen etwas
verdickt, in seinen Trabekeln abgemagert, das Endocard über den-
selben milchigweiss getrübt. Die Aoi*taklappen herabgedrängt
und ausgebaucht und unterhalb der Schlusslinie milchigweiss ge-
trübt. Die Noduli mit feinsten weissen Excrescenzen besetzt.
Bicuspidalis durch Verwachsung beider Zipfel und der Sehnen-
fäden untereinander und durch starke Schrumpfung in einen
starren Trichter verwandelt, dessen Oeffnung an der Spitze 14 Mm.
(8)
lieber DUatation des recbten Yorhofea nnd ihren Nachweis. 59
lang nnd 6 Mm. breit ist. Tricnspidalis gleichfalls in einen
Trichter yerwachsen, dessen Ostium rundlich die Grösse circa
einer Erbse besitzt. Der rechte Ventrikel wenig erweitert, wenig
rerdickt, Vorhöfe, besonders der rechte, enorm er-
weitert, sehr stark in seinen Wandungen hypertrophirt. Im
rechten Herzohre wandständige Thromben, das Herz strotzend von
locker geronnenem Blute. Leber sehr gross, dick, plump, in eine
verdickte getrübte Kapsel gehüllt, obei^flächlich gelappt, granulirt.
Parenchym muscatnussähnlich gezeichnet, in einzelnen Läppchen
hypertrophirt. Milz sehr gross, dick, plump. Kapsel und Gerüste
verdickt, Pulpa schwarzroth. . . . Nieren blutreich, etwas gelockert,
in der Rinde erbleicht.
Vergleichen wir diesen Befund mit den während des Lebens
erörterten Anschannngen, so ergibt sich zuerst die Richtigkeit der
Diagnose auf lusuiflcienz und Stenose des Bicuspidalis und Insufiicienz
der Tricuspidalis. Die Veränderungen an den Aortenklappen haben
dieselben an ihrem Verschlusse wohl nicht gehindert, wenigstens waren
im Leben keine darauf bezüglichen Erscheinungen nachzuweisen.
Hingegen fand sich, und zwar eine ganz beträchtliche Ste-
nose am Ostium venös, d. Dass eine solche kein Geräusch
hervorbringt, ist bereits hinreichend oft beobachtet worden und
erklart sich wohl aus der geringen Intensität, mit welcher das
Blut aus dem rechten Vorhofe in den rechten Ventrikel sti'ömt
und entweder kein Geräusch oder nur ein so schwaches zu
Stande kommen lässt, dass es unter jenem des linken Ventrikels
verschwindet. Interessant ist, dass trotz dieser Stenose noch ein
so dentlicher systolischer Halsvenenpuls, der bei seiner Gonstanz
doch nur auf die Contraction des rechten Ventrikels zu beziehen
war, zu Stande kommen konnte. Richtig war femer auch
die eolossale Ausdehnung des rechten Vorhofes, welcher, der
rechten Thoraxwandung in der geschilderten Weise anliegend,
die ausgebreitete Dämpfung verursachte. Richtig war femer
die im Leben angenommene Erklämng für die eigenthümliche
Form derselben durch die pseudomembranösen Verwachsungen
der Lunge. Zu der bedeutenden Ausdehnung des Vorhofes
jedoch kam noch ein zweites Moment hinzu, welches dessen weit
gO Schrotte r. lieber Dilatation d. rechten Vorhofes n. ihren Nachweis.
aui^ebreitetes Anliegen an die Thoraxwandung nach rechts hin
verursachte. — Dieses ist in der ohne Zweifel angeborenen
Schrumpfung der bezüglichen Lungenabschnitte gegeben. Gewiss
hängen mit dieser und der leichten Erweiterung der Bronchien
jene in der Krankengeschichte angegebenen, rechts rückwärts
unten gehörten mittelgrossblasigen consonirenden Rasselgeräusche
zusammen. Diese raussten aber mit Rücksicht auf die anderen
Erscheinungen mit einer pneumonischen Infiltration und nicht mit
der Induration dieses umschriebenen untersten Lungenabschnittes,
welcher von der Leberdämpfung nicht zu differenziren war, um-
somehr in Verbindung gebracht werden, als auch die übrigen
Zeichen für dieselbe fehlten.
Die Explorativpunction war im Leben vollkommen gefahr-
los verlaufen, sie hatte aber auch am Präparate keinerlei Spur
zurückgelassen, so dass in schwierigen Fällen dieses Mittel unbe-
schadet zur Feststellung der Diagnose benützt werden kann.
-m^
Dnck TOB eoUli«b Oi«t«l * Comp, in Wien. (10)
IV.
Die embryonale Anlage des Mittelohres: die mor-
pbologische Bedeutung der Gehörknöchelchen.
Von
Dr. G. Oradenlgo ans Padua.
(Aus dioi Laturatorium des Prof. Schenk in Wies.)
(Im October 1886 von der Bodaction übernommen.)
L
Allgemeiner Theil.
Die erste Anlage der Gehörknöchelchen und dee iubo-tympa-
nalen Raiimee: morphologieche Bedeutung der Ereteren.
Durch die erschöpfenden Arbeiten Retzius', Tafani's,
Boettcher's haben die Kenntnisse in der vergleichenden Ana-
tomie nnd der Entwicklnngogeschichte des inneren Ohres in ihren
Hmptzilgen einen derartigen Orad der Vollkommenheit erreicht,
den man noch vor wenigen Jahren nicht geahnt hätte. Ein
GMches kann vom Mittelohre nicht gesagt werden. Die Ent*
Bldimigsweise des tabo-tympanalen Baumes, die erste Anlage
«od die morphologische Bedeutung der (Gehörknöchelchen bilden
Boefa immer einen der dunklen Abschnitte der Entwicklungs-
geschichte und der comparativen Anatomie.
Die technischen Schwierigkeiten, die sich an die Präpa-
ration so kleiner, der Untersuchung schwer zugänglicher Objecto
knüpfen, und die Complication der topograplüschen Verhältnisse,
Med. Jalirlrüoher. 1887. 6 (D
g2 Gradexiigo.
bedingt durch die Anhänfung und das Ineinandergreifen wichtiger
embryonaler Gebilde auf einer relativ engen Stelle, erklären viel-
leicht zum Theile die auseinandergehenden Ansichten, welche sich
auf diesem Gebiete kundgeben.
Und nicht allein die Angaben über nebensächliche Einzel-
heiten, sondern auch jene über fundamentale Vorgänge stehen zu
einander im Widerspruche. Der tubo-tympanale Raum wird, was
seine Entstehungsweise betrifft, von den Einen mit der inneren
Hälfte der ersten Eiemenspalte in Beziehung [Reichert ('),
Kölliker (**)*)] gebracht, von den Anderen als eine gegen
das Ohr zu wachsende Ausstülpung des Darmcanals angesehen
[H u n t (»T), M 0 1 d e n h a u e r (")]. Betreffs der Gehörknöchelchen
stimmen die Autoren nur darin überein, dass sie den Hammer
aus dem ersten Kiemcnbogen entstehen lassen. Der Ambos wird
von den Einen mit dem ersten Eiemenbogen [Reichert (*),
Rathke C^), (*"), Sälen sky (^«)], von den Anderen mit dem
zweiten in Zusammenhang gebracht [Huxley ('*""")? Parker
("X Fräser (t»)].
Der Steigbügel , das wichtigste Knöchelchen in physio-
pathologischer Hinsicht ist bald mit dem ersten Eiemenbogen
[Valentin (^-8)^ Günther (")], bald mit dem zweiten [Rei-
chert (»), Bruch ("-"), Semmer (**)], bald mit der perio-
tischen Eapsel [Burdach (*), Gruber («>), Parker (")], in
Beziehung gebracht worden: einige Autoren stehen sogar für
eine morphologische Unabhängigkeit des Steigbügels ein, indem
sie das embryonale Bindegewebe zum Steigbügel umwandeln
lassen [Hunt ("), Salensky (^e), Fräser (7»)].
Wenn in Fragen so allgemeiner Bedeutung eine solche
Verschiedenheit der Ansichten herrscht , ist es leicht begreiflich,
wie noch um so ungewisser und unvollkommener unsere Kennt-
nisse über einzelne Details, z. B. die Einzelheiten in den Ent-
wicklungsvorgängen der Enöchelchen und in der Topographie
des embryonalen tubo-tympanalen Raumes, die Entstehungs weise
der Deckknochen u. s. w. sein müssen.
*) Die eingeklammerten kleinen Ziffern yerweisen auf daa bibliograpliiflclie
Yerzeickniss, welches am Ende dieser Arbeit steht«
(8)
IHe embryonale Anlage des Ifittelolufes : die morphologische Bedeutung etc. g3
Beim Stadium der Entwicklungsart der Gehörknöchelchen
halte ich fiir nothwendig, die Entstehungsweise der periotischen
Kapsel und besonders ihrer vestibulären Wand in Betracht zn
ziehen, welche später in ein inniges Verhältniss zu den Gebilden
des Mittelohres gelangt.
In der That, während im Embryo die Entstehnngsweise des
hantigen Labyrinthes als eine ziemlich bekannte betrachtet werden
kann, dünkt es mich, dass die wichtigen Modalitäten, welche die
Labyrinthkapsel in ihrer Entwicklmig aufweist, bislang nicht
entsprechend erforscht wurden.
Das genaue Studium des Entwicklungsganges der Gehör-
knöchelchen und der periotischen Kapsel ist geeignet, eine
Eeihe wichtiger allgemeiner embryologischer und morphologischer
Fragen zu lösen.
Es sind die Ergebnisse der Untersuchungen, welche die
AnpassungsYorgänge des primordialen Skeletes zu dem höchsten
Skelettypus im Embryo verfolgen , diejenigen, welche uns in die
Lage setzen , in's verwickelte Feld der Morphologie der Wirbel-
thiere einzudringen. Die vergleichende Anatomie ist für sich
aBein nicht im Stande, alle complicirten morphologischen Pro-
bleme zu lösen, die sich dem Forscher entgegenstellen. Zu be-
deutend und verschiedenartig sind die Veränderangen des pri-
mordialen Typus bei den verschiedenen Wirbelthierclassen , zu
ausgedehnt das Anpassungsvermögen der Organe der einzelnen
Thierarten.
Andererseits, da die Erforschung der Entwicklungsweise der
Gehörknöchelchen und deren Gelenke Gebilde berücksichtigt,
welche in einem beschränkten Räume jene histologischen Vor-
gange bilden, welche bei der Entstehung der Röhrenknochen und
der grossen Gelenke anzutreffen sind, so ist es möglich, in einem
und demselben mikroskopischen Gesichtsfelde diejenigen Processe
aaf einmal zu übersehen, welche bei dem Studium der Ent-
wicklongsweise anderer Skelettheile nur auf eine lange Reihe
von Schnitten mühselig verfolgt werden müssen. Dies erleichtert
wesentlich die Beurtheilung einiger noch fraglicher Thatsachen
io der allgemeinen Entwicklungslehre der Skeletelemente.
6 • (8)
64 Gradenigo.
. Die beste Methode, nm die verschiedenartigsten Fragen,
welche man auf diesem Gtobiete trifft, zc lösen, besteht meines
Erachtens darin, die histologischen Einzelheiten, welche sich
an die EntwicUnng der verschiedenen Gebilde des Mittelohres
anknüpfen, ohne vorausgehende Beriicksichtigong der. Ergebnisse
der vergleichenden Anatomie zu stadiren und festzustellen. Erst
dann, wenn die fundamentalen Entwicklungsvorgänge festgesetzt
sind, wird man zu ihrer Deutung schreiten und über ihren Werth
discutiren, indem man sie zu den allgemeinen embryonalen
Lehren und zu den aus dem Studium der vergleichenden Ana-
tomie gewonnenen Resultaten in Beziehung bringt.
Von einem streng embryologischen Standpunkt bin ich also,
auf Grund dieser Betrachtungen, an das Studiimi der so compli-
cirten und noch so wenig bekannten Entwicklnngsweise der
Skeletelemente des Mittelohres und des tubo-tympanalen Baumes
gegangen. In dieser Arbeit wird die Entwicklung der Skelet-
elemente nur bis auf die Verknöcherung verfolgt.
Bei den Untersuchungen, welche ich im embryologischen
Institute der Wiener Universität unter der gelehrten und freund-
lichen Leitung des Herrn Prof. Schenk, dem ich hier meinen
besten Dank abzustatten mich beehre, unternahm, kamen mensch-
liche und Säugethierembryonen zur Anwendung, und wurden diese
mit einer streng wissenschaftlichen Methode, der Methode der
Serienschnitte, studirt. Das reichlich dazu benützte Material, die
dünnen Schnitte, die angewandte Doppelfarbungsmethode haben
mich in die Lage gesetzt, die kleinsten histologischen Details
der wichtigsten Entwicklungsstadien mit Genauigkeit zu verfolgen.
Die gewonnenen Resultate scheinen mir geeignet, die Ent-
mcklungsweise des Mittelohres hinreichend zu beleuchten, und
in's breite Feld der Morphologie der Gehörknöchelchen einen Licht-
strahl zu werfen.
Die Entwicklungsweise der Gehörknöchelchen, und besonders
des Steigbügels ist, nach meinen Resultaten, weit complicirter als
bis jetzt gedacht. Der Steigbügel der Menschen und der höheren
Säugethiere geht aus der Verschmelzung zweier embryologisch
und morphologisch ganz verschiedener Elemente hervor. Der
tubo-tympanale Raum geht zur Zeit des Auftretens der proxi-
(4)
Die emluryonale Anlage des Mittelohres : die morphologiscbe Bedentnns etc. 65
malen Enden der zwei ersten Eiemenbogen einen eigentlichen
InyolntionsTorgang ein, und sich erst dnrch eine Keihe complicitter,
aber bestimmter, in der Entwicklangsweise der umgebenden
Skelettheile gelegener Verändenmgen seine definitive Gestaltung
ganz erreicht.
Anch diesmal bestätigen nnd vervollständigen die embryo-
logiflchen Thatsachen in wunderbarer Weise die Ergebnisse, welche
man ans dem Stadium der vergleichenden Anatomie ziehen kann ;
auch diesmal entsprechen die autogenetischen Vorgänge den phylo-
genetischen vollkommen.
Die Resultate meiner Arbeit sind zugleich geeignet eine
glänzende Bestätigung des classischen Satzes anzugeben, dass es
die Entwicklungsgeschichte ist, welcher die Aufgabe zufällt, das
Richteramt über die comparative Anatomie zu führen.
Unter8Uchung8methode.
Bei den Untersuchungen der Entwicklungsweise der Gehör-
knöchelchen können zwei Methoden zur Anwendung kommen:
Die gewöhnliche anatomische Präparirmethode und die
Methode der Serienschnitte. Es ist angezeigt über deren
relativen Werth einige Woi-te zu sprechen, denn die von den
Autoren erlangten verschiedenen Resultate dürften zum Theil den
betreffenden angewendeten Methoden zugeschrieben werden.
Die sogenannte Präparirmethode besteht darin, dass
man makroskopisch die einzelnen soliden Skelettheile heraus-
präparirt, und sowohl deren Form und Zusammenhang als auch
deren topographische Verhältnisse studirt.
Es folgt hieraus, dass diese Methode mit befriedigendem
Erfolg nur dann angewendet werden kann, wenn die zu unter-
suchenden Elemente genug fest sind, damit sie mechanisch von
den umgebenden Theilen ordentlich getrennt werden, und wenn
die Dimensionen derart sind, dass man sie wenigstens deutlich
und leicht mit der Loupe sehen kann.
Der MeckeTsche Fortsatz, der Hammer und der Ambos
können ohne erhebliche Schwierigkeiten bei den Embryonen der
meisten höheren Säugethiere herauspräparirt werden, jedoch erst
dann, wenn die Verknorpelung schon eingetreten ist.
gg Gradenigo.
Was den Steigbügel betrifft, so ist dessen unversehrte Prä-
parining und die Erforschung seiner topographischen Verhältnisse
wesentlich erschwert durch die Zartheit seiner Contouren, die viel-
fachen Beziehungen zu den Nachbartheilen, die tiefe Lage in der
Nische des ovalen Fensters und das umgebende embryonale
Bindegewebe.
Aber auch flir die übrigen obgenannten knorpeligen Elemente
des Mittelohres muss sich die Anwendung der Präpariimethode
auf bestimmte Entwicklungsperioden beschränken. Das erste Auf-
treten des Knorpelgewebes geht nicht gleichzeitig und gleichmässig
in allen Skeletabschnitten der Kiemenbogen vor sich. Durch die
Präparation kann man nun Bilder bekommen, welche die Ver-
schiedenheit der histologischen Vorgänge in übertriebenem Maasse
anschaulich machen, und müssen in gewisser Beziehung als künstlich
erzeugt angesehen werden. Ueberdies ist bei den ersten Stadiea
der Elnorpel von dem ihn umgebenden embryonalen Gewebe gar
nicht deutlich abgegrenzt. Salensky selbst, welcher die Ent-
stehungsweise des Hammers und des Ambosses hauptsächlich mit der
Präparirmethode verfolgt hat, gesteht zu, dass das Präpariren
des Knorpels bei den kleinen Embryonen, bei welchen die Ver-
knoipelung noch nicht ganz vollendet ist, eine ziemlich schwierige
Manipulation darstellt. Selbst an den gefärbten Präparaten treten
die Grenzen der Knorpel nicht sehr scharf hervor, und das die
Knorpel umhüllende embryonale Bindegewebe kann nicht voll-
kommen entfernt werden.
Vor dem Auftreten des Knorpelgewebes, in dem in morpho-
logischer Hinsicht wichtigsten Stadium, wo die Elemente des
künftigen Skeletes nur von mehr färbungsfähigen Zellanhäufungen
dargestellt erscheinen, kann von einer Präparirmethode nicht die
Bede sein.
Aus den oben angeführten Gründen erhellt, dass bei dem
Studium der Entwicklungsweise der Gehörknöchelchen die Prä-
parirmethode nur in besonderen Fällen, und jedenfalls nie in den
allerersten Stadien mit Erfolg angewendet werden kann.
Wenn das Knorpelgewebe schon vollkommen gebildet ist,
kann uns die Präparirmethode eine werthvoUe und rasche Uebersicht
der wichtigsten Einzelheiten über Form und Grösse gewähren,
(6)
Die embryonale Anlage des Hittelolires : die morphologische Bedeutung etc. 67
und dies besonders bei vorausgegangener passender Färbung des
anatomiscben Präparates in toto.
Die zweite Methode, die einzige, welche auf alle Fälle passt^
besteht in der Anfertigung der Serienschnitte. Nur nach dieser
Methode ist es möglich die allerersten Stadien der Skeletelemente
zu treffen, wenn diese, noch kaum angedeutet, inmitten des zarten
embryonalen Bindegewebes erscheinen ; nur an der Hand derselben
Methode können wir bestimmte und genaue topographische Kenntnisse
erlangen, und in die feinsten hystologischen Details eindringen.
Es ist wohl wahr, dass eine exacte Kenntniss über die Form
und Ausdehnung nur durch einen Vergleich von wenigstens drei
ToUkonunenen, nach den drei Hauptrichtungen geführten Schnitt-
serien gewonnen werden kann. Die Vorbereitungsmethode ist
daher langwierig und mühevoll. Die Herstellung aus den Schnitten
eines realen Bildes ist manchmal schwer, aber die Folgerungen, die
man daraus ziehen kann, übertreffen in Bezug auf Genauigkeit
und Vollkommenheit der Details und wissenschaftlichen Werth
bei weitem jene Resultate, welche nach der geschicktesten Prä-
paration zu erzielen sind.
Die von mir unternommenen Untersuchungen wurden nach
der Serienschnittenmethode geführt. Bei einzelnen speciellen Fällen
hat mir die Präparationsmethode sehr gute Dienste geleistet.
Je nach dem Alter des Embryo wurden entweder das ganze
cephalische Ende oder der otico-occipitale Abschnitt, oder aber
auch nur das Gehörorgan in Schnitte zerlegt. Die Dicke der einzelnen
Schnitte variirte bei sehr jungen Embryonen von Veo — ^Uo Mm.^
für ältere Embryonen betrug sie Vbo — ^'20- Ich habe mich oft über-
zeugt, dass die Entwicklungsvorgänge nur an sehr dünnen Schnitten
genau zu verfolgen sind.
Die mehr als 3 Cum. langen Embryonen wurden entweder
in der Mülle raschen Flüssigkeit oder in einer Chromsäurelösung
gehärtet, respective aufbewahrt.
Für jüngere Embryonen habe ich eine Reihe von Fixirungs-
fltissigkeiten angewendet ; unter anderen die T a f a n i'sche Lösung
(Qamiamsäure und doppeltchromsaures Kali), dieEleinenberg-
lehe Flüssigkeit (Pikrinsäure und Schwefelsäure), die Ehrlich-
sehe Mischung (doppeltchromsaures Kali mit Eupfersulfid) , die
(7)
^g Gradenigo.
Flemming'scheMiscbimg (Chromsäure nnd EssigBäure). — Die
glänzendsten Restdtate wnrden nach der von Tafani angegebenen
Methode erlangt. Die Embryonen wnrden in folgende frisch be-
reitete Flüssigkeit:
wässerige Lösung von 0*40 Proc. doppelt-
chromsaurem Kali =20 Gem.
wässerige Lösung von 1 Proc. Ueber-
osmiumsäure = 5 Gem.
hineingelegt.
Ich liess sie an einem dunklen Orte 6~-12 Stunden stehen,
und brachte sie dann, behufs Erhärtung, in Kleinenberg's
Flüssigkeit.
Die einzelnen Zellen der so behandelten Präparate treten
in ihren Contouren sehr scharf hervor; die Kerne färben sich
rasch und intensiv. Das einzige Fehlerhafte, welches sich zu-
weilen einschlich, bestand in einem nicht genügenden Eindringen
der Osmiumsäure in das (Jewebe,
Auch die Kleinenberg'sche Flüssigkeit fdr sich allein
hat mir durch prompte Fixirung und rasche Erhärtung vorzüg-
liche Resultate geliefert. Aus den verschiedenen Erhärtungsflüssig-
keiten wurden die Embryone in successive stärkeren Alkohol ge-
bracht. Nachdem endlich, wenn der Fall eintrat, die Höhlen des
Mittel- und inneren Ohres weit geöfinet wurden, liess ich die
einzelnen Theile in einer Mischung aa. partes aequales absoluten
Alkohol und Schwefeläther durch 6—12 Stunden liegen, und
habe sie dann in Celloidin eingebettet.
Ich habe im Allgemeinen nicht für geeignet gehalten, die
Präparate in t o t o zu färben. Die Färbungsmethode, die mir die
besten Resultate ergab, war die doppelte Färbung der Schnitte
mittelst Grenachers Hämatoxylin und wässeriger Lösung von
Eosin.
Nachdem ich die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass nicht
nur die feinen histologischen Details, sondern auch die wesent-
lichen Vorgänge bei der embryonalen Entwicklung nur an gut
gefärbten Präparaten genau zu verfolgen sind , habe ich jeden
einzelnen Schnitt in der Serie doppelt tingirt, im Origanumöl
aufgehellt, und im Balsam montirt.
^8)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 69
Nach der erwähnten Doppelfarbungsmethode tingiren sich
die Kerne der Zellen des Bindegewebes , des Gentralnerren-
sysiems, der Ganglien und der Epithelien intensiv blau. Im
fertigen Enorpelgewebe bleibt die Intercellnlarsubstanz ungefärbt ;
die ZeUenkeme färben sich intensiver als die Kerne des Binde-
gewebes. Die Nervenfasern nehmen eine ganz schwache rosige
Farbe an, die Muskelfasern bleiben roth gefärbt.
In dem Falle, wo sich bereits Knochen vorfinden, bleibt
dieses Gewebe roth gefärbt, und ist daher sehr leicht erkennbar.
Aber wo am meisten die Vortheile der Doppelfärbung sich
kundgeben, das ist in dem Verhalten der Blutkörperchen. — Sie
nehmen eine knpferrothe Färbung an, mit violettem Kerne, so
dass die Blutgefässe durch deren Anhäufung eine Farbe be-
kommen, die sie deutlich auf dem blauen Felde des Präparates
hervortreten lasst.
Das Carmin hat mir ebenfalls zuweilen günstige Resultate
ergeben, aber in den meisten Fällen ist es mit den anderen
Färbungsmethoden nicht zu vergleichen.
Asordnung des Themas und benutzten Materials, Terminologie.
Wenn man sich zur Betrachtung des meisterhaften Werkes
Parkers ('*) über die Entwicklung des Schweinsschädels an-
schickt — wo der directe embryonale Zusammenhang des Am-
bosses mit den Elementen des zweiten Kiemenbogens , und nur
mit diesen allein bis zur Evidenz bei einer langen Serie
von Figuren, die in ihren kleinsten Einzelheiten durchgeführt
sind, dargestellt erscheint — und wenn man wieder die Arbeit
Salensky's {''^) durchliest — woselbst mit gleicher Ersicht-
Uchkeit nur der directe Zusammenhang zwischen Hammer und
Ambos dargestellt ist — so muss uns nicht wenig befremden,
dass zwei so bewährte Autoren in einem und demselben Gegen-
stand zu ganz verschiedenen Resultaten gelangt sind.
Ich habe zwei Arbeiten beispielsweise angeführt, wo die
gezogenen Schlüsse diametral entgegengesetzt sind: ich könnte
aber noch eine ganze Reihe von diesbezüglichen Arbeiten er-
wähnen, wo die Folgerungen und die beigegebenen Figuren eben-
sowenig zusammenstimmen.
O)
70 Gradenigo.
Die einzige Erklärnng über dieses eigenthümliche Vorkommniss
wäre die Annahme, dass die objectiven Thatsachen, bei den von
den Antoren vorwiegend nntersuchten Entwicklangsstadien, an und
fiir sich so wenig beweisend nnd charakteristisch sind, dass sie
sich den verschiedenartigsten Hypothesen anpassen, und dass der
Aator sich gewissennassen gezwungen sieht, nach einem eigenen,
meistens durch die Ergebnisse der vergleichenden Anatomie er-
langten Gesichtspunkte, sie zu systemisiren und zu vervollständigen.
Auf diese Weise wird die complicirte Beobachtungsthatsache nach
einem vorherbestimmten Schema zu erklären versucht, und der
objective, in mancher Beziehung unbestimmte Befund, in ein be-
stimmtes Resultat umgewandelt.
Indem ich an diese Arbeit ging, war meine erste Sorge
darauf gerichtet , nur auf meine Wahrnehmungen gestützt , die
eigene Meinung zu begründen. Dieses leitende Princip liegt auf
die Anordnung der ganzen Arbeit zu Grunde.
In einem ersten, streng objectiv behandelten Abschnitte
werden nur die beobachteten Thatsachen in Kürze zur Darstellung
kommen, wie sie aus der sorgfältigen Untersuchung der wichtig-
sten Entwicklungsstadien gewonnen worden sind.
Nur in einem zweiten Abschnitte werde ich solche Resultate
mit den Ergebnissen der vergleichenden Anatomie in Beziehung
bringen, und zugleich die Ansichten anderer Autoren hierüber,
welche auf diesem dunklen Gebiete mir vorangegangen sind,
durchprüfen und discutiren, um hierauf zur Aufstellung einer
einzigen Lehre zu kommen.
Die allerersten Stadien der Entwicklung der Gehörknöchel-
chen wurden von mir bei einer fortschreitenden Reihe von Katzen-
embryonen
I. Stadium 12 — 13 Mm. Steissscheitellänge
ni. „ 20 „
verfolgt. Die gemachten Beobachtungen wurden bei Kaninchen-
embryonen (13 Mm.), bei Schweinsembryonen (2 und 2*5 Cm.),
bei Hundembryonen (2 Cm.) controlirt.
Für ein späteres (IV.) Stadium, welches bis zur Verknöcherung
der Skeletelemente reicht, kamen eine Reihe von menschlichen
(10)
Die embiyonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. ^ 1
Embryonen (von 4 — 17 Cm. Scheitelsteisslänge) , von Schweins-,
Kaninchen-, Hnnd- nnd Mansembryonen zur Anwendung.
.Terminologie. Die Embryonen sind in aufrechter Stellung
gedacht.
Die Schnitte wurden nach den drei Hauptebenen geführt:
horizontal, sagittal (verticalis antero- posterior,
parallel der Medianebene) und frontal.
In Betreff der Benennung der Eaemenbogen glaubte ich auf
die Bezeichnungen der zwei ersten prä oralen Bogen, denen
nur eine morphologische Bedeutung zukommt, nicht Rücksicht
nehmen zu müssen; die Benennung erster und zweiter Kiemen-
bogen bezieht sich auf die postoralen Bogen im Ganzen.
Unter der Bezeichnung Hyoid- und Mandibular z eil en-
gt ränge verstehe ich die künftigen Skeletelemente der betreffenden
Kiemenbogen zur Zeit als sie noch nicht durch Enorpelgewebe
vertreten sind. Mit der Bezeichnung Mandibular- (MeckeTsche
Knorpel) uud Hyoidbogen (Reichert's Knorpel) beziehe ich mich
anf die Skeletelemente der respectiven Bogen.
I. Abtheilung.
lägene Unterstiohtingen.
Meine eigenen Untersuchungen beziehen sich hauptsächlich
auf das Studium der embryonalen Entwicklung der Skelettheile
des Mittelohres (der zwei ersten Kiemenbogen und der periotischen
Kapsel) bis zur vollendeten Verknorpelung, und der Entstehungs-
weise des tubo tympanalen Raumes.
I. Abaohnitt
Die Skeletelemente des Hittelohres.
Was die Skeletelemente betrifft, scheint es mir, um die folgende
Darstellung verständlicher zu machen, sehr geeignet, vier Ent-
wicklungsstadien zu unterscheiden, nämlich:
I. Stadium. — Die allererste Anlage der Skeletelemente.
n. Stadium. — Die vorknorpeligen Skeletelemente.
(11)
72 Oradenigo.
m. Stadium. — Das erste Auftreten des Enorpelgewebes (Ueber-
gangsstadimn).
.IV. Stadium. — Die knorpeligen Skeletelemente.
Alle diese Stadien gehen selbstredend in einander tlber.
I. Stadium.
Das erste Auftreten der vorknorpeligen Skelet-
anlage (Eatzenembryo 12 Mm.).
Dieses Stadium entspricht der allerersten Anlage der Skelet-
elemente. Katzenembryo 12 Mm. Scheitel-Steiss-Länge.^)
Charakteristische Merkmale. Ausgesprochene mesocephalische
Krümmung ; Kiemenbogen und Kiemenspalten deutlich entwickelt.
Die primitive Augenblase napfförmig, durch die Linse eingestülpt.
Keine Spur yon Pigment im äusseren Blatte der secundären Augen-
blase. Die Linse ist bei manchen Embryonen noch nicht ganz
vom Ectoderm abgelöst, bei anderen jedoch schon blas^iförmig
isolirt, und misst in ihrem grössten Durchmesser 0'2ö Mm., in
ihrer Dicke 0*17 Mm.
Der Stiel des Nervus opticus noch mit einer Höhlung
versehen, und hat gleich hinter der Augenblase einen Durchmesser
von 0*30 Mm.; wovon 20 jx auf die Höhlung fallen.
Die ovale Gehörblase misst an der Basis in horizontaler
sagittaler Richtung 0*75. Nur der Ductus endolymphaticus
ist schon deutlich abgeschnürt; seine Ausdehnung in sagittaler
Richtung beträgt 0*14, in frontaler 0-06.
Skeletelemente. Bei diesem Stadium sind einige der
künftigen Skeletelemente nur in Form von nicht scharf begrenzten
Anhäufungen runder, gefärbter, dick aneinander liegender Zellen
angedeutet, welche bei schwacher Vergrösserung besser hervor-
treten. Die Zellen des indiflferenten embryonalen Gewebes sind
weniger dicht aneinander gelagert, haben eine mehr ovale Gestalt,
besitzen einen verhältnissmässig grossen Kern, mit spärlicher Pro-
toplasmahülle und sind mit kurzen Ausläufern versehen.
^) Entspriclit dem von Boettcher'*') beschriebenen Schafembryo, 13 Mm.
Sch.-St.-Länge.
*) Boettcher, Entwicklung und Bau des Gehörlabyrinths.
fl2)
Die eMbryonale Anlage des Mittalohres : die morphologische Bedentung etc. 73
Die Nervenganglien , die wegen der Beachaffenheit der sie
msammensetzeiiden Zellen mit den obgenannten Zellenanhänfnngen
der ersten Enorpelanlage verwechselt werden könnten, sind jedoch
durch ihre iniugen Beziehungen za den Nervenfasern vollkommen
nnterscheidhar. Die Nervenstriinge selbst treten in diesem Stadium
sehr deutlich hervor; ihre Fasern färben sich durch Eosin rosenroth,
so dass sie in klaren Umrissen auf dem mit Hämatoxylin gefärbten
Fdde erscheinen. In den Nervenstämmen verlaufen die einzelnen
Fasern nicht parallel, sondern kreuzen sich vielfach untereinander.
Zwisehen den einzelnen Fasern ausgestreut, finden sich in relativ
gmnger Anzahl Zellen ohne Fortsatz, von ovaler Form und mit
dem grOssten Durchmesser in der Längsrichtung des Nerven
angeordnet.
Für die Benennung der graannten Zellenanhäuftangen, Anlage
der Skelet&eile, wähle ich die Bezeichnung „vorknorpelige
Anlage^, welche auf das zukünftige Knorpelgewebe hindeutet,
oder auch ganz einfach, je nach der Form, die Ausdrücke Zell-
hänfung, Zellenstrang, welche sich lediglich auf die histo-
logischen Charaktere beziehen.
Bei dem cephalischen Ende der Eatzenembryonen von 12 Mm.
Scheitel-Steiss-Länge finden wir angedeutet:
a) Die vorknorpelige Anlage der Wirbelsäule.
h) Die ersten Spuren der periotischen Kapsel um die
Gehörblase herum, welche durch einen Hof von runden, dicht an-
einander gednlngten Zellen repräsentirt erscheinen, die besonders
zahlreich an der unteren seitlichen Wand der Gehörblase vor-
kommen. Von diesen müssen die ihnen ähnlich aussehenden
Zdlen an der unteren medialen Wand streng unterschieden werden,
die, wegen ihrer Lage und der innigsten Beziehungen zu der
Epithellage des künftigen Ductus cochlearis als erste Anlage
des Ganglion cochleare aufzufassen sind.
c) Von den Kiemen-Skeletelementen lässt sich in dieser Periode
an dem mittleren äusseren Abschnitte des ersten Kiemenbogens
auf eine kleine Strecke hin ein Zellenstrang von einer Dicke 0*05
verfolgen, welcher an dem dritten Aste des fünften Nervens ventral
liegt Gegen das distale Ende des Kiemenbogens wie auch gegen
(18)
74 Gradenigo.
das proximale geht der genannte Zellenstrang in das nndiegende
Gewebe allmälig über.
An den Wurzeln der zwei ersten Eiemenbogen finden sich
unregelmässige Anhäufungen von runden und intensiv gefärbten
Zellen vor.
Topographie der Eopfgebilde: Gefässe. Indem
ich mir vorbehalte bei der Beschreibung des nächsten Entwicklungs-
stadiutiis über die Topographie der embryonalen Eopfgebilde aus-
führlich zu sprechen, um dieselben auch mit der Anlage der
Skelettheile in Beziehung bringen zu können, will ich hier nur
hervorheben, dass die Jugularvene eine mächtige Ausdehnung
aufweist, dass sie seitlich die ganze Hälfte des Eopfes einnimmt,
gegen hinten zu die Ganglien des 9. und 10. Nervenpaares nach
aussen abgrenzt, und vorne gegen das Ganglion Gasseri, welches
relativ stark entwickelt erscheint, hineinragt.
Die künftigen Carotiden sind verhältnissmässig von geringeren
Dimensionen, und steigen mit bogenförmigem Verlauf an den beiden
Seiten der Medianlinie in der hinteren Wand des Darmcanals
nach oben, um in die Schädelhöhle einzudringen.^)
Aus dem Studium an Eatzenembryonen, 12 Mm. Scheitelsteiss-
länge, welche die allererste Anlage der Skeletelemente , von mir
als erstes Stadium der Entwicklung bezeichnet, darbieten, ist fol-
gendes ersichtlich:
I. Enorpelgewebe findet sich noch nicht vor, die künftigen
Skelettheile sind nur durch Zellenankäufungen und Zellenstränge
dargestellt.
n. Von den Skeletelementen der zwei ersten Eiemenbogen
ist nur eüi Abschnitt des ersten (mandibularen) Bogens, seinem
proximalen Ende entsprechend, angedeutet.
m. Die vorknorpelige Anlage der periotischen Eapsel ist
besonders gut an der lateralen unteren Wand der Gehorblase an-
gedeutet.
') Die Katzenembryonen von 13 Mm. St.-Scli.-Läiige zeigen keine merk«
liehen Unterschiede an jenen schon beschriebenen in der Länge von 12 Mm.
(14)
Die embiyonale Anlage des Hittelohres : die morphologiselie Bedeutung etc. 75
n. Stadiom.
Die Torknorpeligen Skeletelemente (Katzenembryo
15 Mm.).
Die Skeletelemente sind nur von Zellenanfaäu-
fnngen dargestellt; keine Spar von Enorpelgewebe.
Katzenembryo 15 Mm. Scheitelsteisslänge.^)
CharakteristischeMerkmale:Mesocephalische'Ertim-
mong nocb dentlicb anngesprochen ; der Orbitalfortsatz ist lateral-
wärts mit dem Mandibniarbogen yerschmolzen ; der gut entwickelte
Xasalfortsatz begrenzt nach oben die Mundbucht; die Eiemen-
Bpalten sind bereits fast geschlossen. — Im Auge durchsetzt das
Pigment das äussere Blatt der secundären Augenblase in seiner
ganzen Dicke ; die Linse ist von dem Ectoderm durch eine meso-
dermatische Schichte getrennt, die beiläufig 20 [Jt. dick ist; die
Lause besitzt in der Richtung der optischen Achse eine Höhe von
mgefahr 0*25, und in einer zu dieser Achse senkrecht gelegenen
Ebene einen Durchmesser von 0*40; der Stiel des Nervus op-
ticus weist jetzt kaum eine Spur einer Höhlung auf. Die Labyrinth-
blase hat nunmehr eine gut ausgesprochene Anlage ihrer einzelnen
Theile. Der Ductus endolymphaticus (Fig. 3, D. E.) ist über einen
Millimeter lang; er zeigt jedoch an seinem oberen Ende keine
merkliche Erweiterung ; seine Eriimmung ist immer mit einer nach
aussen sehender Convexität; seine Mündung ist im Begriff , sich
senkrecht zur Labyrinthblase zu stellen. Unterhalb der Mündung
bemerken wir schon die ersle Anlage des Sacculus rotundus
(Fig. 3, Sac.). Indem sich der Canalis cochlearis (Fig. 3,
Ca. Goch.) gegen vorne und medianwärts krümmt, gelangt er zu
einer Entfernung der Medianlinie von ungefähr 0*30 Mm. Hier
wendet er sich auf eine kleine Strecke hin nach oben und aussen,
ohne aber eine ganze Windung voll zu machen. Die einzelnen
Theile der Labyrinthblase messen:
Ductus endolymphaticus (Fig. 3, D. E.). . . . l'OO Mm.
Der lange Schenkel des verticalen halbzirkel-
förmigen Canälchens (Fig. 3, C. s. s.) . • . 0*65 „
') £at0pricht einem mittlereii Stadium swiacben den von B oettoher
ftbgeUldetaa Schafembryonen von 2 Cm. und 2*20 Om.
(15)
76 Gradenigo.
Der kurze Schenkel desselben 0*32 Mm.
Das Lumen des oberen Canälehens, nahe der Basis 0'15 „ ^
Die Höhe des Canalis semicircularis ex-
ternus (C. s. ex.) 0-20 „
Das Lumen desselben nahe der Basis .... 0'20 „
Das Skelet erscheint nur in Form der schon vorher be-
schriebenen Zellenanhäufungen, die in diesem Stadium schärfer
heryortreten ; keine Spur von eigentlichem Enorpelgewebe.
Topographie der Eopfgebilde. Bevor ich zur Be-
schreibung der Gestaltung der SkeleteleuKente der zwei ersten
Eiemenbogen und der periotischen Kapsel übergehe, welche auf
dieser Entwicklungsstufe höchst wichtige Details aufweisen, scheint
es mir am Platze zu sein , Einiges über die Topographie der
embryonalen Eopfgebilde im Allgemeinen zu schildern.
Nervengebilde. Das erste Paar steigt nach unten an
beiden Seiten der medianen Linie, um in Beziehung zu dem
Epithel der Gerachsgruben zu treten. Der Trigeminus tritt
aus dem Nachhirn fast in der Höhe der Augen heraus, und
bildet gleich das beträchtlich entwickelte Ganglium Gasseri
(Fig. 5, 5 A u. 21 A, G. G.). Dieses Ganglion liegt nur circa
0'20 vor der Austrittsstelle des fünften Nervens, unterhalb und
nach hinten vom Auge (Fig. 5 u. 5 A. 0.) von innen zu von der
Jugularis begrenzt (Fig. 5 u. 5 A, Sagittalschnitte Ju.).
Aus seiner vorderen Convexität entspringen seine drei Aeste.
Von diesen zieht der erste gegen das Auge zu; der zweite ver^
läuft direct nach vorne in den Orbitalfortsatz des ersten Eiemen-
bogens, auf einer geraden Strecke von 1*10 Mm. (Fig. 6A und
20 A : y ^) ; der dritte wendet sich in schiefer Bichtnng nach
unten und aossen und verläuft längs des ersten Eiemenbogens
(Fig. 5 A V», Fig. 20, 20 A, 21, 21 A : V«). 0 Nachdem er sich bis
zu einer Entfernung von 1 Hm. der Medianlinie gelangt, theilt
er sich dorsalwärts von dem MeckeFschen Fortsatze in drei
Zweige: der eine verläuft direct nach aussen, der andere setzt
sich entlang der Aussenseite des MeckeFschen Zellenstranges
^) Die Fig;are]i steUen frontale Scknitte dar; die mit A beaeiehneten ent-
iprechen weiter nach hinten gelegenen Ebenen.
Die emfaiTOiiAle Anlage des Mittalohres : die morphologische Bedentimg etc. 77
nach Yorne fort, nm dann gegen die Oberfläche des ersten Kiemen-
bogens sich der Beobachtung zu entziehen ; der dritte endlich, zu
welchem die Chorda tympani hinzutritt, zieht an der inneren
Seite des genannten Stranges nach vorne. (Vergl. Fig. 5 A , wo
der Mandibularbogen mit Mn. und die Chorda tympani mit Ch. ty.
bezeichnet ist.)
Der siebente NeiT tritt aus einer Stelle des Nachhims
heraus, die etwas seitlich von der Wurzel des fünften Nervens^
liegt. Die Entfernung zwischen dem hinteren Rande der benannten
Wurzel und dem vorderen Bande des achten beträgt 0*15 Mm.
Gleich hinter dem siebenten Nerv tritt aus dem Nachhim
der achte Nerv (Fig. 5 u. 5 A, Sagittalschnitt VIII).
Die Fasern der zwei Nerven und deren Ganglien können schon
in diesem Entwicklungsstadium von einander unterschieden werden»
Drei ziemlich deutlich hervortretende Ganglien finden sich
vorne und oberhalb der Convexität, welche von der Krümmung
des Canalis cochlearis gebildet wird.
Ein Ganglion, von ovaler Form, liegt ganz vorne (G a n g 1 i u m
cochleare, acusticum anticum). Das andere, mehr abge-
nmdet und dicker, gleich hinter dem ersten (Ganglium vesti-
buläre seil acusticum posticum). Lateralwärts von den
zwei genannten, entsprechend der Verlängerung ihres Zwischen-
nunnes, liegt das dritte, welches rundlich und kleiner erscheint,
and mch von den anderen durch die Grösse seiner Zellen unter-
scheidet (Ganglium faciale).
Die vorderen Nervenfasern, welche ganz vorne am Nachhim
entspringen, gehören dem siebenten an, und verlaufen zwischen
den zwei Ganglien des Acusticus hindurch, um ihr eigenes
Ganglion zu erreichen. Die gleich hinter denselben heraustretenden
Fasern verlaufen quer gegen das hintere Ganglion des A c u s t i c u s,
tmd werden in charakteristischer Weise von den hintersten Wurzeln
unten durchkreuzt, welche in einer nach vorne schiefen Richtung
za dem vorderen Ganglion des Acusticus gelangen.^)
') Damit ist der Beweis geliefert, dass die sogenannte hintere Aon-
stienswnrzel mit der Cochlea (Nervns cochlearis), nnd die vordere
ait dem Yorhof nnd den Canale|8 semicircnlares (Nervns vesti-
knlari s) im Znsammenhange stehen.
Med. JahrbOcher« 1887« 7 ^7)
78 Gradenigo.
Der Facialis steigt von vorne nach hinten nnd von innen
nach aussen, indem er die Jugularvene durchkreuzt (Fig. 5, VII).
Die Chorda tympani (Fig. 24, Ch. ty.) löst sich fast recht-
winklig vom Facialisstamm (VII) ab, und verläuft nach vorne nnd
oben von einem arteriellen Gefässast begleitet (vergl. Fig. 2, 3,
4, horizontale Schnitte ; Fig. 5 , 6 , sagittale Schnitte ; Fig. 22,
22 A, 23, frontale Schnitte : Ch. ty.).
Von den complicirten Verhältnissen, die der genannte Nerv
mit dem zweiten Kiemenbogen eingeht, wird später ausführlich
besprochen werden.
Die letzten Paare der Hirnnerven folgen sich in der bekannten
Anordnung aufeinander.
Das Ganglion des neunten Nervens, welches gleich unter-
halb der Labyrinthblase liegt, wird nach aussen von der Jugu-
laris und nach innen von der Carotis begrenzt (vergl. Fig. 5 A) 5
«es entsendet nach oben zu in paralleler Richtung zur Carotis
einen beträchtlichen Strang (Jacobson's Ast).
Gefässe. Die Vena Jugularis hat im Vergleich zudem
früheren Stadium viel an Umfang abgenommen, und erscheint in
Tolge des ansehnlichen Zuwachses der Gehörblase nach aussen
vorgedrängt. Sie behält jedoch unterhalb der Gehörblase ein noch
ziemlich erweitertes Lumen, welche Stelle vielleicht als Andeutung
<les künftigen Bulbus angesehen werden könnte (Fig. 22 und
22A: Ju.).
Sie steigt seitlich von der Gehörblase hinauf, und kommt an
demCanalis semicircularis externus vorüber (vergl. die
Reihe von unten nach oben der horizontalen Schnitte, die von den
Fig. 1, 2, 3, 4 dargestellt sind, und die sagittalen Schnitte Fig. 5
und 6 : Ju.), um dann nach innen und vorne umzubiegen und von
innen her das Ganglion Gasseri zu begrenzen (Fig. 5 Ju.).
Die Carotis steigt entlang der Medianlinie an der hinteren
Wand des Darmcanals (Fig. 1 Ca.); biegt sich nach aussen und
hinten, und gibt in der Höhe des vorderen Endes des Canalis
cochlearis einen kurzen Ast ab, welcher sich bald verzweigt
(bei der Fig. 2 wurde dieser Ast der Länge nach getroflfen); ein
Arm steigt nach hinten (Arteria stapedialis) (Fig. 3, A. st.),
der andere begibt sich nach unten und hinten und geht zwischen
(18)
JÜe embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentang etc. 7 9
Jagolaris und Facialis durch (Arteria hyoidea) (Fig. 1 und Fig. 6,
A. hy.). Die Arteria stapedialis durchbohrt den Annulns
Stapedialis, von welchem später die Rede sein wird (Fig. 4,
A. St.), üiid theilt sich wieder in zwei Aeste, von welchen der
Yoidere gegen das Auge zu verläuft. Auch von den complicirten
Verhältnissen , welche die Jugularis und die Carotis in der seit-
liehen Gegend des Schädels darbieten, soll später ausführlich die
Bede sein.
Die Carotis selbst, nachdem sie die erwähnten Verzweigungen
abgegeben liat, wendet sich neuerdings nach vorne und innen, um
hierauf nach hinten mit fast rechtwinkliger Biegung in die Schädel-
höhle einzudringen, wo sie in der bekannten Weise zur Bildung
des Circulus Willisii beiträgt.
Skeletelemente. Periotische Kapsel. Um die Gehör-
blase herum hat die Schichte der rundlichen Zellen in Vergleich
zum früheren Entwicklungsstadium an Dicke zugenommen, und
beträgt an der dicksten Stelle, nämlich entsprechend dem C a n a 1 i s
semicircularis externus (C. s. ex.) 0*20 Mm. An dem
hinteren Abschnitte der Blase erscheint diese Schichte dünner,
mid ist kaum an der Seite des Nachhims wahrnehmbar (Fig. 2
und 3). Keine Spur von Labyrinthfenstem.
Kiemenskelet. Mandibularer Zellenstrang. In der
Dicke des ersten Kiemenbogens eingebettet findet sich beiderseits
ein gut markirter Zellenstrang (Fig. 21 und 21 A : mn.). Sein
distales Ende reicht nicht bis zur Medianlinie, endet aber mit
dner geringen Krümmung gegen oben in einer Entfernung von 0*30
Ton derselben.
Die beiden Zellenstränge verlaufen parallel zum Kiemenbogen,
d. i. in schiefer Richtung von hinten und oben nach vorne und
unten. Die Grösse ihres Durchmessers beträgt ungefähr 0*15 Mm. ;
se zeigen eine verdickte Stelle an dem Niveau des vordersten
Theiles der Gehörblase.
Der dritte Ast des 5. Nervens steigt von der Convexität
des Ganglion Gasseri nach unten entlang der dorsalen Seite dieses
mandibularen Bogens (Fig. 21 V^), und theilt sich in seinen drei
Aesten in einer Entfernung von 0*25 Mm. vom Darmrohre, und
0*40 von Ectoderm.
7* (19)
gQ Gradenigo.
Hyoidbogen. In dem zweiten Eiemenbogen verläuft der
Hyoidzellenstrang an seiner äusseren Seite von dem Facialis be-
gleitet (Fig. 21, 21 A, 22, 22 A. Hy.).
Proximale Enden derzwei ersten Kiemenbogen.
Das Verhalten der proximalen Enden der Eiemenbogen,
welche die seitlichen Theile der Labyrinthkapsel erreichen, wird
besser an der Hand einzelner Schnitte auseinandergesetzt.
Wir werden zuerst die horizontalen, dann die sagittalen
Schnitte studiren.
Horizontale Schnittserie aus 144 Schnitten be-
stehend, senkrecht auf der Chorda und von unten
beginnend:
Schnitt 78 (Fig. 1). — Von der Gehörblase ist nur deren
hinterster und tiefster Theil getroflfen, entsprechend der Anlage
für die verticalen Bogengänge (Ca. v.). An ihrem vordersten
Abschnitte beginnt schon das Ganglium acusticum sichtbar
zu werden. Die Jugularis (Ju.) welche in ihrem grössten Sagittal-
durchmesser 0*75 misst, befindet sich aussen und etwas nach
vorne von der Labyrinthblase, und liegt der vorknorpeligen perio-
tischen Eapsel an. Vorne und medialwärts der Jugularis trifft
man auf drei Gefässlumina : Am vordersten die Carotis (Ca.)
(Durchmesser 0*20 Mm.), weiter hinten einen arteriellen Stamm der-
selben (A. hy.), den man in den unteren Schnitten lateralwärts
von der Jugularis verfolgen kann (Arteria hyoidea) (Vgl. Fig. 6 A. hy.) ;
mehr nach aussen ein kleiner Ast (A. mn.), welcher die Chorda
tympani; wie aus der Fig. 2 ersichtlich, in den mandibularen
Bogen begleitet (Arteria mandibularis).
Der Canalis tubo-tympanicus (C.tu. ty., Fig 1) setzt
sich in dem Darmcanal (Ca. i.) fort, und zeigt in einer Entfernung
von 0'25 von der Medianlinie eine engere Stelle, erweitert sich
dann wieder, indem er nach hinten umbiegt, und reicht mit
seinem hinteren Ende, welches ungefähr 1*12 Mm. von der Me-
dianlinie weit absteht, bis zu 0*28 vom vorderen Rande der
Vena jugularis.
In dem zweiten Eiemenbogen verläuft der hyoidale Zellen-
strang (Hy.), ziemlich gleichmässig dick (Dicke 0*10), parallel und
seitwärts von der Tubalspalte (C. tu. ty.). Im Niveau des hintersten
(80)
Die embryonale Anlage des Mittelohies : die morphologische Bedeutung etc. 8 1
Ende der Tuba legt er sich vor dem Facialisstamm (VII) ; weder
sein distales, noch sein proximales Ende kommen in diesem
Sdinitt vor.
Schnitt 81 (Fig. 2). Ausser der Anlage flir die verticalen
Bogengänge (Ca. s.), finden wir hier die Anlage des Canalis
semicircnlaris externus(C. s. ex.), und des Canalis coch-
leari8(C. coch.), nndeinStückdesDuctus endolymphaticus
(D. e.).
Das Lumen der Jugularis (Ju.) ist enger geworden
(sagittaler Durchmesser 0*47), und das Gefäss selbst ist nach
Tome gerückt, so dass sein hinterstes Band von dem Canalis
semicircnlaris externus beiläufig 0*12 absteht.
Das im vorhergehenden Schnitte als Arteria hyoidea
beschriebene Gefass (A. hy.) ist an der Stelle, wo es in den zur
Carotis führenden Ast einmündet, den es mit der Arteria sta-
pedialis gemein hat, getroffen. Die Arteria mandibularis
ist an zwei Stellen ihres Verlaufes getroffen, und zieht lateralwärts
der Chorda tympani (Ch. ty.) nach aussen zu.'
Der tubo-tympanale Kaum ist enger als in dem vorherbe-
schriebenen Schnitt, besonders gegen das Endstück zu, wo die zwei
Epithelschichten untereinander in Berührung kommen (Ca. tu. ty.).
Von dem Hyoidbogen finden wir lateralwärts der Tuba
(Ca. tu. ty.) und der Facialis (VII), und vor der Jugularis (Ju.)
nur einen nmden Abschnitt seines proximalen Ende.
Schnitt 83 (Fig. 3). Die Labyrinthblase ist vollgetroffeh.
Es fehlt nur die äusserste Spitze des Canalis cochleäris
(Ca. coch.), der nach vorne und oben zu gewendet ist. Wir
finden den ganzen Ductus endolymphaticus (D. e.), die
Anlage der oberen Bogengänge (C. s. s.), des Canalis semi-
circnlaris externus (C. s. ex.), des Canalis cochleäris
(Ca. coch.).
Die Jugularis bietet keine merkliche Veränderungen in ihrer
Grösse und Lage (Ju.). Das hinterste Ende des tubo-tympanalen
Raumes befindet sich jetzt 1*40 von der Medianlinie entfernt
(Ca. tu. ty.).
Von dem kurzem, früher besprochenen Gefässaste, von welchem
sich früher die Arteria hyoidea abgetrennt hatte, zweigt sich
(21)
g2 Gradenigo.
jetzt gegen oben und hinten zu die Arteria stapedialis ab
(A. 8t.). An ihrem hinteren Rande legt sich der Hyoidzellenstrang
(Hy.) in Form eines Halbkreises mit der Concavität nach yome.
Der Facialisstamm liegt jetzt gerade hinten (VII).
Die topographischen Verhältnisse des genannten Halbkreises
können durch die folgenden Maasse dargestellt werden:
Entfemnng des hinteren Randes des Halbringes
von dem vorderen Schenkel der äusseren Bogen-
gänge (C. s. ex.) 0-42 Mm.
Entfemnng des hinteren Randes des Halbringes
von dem Stamme des N. Facialis, kaum . . . 15 (/.
Entfernung des medialen Randes des Halbringes
von der later. Wand der Labyrinthblase . . 0*25 Mm.
Entfernung des medialen Randes von der vor-
knorpeligen periotischen Kapsel 0*08 „
Letztere ist also 0*17 dick.
Bei der Fig. 3 ist noch zu sehen die Chorda tympani (Ch. ty.),
die Chorda dorsalis (Ch. d.), der Darmcanal (C. i.).
Schnitt 85 (Fig. 4). Die Labyrinthblase hat in ihren Di-
mensionen abgenommen. Der Ductus endolymphaticus
ist nur an seiner Spitze getroffen (D. e.).
Der von dem Hyoidbogen um die Art. stapedialis herum
(A. st.) gebildete Ring ist complet entwickelt; er hat einen
Durchmesser von 0*17, und eine ziemlich gleichmässige Dicke
von 0*025 Mm. ; an seiner vorderen und lateralen Seite kann eine
etwas dunklere runde Zellenanhäufung beobachtet werden: An-
nulus stapedialis (An. st.). Das arterielle Lumen ist von ovaler
Form mit dem grössten Durchmesser (0*08 Mm.) nach vorne gegen
die Carotis zu gerichtet. Zwischen der Peripherie des stapedialen
Gefässes und dem inneren Rande des besser gefärbten Ringes
ist eine Schichte von Gewebe aus blasseren oder weniger dicht
aneinanderliegenden Zellen zu sehen.
Die Entfernung zwischen Arteria stapedialis (A. st.) und
Carotis (Ca.) beträgt in dieser Höhe 0*22 Mm. Das hintere Ende
der tubo-tympanalen Spalte reicht bis zum Niveau des hinteren
Randes des Ringes, und steht von diesem circa 0*12 ab. Die Ent-
fernung dieses Endes von der Medianlinie ist ungefähr 1*50 Mm.
(22)
Die embryonale Anlage des Mittelobres : die morphologische Bedentnng etc. 83>
Der Ring ist jetzt mittelst seiner medialen Wand mit der
Anlage der periotischen Kapsel in Berührung; liegt immer vor
dem yil, nnd der Jngularis (Ju.).
Schnitt 90. — Von den Labyrinthgebilden erscheinen hier nur
der oberste Theil der verticalen Bogengänge und die Spitze des
Canalis cochlearis. Zwischen diesen beiden Theilen liegen die
Ganglien des Acusticns nnd besonders tritt das Ganglium coch-
learis hervor, dessen Nervenfasern in schiefer Richtung verlaufen.
Der Facialisstamm, welcher vor der Jugularis sich befindet,
zeigt lateralwärts einige grosse Ganglienzellen. Um die Arteria
Stapedialis ist keine Spur mehr von einem Ringe zu sehen. In.
dieser Höhe ist der Hyoidbogen nicht mehr zu treffen, und der
Mandibulare noch nicht zum Vorschein gekommen. Das hinterste
Ende des tubo-tympanalen Raumes findet sich TöO Mm. von der
Medianlinie entfernt und nur 0*15 von der Einsenkung des äusseren
Gehöiganges.
Ans der Untersuchung der weiter nach oben geführten Schnitte
ist bezüglich des Mandibularbogens folgendes zu bemerken:
Der Mandibularbogen in Gestalt eines Zellenstranges (von
der Dicke 0*10} kommt zu Gesicht in der Höhe des obersten
Theües der Acusticnsganglien , in welcher Ebene die Labyrinth-
blase ganz aufgehört hat.
Sein proximales Ende ist weniger deutlich markirt, und kann
nach hinten nur bis zum Niveau des Endstückes des tubo-tym-
panalen Raumes verfolgt werden.
Wenn wir kurz das, was aus den beschriebenen horizontalen
Schnitten zu entnehmen ist, zusammenfassen, können wir sagen:
Das proximale Ende des Eyoidbogens wendet sich nach oben,
vome nnd medialwärts, legt sich vor dem Facialis und vor der
Jugolaris an der hinteren Wand eines arteriellen Gefässes (Arteria
stapedialis) an und weiter oben bildet es um dieses Gef äss herum
einen vollständigen Ring (Annulus stapedialis). Dieser Ring stellt
das proximale Ende des Hyoidzellenstranges dar, und tritt ziemlick
weit nach vorne von der Anlage des Ganalis semicircularis extemus
mit der Anlage der periotischen Kapsel in Berührung. Der stape-
diale Bang bietet in diesem Entwicklungsstadium keine innige
Bezieliimg' zu dem proximalen Ende des I. Kiemenbogens dar.
(88)
S4 Gradenigo.
Die Arteria stapedialis stammt von der Carotis gemeinsam
mit der Arteria liyoidea ab, welche in den zweiten Eiemenbogen
nach nnten verläuft.
Sagittale Schnitte. Die Prüfung einiger in sagittaler
Bichtnng geführter Schnitte ist geeignet, die Erkenntnisse über
das Verhalten des proximalen Endes des Hyoid- und Mandibular-
bogens zu vervollständigen.
In den mehr lateral gelegenen Schnitten kommt zuerst das
proximale Ende des Mandibularbogens zum Vorschein: in den
mehr medialwärts geführten Schnitten trilBRt' man auch das proxi-
male Ende des Hyoidbogens. Zwischen diesen zwei Gebilden beträgt
die verticale Entfernung 0*70 Mm.
Sagittale Schnittreihe aus 51 Schnitten beste-
hend und von aussen beginnend.
Schnitt 17 (Fig. 5). Die Labyrinthblase zeigt eine An-
deutung der halbzirkelfbrmigen Canälchen fCa. s. s.), ferner nach
vorne hin das Anfangsstiick des Ganalis cochlearis, und
hinten einen Abschnitt des Ductus endolymphaticus (D.e.).
Ventral von der Blase bemerkt man die V. jugularis (Ju.),
die der Länge nach getroflFen erscheint, und die gegen oben aus
dem Bereiche des Schnittes heraustritt, indem sie sich medial-
wärts wendet. Man nimmt auch den mehr lateralwärts gelegenen
Theil des Ganglium Gasseri wahr (G.G.).
Ventral von der Vena jugularis findet sich der Facialis-
stanmi , welcher deren Verlaufsrichtung kreuzt. Der Verlauf des
achten, und theils dieser des siebenten Nervens ist durch punk-
tirte Linien nach den nächst gelegenen Schnitten angedeutet.
Vor dem Facialis ist die obere Partie des Hyoidbogens (Hy.), die
nach vorne und oben gewendet erscheint; das proximale Ende
Wegt sich medialwärts, und wurde daher nicht von dem Schnitte
getroflFen.
Der tubo-tympanale Raum ist in seinem hintersten Ende ge-
troflTen. Ventral von diesem finden wir die Chorda tympani (Ch. ty.),
•deren Abzweigung von dem Facialisstamm in den mehr lateral-
wärts gelegenen Schnitten erkenntlich war. Ganz oben und vorne
den lateralen Theil des proximalen Endes des mandibularen
Bogens (Mn.).
Die embryouale Anlage des MiUelohres : die morphologische Bedentung etc. 85
Die Endstücke der beiden Bogen sind von einander durch
den tnbalen Raum getrennt, and beträgt ihre Entfernung 0*35.
Schnitt 20. Gnt sichtbar der laterale Rand des stapedialen
Ringes, welches gegen unten zu in den Hyoidbogen sich fortsetzt.
Schnitt 22 (Fig. 6). Der Stapedialring ist fast in seiner
Mitte getroffen; die Arteria stapedialis kommt jedoch kaum zum
Vorschein.
Unmittelbar unterhalb dem Ringe ist das Lumen des Ramus
der Carotis, welcher die Arteria stapedialis und die Arteria
hvoidea in sich aufiiimmt, zu sehen. Man kann nach unten zu
auf eine gewisse Strecke die Arteria hyoidea (A. hj.) ver«
folgen. Die Jugularis ist nur in ihrem unteren Theile getroffen
(Ju.). Der Stapedialring (Annulus stapedialis) berührt auf eine
kurze Strecke die vorknorpelige periotische Kapsel.
Das Lumen des tubo-tympanalen Raumes erscheint in Form
eines spitzwinklig gebogenen Cylinders ; der Scheitel kommt nach
aussen und vorne zu liegen und zeigt in dieser Richtung eine
kurze Spitze (Ca. tu. ty.). Dieser Schnitt (Fig. 6) trifft den Hyoid-
bogen an zwei Stellen seines Verlaufes : nämlich unten, bevor er
ach nach oben und vorne wendet, dann wieder entsprechend
dem Annulus stapedialis. Das Zwischenstück kommt in den
fiHher beschriebenen, mehr lateralen Schnitten zum Vorschein.
Bei diesen Sagittalschnitten ist deutlich zu sehen, dass in
diesem Entwicklungsstadium die proximalen Enden der zwei ersten
Kiemenbogen durch eine Schichte von embryonalem indifferenten
Gewebe von einander getrennt sind.
Ans der bisherigen Schilderung der Präparate, welche auf
diese Entwicklungsphase, von mir als zweites Stadium be-
zeichnet, sich beziehen, ist folgendes ersichtlich:
L Echtes Enorpelgewebe ist noch nicht vorhanden, die
künftigen Skeletelemente sind, wie im vorher beschriebenen
Stadium, nur durch nicht deutlich begrenzte ZeUenanhäufungen
und Zellenstränge dargestellt.
n. Der Mandibularbogen erscheint in Form eines Zellen-
Stranges, welcher an seinem distalen Ende nur bis zu einer ge-
wissen Entfernung von der Mittellinie reicht, und endet frei
proximal mit einer unbegrenzten Anschwellung an der Seite des
(25)
36 Gradenigo.
SeMdels, dem vorderen Theile der Labyrintbblase entspreclieiid.
Er tritt weder zu der periotisclieii Kapsel, noch zn dem proximalen
Ende des zweiten Eiemenbogens in Beziehung.
m. Der Hyoidbogen erscheint in Form eines ZeUenstranges,
weicher ungefähr dieselbe Dicke als der Mandibularbogen aufweist.
Sein distales Ende geht nach vorne in unbegrenzte Zellenan-
häufungen über ; sein proximaler Abschnitt wendet sich zuerst ein
wenig nach aussen, dann biegt er sich nach oben, vorne und innen.
Das proximale Ende umgibt ein arterielles Oefäss (Arteria stape-
dialis), und bildet auf diese Weise einen vollständigen, aus dicht
aneinanderliegenden Zellen bestehenden Ring (Annulus stapedialis),
und tritt zuletzt zu der Anlage der periotischen Kapsel in Be-
ziehung.
IV. Die Arteria stapedialis stammt mittelst einem mit
der Arteria hyoidea gemeinsamen Aste von der Carotis ab.
V. Die vorknorpelige periotische Kapsel weist die grosste
Dicke entsprechend der lateralen Wand der Oehörblase auf.
Keine Spur von Labyrinthfenstem ist zu bemerken.
III. Stadium.
Das erste Auftreten des Enorpelgewebes, Ueber-
gangsstadium (Eatzenembryo 2 Cm.).
Die Skeletelemente sind theils durch die Ueberreste der vor-
knorpeligen Anlage, theils durch echtes Knorpelgewebe darge-
stellt. Von Embryonen, welche dieses Stadium der Entwicklung
dargeboten haben, habe ich zwei Reihen von Katzenembryonen
ungefähr 2 Cm. Scheitelsteisslänge *) und Schweinsembryonen 3
und 3^ 2 Cm. Scheitelsteisslänge untersaeht.
Eatzenembryo 2 Cm. Scheitelsteisslänge.
Charakteristische Merkmale. Die Eiemenbogen total
verwachsen. Netzhaut im Auge gefaltet. Nervus opticus misst an
seiner Insertionsstelle 0*20 Millimeter. An verschiedenen Skelet-
theilen ist das Enorpelgewebe gut ausgebildet: lateralwärts des
vorderen Abschnittes des Meckel'schen Enorpels ist schon eine
Enochenlamelle des Dentalis aufgetreten. Die Labyrinthkapsel
') Obwohl diese Katzenembryonen alle nngefälLr 2 Cm. lang waren, haben
einige von diesen etwas mehr vorgerückten Entwicklungsgrad gezeigt.
(26)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentang etc. 87
in ihrer hinteren Partie deutlich knorpelig; die Cochlea zeigt
mehr als 1^/j Windung; der Ductus endolymphaticus be-
sitzt an seinem Ende eine ausgesprochene Erweiterung (Frontal-
durehmesser 0*20 Mm.). Der Sinus petrosus superior, der
ihr nahe steht, hat ein Lumen yon 0*12 Mm. Das Lumen des
Canalis renniens superior ist bedeutend enger geworden
und misst jetzt circa 10 pi.
Topographie der Kopfgebilde. Gefässe. Die embryo-
nalen Kopfgebilde weisen schon eine bemerkenswerthe Umgestaltung
auf, so dass die hauptsächlichsten topographischen Verhältnisse
jenen, die sich beim erwachsenen Thiere vorfinden, ähnlich sind.
Darum, nnd aus diesem Grunde, weil uns die Behandlung des
Gegenstandes von dem Bereiche unserer Untersuchungen zu weit
fuhren würde, halte ich es für nicht angezeigt, in eine ausführ-
lichere topographische Darstellung einzugehen.
Ich kann jedoch nicht umhin, auf eine merkwürdige Yer-
Inderong in der Anordnung des Gefassverlaufes hinzuweisen.
Die Jugularis, die wir früher als ein verhältnissmässig
mächtiges Gefäss, an der Seite und hinter dem Facialis verlaufend,
kennen gelernt haben, ist jetzt fast gänzlich verschwunden (vergl.
Kg. 7 und 8).
An ihrer Stelle finden wir ein kleines Gefäss, welches sich
von unten herauf nur bis zur Höhe des ovalen Fensters verfolgen
lässt (Fig. 8 V).
Auch die Carotis hat in ihrem Verlaufe eine beträchtliche
Modification erlitten: Die weitere Ausbildung der Pars coch-
learis der Gehörkapsel hat die Carotis ganz nach vorne ge-
drängt; überdies hat sich ihr Lumen sehr verengert. Die Arteria
Stapedialis (Fig. 8, A. st.) zweigt sich direct von der Carotis
ab, deshalb weist sie eine beträchtliche Länge auf.
Skeletelemente. Histologische Beschaffenheit und
Terminologie. Bezüglich der Skeletelemente finden wir in
diesem Stadium die verschiedensten Entwickelungsstufen des
Knorpelgewebes vertreten, von den Zellenanhäufungen ange-
tuigen, welche in den vorhergehenden Stadien ausschliesslich
vorhanden waren, bis zu dem ausgebildeten Knorpelgewebe.
Dieses Stadium, wo schon Knorpel eintritt und die vorknorpelige
(27)
88 Gradenigo.
Anlage noch nicht vollkommen ist, wnrde von mir auch als
Uebergangsstadinm bezeichnet.
Ans der verschiedenen Anordnung der Zellen nnd der ver-
schiedenen Intensität der Färbung mittelst Hämatoxylin sind wir
im Stande, ein hinreichend genaues und wohl schätzenswerthes
Kriterium über die Zeit der Entwicklung der einzelnen Skelet-
theile zu gewinnen.
Wir können drei verschiedene Entwicklungsphasen des
Knorpelgewebes unterscheiden, obwohl die ganze Reihe der
Zwischenstadien beobachtet werden kann.
1. Gewebe vollkommen identisch den Zellenanhäufungen,
welche die Skeletelemente bei den Embryonen der früheren zwei
Stadien darstellt. Zellen klein. Kern relativ gross oder kömiger
Inhalt, geringe Menge von Protoplasma ; Intercellularsubstanz gering
oder auch nicht wahrnehmbar. — Die Zellen sind dicht aneinander
gedrängt. — Die Zellsubstanz sticht durch intensivere Färbung
von dem umgebenden Gewebe deutlich ab. — Die Bezeichnung
vorknorpeliges wird ftir dieses Gewebe auch im Nachfolgenden
beibehalten werden.
2. Zellen grösser, Protoplasma reichlicher; Intercellular-
substanz in geringem Maasse schon aufgetreten; sie färbt sich
noch mit Hämatoxylin, jedoch weniger als die Zellkerne. Das
Knorpelgewebe dieser Entwicklungsphase sei als unreifer
Knorpel bezeichnet-
3. Das Gewebe bietet das Aussehen eines ausgebildeten
Knorpels: Zellen gross und mit deutlich ausgesprochener Kapsel,
Intercellularsubstanz reichlich vorbanden, von hyaliner Beschaffen-
heit und sich mit Hämatoxylin kaum färbend. Obschon dieses
Gewebe durch eine besondere Grenzschichte in das umgebende
indifferente Gewebe übergeht, und relativ reich an Zellen ist, halte
ich es fdr zweckmässig, die Bezeichnung „reifer Knorpel' zu
wählen, mit Rücksichtnahme auf die zwei vorausgehenden Phasen.
Durch die Messung der Grösse der Zellen und ihrer wechsel-
seitigen Entfernung, wollte ich oft versuchen, einen Anhaltspunkt
ausfindig zu machen, um die verschiedenen Reifegrade des Knorpel-
gewebes feststellen zu können.
(28)
Die embryonale Anlage des Mittelolires : die morphologische Bedentnng etc. 89
Da aber an einer bestimmten Stelle eines and desselben
Gewebes, sowohl die Grösse der Zellen als anch deren Entfernung
Yoneiiiander verschieden sind (was aach ans dem interstitieUen
Wachsthnm des Knorpels voransznsehen war), so scheint es ge-
eignet und viel sicherer, als Classificationscriterium den Färbnngs-
grad und das von dem Gewebe dargebotene Aassehen festzustellen.
Ich will eigentlich betonen, dass der Hauptunterschied zwischen
der Yorknorpeligen Anlage und dem Knorpel in dem Vor-
handensein der Intercellularsubstanz und zwischen dem unreifen
und dem reifen Knorpel in dem Verhalten der Intercellularsubstanz
geg^i Hämatoxylin besteht.
Wenn der unreife Knorpel sich zu zeigen beginnt, sind ge-
wohnlich die einzelnen Skeletabschnitte den künftigen Gelenken
entsprechend voneinander getrennt.
Diese Abschnitte sind in ihrem ganzen Umfange von einer
Sehichte von Zellen umgeben, die einen allmäligen Uebergang
von den wahren Knorpelzellen zu den embryonalen Bindegewebs-
zeDen darstellen.
Die Intercellularsubstanz wird gegen die Peripherie spärlich,
und nimmt eine stärkere Färbung an (Fig. 11, St. L); das Zellen-
prDtoplasma nimmt ab, die Zellen werden mehr oval bis Spindel-
fönnig, ordnen sich in parallelen Reihen an, und erhalten zuletzt
das Aassehen der eigentlichen embryonalen Bindgewebszellen.
Diese Uebergangzone ist breiter bei den von mir als Un-
reif bezeichneten Knorpeln; mit dem Reifi^erden des Knorpel-
gewebes nimmt sie in ihrer Dicke ab, und die sie zusammensetzenden
Zellen werden länglich, spindelförmig (die Anlage des Perichondrium) .
Die Uebergangzone wird von mir als Grenzschichte bezeichnet
werden.
Wichtige Veränderungen sind in dieser Entwicklnngsperiode
aueh in dem GewebC; welches die Skeletelemente umgibt, auf-
getreten.
Lateralwärts von dem vordersten Theil des mandibularen
Knorpels, ist auf eine kurze Strecke eine knöcherne Lamelle, die
Anlage der Mandibula (Unterkiefer, Os dentale) zu sehen. Sie
iit ans direcler Umwandlung des mesoblastisohen Gewebes ent-
flfainden (Deckknochen).
(29)
90 Gradenigo.
Das interstitielle Gewebe ist in Be^iflF faserig zu werden.
Periotische Kapsel. Während die Skeletelemente der
Schädelbasis schon den Charakter des reifen EuQorpels ange-
nommen haben, müssen wir indessen bei der periotischen Kapsel
die vordere untere Partie (Pars cochlearis) von der hinteren
oberen (Pars canalinm semicircularium) streng unterscheiden. —
Während diese letztere echt knorpelig aussieht, ist das Gewebe
an dem vorderen Theil in seiner Entwicklung bedeutend zurück-
geblieben und bietet das Aussehen eines unreifen Knorpels. Die
Grenzen der Knorpellamelle, welche die Cochlea in sich aufnimmt,
sind an der tympanalen Seite ziemlich deutlich zu erkennen. —
An der Labyrinthseite indessen gehen sie allmälig in das Gewebe
über, welches den Canalis cochlearis umgibt.
An einer bestimmten Stelle sogar ist die cochleare Kapsel
noch nicht knorpelig geworden, nämlich die Intercellularsubstanz
ist so spärlich vorhanden, dass das Gewebe als ein Zwischenstadium
zwischen der vorknorpeligen Skeletanlage und dem unreifen Knorpel
angesehen werden könnte. Diese Stelle entspricht der Gegend
der künftigen ovalen Fenster, nimmt auch das Promontorium und
gegen unten zu die ganze laterale vordere Partie der Kapsel
ein, indem allmälig die übrige knorpelige cochleare Lamelle in
die Kapsel übergeht. — Gegen oben und hinten zu kann man
indessen ein ganz bestimmtes Baphe bemerken, welches auf die
Grenze zwischen dem capsularen Theile der Schnecke und dem-
jenigen der Bogengänge hindeutet.
Bei diesem Stadium der Entwicklung ist also keine Spar
des runden Fensters zu sehen ; die noch nicht knorpelige Anlage
der cochlearen Lamelle zieht continuirlich an dieser Stelle vorüber.
Dem ovalen Fenster entsprechend, erscheint das Gewebe
bei einer ersten Reihe von Embryonen von Katzen 2 Ctm. durch
das Anlegen des medialen Randes des Annulus stapedialis
gegen das Labyrinth zu einfach hineingedrängt. Bei der zweiten
Reihe von Embryonen, mehr in der Entwicklung vorgerichtet,
diflferenzirt sich die Stelle der capsularen Wand, welche den me-
dialen Rand des Annulus stapedialis in sich aufnimmt, rund-
herum von den übrigen Theilen der periotischen Kapsel, und
bildet eine Platte, mit einer Concavität, welche dem medialen
(30)
Dia embryonale Anlage des lOttelohres : die morphologiache Bedeutung etc. 9 1
Sande des hier anliegenden Ringes entspricht (Lamina stape-
dialis, Fig. 7 n. Fig. 8, L. st.). In jener Lamelle, wo die Zellen
in fa8t concentrischer Reihe zu dem Ringe selbst angeordnet er-
seheioen and die Intercellolarsubstanz noch nicht deutlich zu
beobachten ist, können auch bei schwacher Vergrösserung zwei
Schichten unterschieden werden : die eine tympanale, weniger
gefärbt und mit dem Ringe in Gontact tretend ; die andere laby-
rinthische intensiver gefärbt, und einen Theil der inneren
Oberflache der Kapsel darstellend.
Die tympanale Schichte verdankt ihre schwache Färbung
der geringeren Färbung ihrer Eemfiguren. Die Differenzirung der
Lamina stapedialis von der übrigen Wand der Kapsel er-
scheint in diesem Entwicklungsstadium von der Anordnung der
Zellen bedingt.
Skeletelemente der Kiemenbogen. Auch in den
Skeletelementen der zwei ersten Kiemenbogen sind in diesem Ent-
wicklungsstadiam wichtige Veränderungen eingetreten.
Handibularbogen. Der Mandibularbogen bietet durch
eine grosse Strecke hin das Aussehen des reifen Knorpelgewebes.
— Seme vorderen Abschnitte bilden eine schwache, gegen unten
convexe Krümmung, und werden lateralwärts von einer Knochen-
lameDe begleitet. Diese Knochenlamelle, die Anlage des Unter-
kiefers (Dentalis), liegt in derselben Höhe, aber in einer gewissen
Entfernung von dem MeckeTschen Knorpel fast concentrisch zu
diesem Knorpel gekrümmt. Zwischen dieser Lamelle und dem
Meck ersehen Knorpel liegt ein Nervenstrang: der Ramus
alveolaris des 5. Paares; gegen hinten zu, ungefähr in der
Hohe des GangliumGasseri^ hört dieser Knochen gänzlich auf.
Die distalen Enden des mandibularen Bogens kommen auf
der Medianlinie mit einander in Berührung ; sie wenden sich
dann von einander ab, um bald in eine Anhäufung von ge-
erbten Zellen überzugehen.
Das proximale Ende des knorpeligen Bogens schwillt nach
ussen an einer Stelle an, welche dem vorderen Theil der Labyrinth-
bbee entspricht, setzt sich nach hinten in eine Gewebsmasse,
welehe an ihren verschiedenen Stellen verschiedene Entwick-
hogsgrade darbietet, fort. In einem solchen Gewebe lassen sich
(81)
92 Gradenigo.
schon die Formen des Hammers und des Ambosses erkennen. Der
Hammer- nnd Amboskörper sind knorpelig, und von einander schon
zum Theile, durch die betreffende Grenzschichte, den künftigen
Gelenkoberflächen entsprechend getrennt. Der Knorpel des Hammer-
körpers zeigt dieselbe Eutwicklungsphase wie der MeckeFsche
Knorpel.
Das Gewebe des Amboskörpers hat indessen ein etwas mehr
junges Aussehen.
Der obere Abschnitt des Hammergriffes und des langen
Ambosschenkels und der grösste Theil des Processus brevis
des Ambosses sind nur durch die vorknorpelige Anlage, d. i.
einfache Zellenanhäufungen dargestellt.
Selbstverständlich finden sich in allen diesen Theilen eine
ganze Reihe von Zwischenstufen der Entwicklung. In Betreff der
Form der in Bede stehenden Knöchelchen bei solchen 2 Cm.
langen Embryonen halte ich es für nicht angezeigt, mich in
nähere Details einzulassen, denn schon in diesem Stadium be-
ginnen die morphologischen Charaktere des erwachsenen Indivi-
duums sich geltend zu machen.
Hyoidbogen. Der knorpelige Hyoidbogen als Product
aus dem zweiten Kiemenbogen ist in seiner Entwicklung weit
hinter dem Mandibularbogen zurückgeblieben. Nicht nur sein Ge-
webe sieht als unreifer Knorpel aus , sondern auch seine Dicke,
die im vorhergehenden Stadium gleich jener des Mandibular-
bogens war, beträgt jetzt nur die Hälfte dieses letzteren.
Ueberdies ist er nicht in seiner ganzen Ausdehnung knor-
pelig geworden.
Der unmittelbar unterhalb des Annulus stapedialis
gelegene Theil hat die histologischen Charaktere der vorknorpe-
ligen Anlage beibehalten.
Vorne vereinigen sich mit dem Körper des Os hyoideum
(B a s i - h y a 1 i s) die leicht angeschwollenen distalen Enden. Indem
der knorpelige Bogen nach hinten zieht, verschmälert er sich in
seinem Mitteltheile, wendet sich, wie im vorigen Stadium, zuerst
ein wenig gegen aussen, dann gegen oben, vorne und medial-
wärts, verliert aber die knorpelige Beschaffenheit bevor' er —
ungefähr 008 Mm. von der Ursprungsstelle aus dem Facialisstamm
(88)
Die embryonale Anlage des Mitielohres : die morphologische Bedeutung eto. 93
der Chorda tympani — direct vor dem siebenten Nerv zu liegen
kommt.
In diesem Stadium liegt das knorpelige Ende des hyoidalen
Bogens circa 0*45 Mm. von dem lateralen Ende des Annulu»
stapedialis entfernt.
Das knorpelige Endstück verlängert sich nach oben zu in
Form eines Zellenstranges, der sich durch eine Verbreiterung mit
dem lateralen Rande des stapedialen Ringes und unteren Ende
des Processus longus des Ambosses in Verbindung setzt
(Fig. 8, Hy.). Im Verlaufe dieses Stranges sind auf einer kleinen
•Strecke hin die ihn zusammensetzenden Zellen weniger durch
Hämatoxylin gefärbt und weniger dicht aneinander gedrängt, so
dass es den Anschein hat, als ob sie sich mit den Zellen des
umgebenden Gewebes vermischen würden.
Annulus stapedialis. Der Stapedialring , welcher da-
durch nicht mehr in directer Beziehung zu dem Hyoidbogen
steht, ist schon in inniges Verhältniss mit den Derivaten des
ersten Bogens, und zwar mit dem gegen unten zu hingewachsenen
langen Ambosschenkel , getreten. Das Gewebe des Ringes hat
das Aussehen eines unreifen Knorpels (Fig. 7, An. st.). In Folge
des Schwindens der Vena Jugularis, die im früheren Stadium den
Ring hinten begrenzt hatte (vergl. Fig. 4, V. Ju. und Fig. 8, V. Ju.),
und wegen des Wachsthums nach vorne der Labyrinthblase, er-
schemt der Annulus stapedialis gegen hinten gerückt. Die
Entfernung seines hinteren Randes von der vorderen Wand der
knorpeligen Kapsel des äusseren Bogenganges beträgt jetzt nur
0-20 (vergl. Fig. 4 und Fig. 7).
Wie in dem vorigen Stadium, ist der Ring derart geneigt,
dass der hintere und laterale Rand am tiefsten zu liegen konunt.
Die Arteria stapedialis, welche durch den Ring hindurch-
geht (vergl. Fig. 8), ist viel dünner geworden, und kaiin nur eine
kurze Strecke über den Ring verfolgt werden.
Der lange Ambosschenkel befindet sich mit seinem knorpe-
ligen Ende in einer gewissen Entfernung von dem lateralen Rand
des Ringes, mit der noch nicht knorpelig gewordenen Spitze schon
nit diesem Rande in Berührung.
Ved. Jahrbücher. 1M7. 3 (88)
94 Gradenigo.
Der mediale Band des Ringes ist an der periotischen Kapsel
nicht mehr einfach anliegend, er hat sich vielmehr zum grössten
Theile in das Gewebe hineinvertieft. Anch bei diesem einge-
drungenen Theile treten die Gontouren durch das Vorhandensein
der sogenannten Grenzschichte deutlich hervor (Fig. 7 und 8,
An. St.).
Schweinsembryonen, Die von mir untersuchten Schweins-
•embryonen, 3 und SVb Cm. Scheitelsteisslänge, entsprechen einer
etwas weiter vorgerückten Entwicklungsstufe. Das Kjiorpelgewebe
bietet überall ein ziemlich reifes Aussehen dar ; das Bindegewebe
ist schon faserig geworden. Durch die vorknorpelige Anlage ist
nur das Stück des Hyoidbogens unmittelbar unterhalb des Stape-
dialringes und die äusserste Spitze des langen Ambosschenkels
dargestellt. Die ganze periotische Kapsel ist schon knorpelig ge-
worden ; die Lamina stapedialis ist rund herum differenzirt.
Das runde Fenster erscheint relativ sehr breit; zwischen seinen
Rändern , deren der untere nicht so deutlich als der obere
begrenzt ist, ist keine Spur einer Anlage der entsprechenden
Membrana zu sehen.
Aus der bisherigen Schilderung der Präparate, welche auf
Eatzenembryonen, 2 Gm. Scheitelsteisslänge und Schweinsembryonen,
3 und 3^/s Gm. Scheitelsteisslänge (UL Entwicklungsstadium), sich
beziehen, ist folgendes ersichtlich:
I. Die Skeletelemente sind in diesem Stadium:
aj theils von einfachen ZeUenanhäufnngen (vorknorpeUge Anlage),
b) theils von echtem Enorpelgewebe dargestellt. Der Deckknoclien,
welcher den Unterkiefer darstellt, ist schon erschienen.
H. Das Enorpelgewebe, welches die meisten Skeletelemente
Tertritt, wird durch das Vorhandensein einer Intercellularsubstanz
charakterisirt. Nach dem Reichthum an Intercellularsubstanz kann
man einen unreifen Knorpel, welcher an die vorknorpeligen
ZeUenanhäufungen durch seine histologische Beschaffenheit erinnert,
nnd einen reifenKnorpel unterscheiden. Von der vorknorpeligen
Anlage bis zum reifen Enorpelgewebe ist ein aUmäliger üebergang
zu bemerken.
m. Die periotische Kapsel bietet in ihrer hinteren
oberen Partie (Pars canalium semicircularium) das Aus-
(34)
Die embryonale Anlage des Mittelolures : die morphologische Bedeutung etc. 95
sehen tob ziemlicli reifem Enorpelgewebe ; ihre vordere untere
Partie (Pars coohlearis et vestlbnlaris) ist noch nicht
knorpelig geworden«
IV. Die Stelle der Labyrinthkapsel, an welcher der mediale
Band dw Stapedialringes (Annnlns stapedialis) anliegt,
düferenzirt sicli später rund hemm dnrch die Anordnung der sie
zusammensetzenden Zellen von der übrigen Wand, und bildet somit
eine noeli nieht knorpelige Lamelle, welche den obgenannten Rand
in sicIi aufninimt (Lamina stapedialis). In diesem Entwick-
lungsstadium ist auch das breite runde Fenster zu sehen.
V. Der Mandibularbogen ist in Form eines knorpeligen
Cylinders vorhanden; die distalen Enden stossen in der Mittel-
linie zusammen ; aus den proximalen Extremitäten entwickeln sich
Hammer und Ambos, noch nicht ganz getrennt. Der Hammergriff
und die beiden Ambosfortsätze sind noch nicht knorpelig geworden.
YL Der Hyoidbogen ist dünner als der Mandibulare; das
distale Ende ist in Beziehung mit dem Os hyoideum getreten.
Ein Stuck, unmittelbar unterhalb dem proximalen Ende, ist noch
immer durch einen ZeUenstrang vertreten. Das proximale Ende
büdet den stapedialen Ring (Annulus stapedialis), welcher
in das Ctowebe der Lamina stapedialis hinein vertieft erscheint.
YIL Die Topographie der Eopfgebilde ist nunmehr der Topo-
grapUe des erwachsenen Thieres ähnlich; die bereits sehr dünn
gewordene Arteria stapedialis stammt jetzt unterhalb dem
vorderen Theile der periotischen Kapsel, direct von der Carotis ab.
IV. Stadium.
Die knorpeligen Skeletelemente. (Menschliche
Embryonen.)
Die Skeletelemente der Eiemenbogen und der
periotischen Kapsel sind alle von Knorpelgewebe
dargestellt; die Verknöcherung dieser Elemente
ist noch nicht aufgetreten, ausgenommen am di-
stalen Ende des Mandibularbogens.
Bei den Katzenembryonen haben wir die allerersten Anlagen
der Grehörknöchelchen untersucht, und constatirt^ dass Hammer
imd Ambos aus dem ersten Kiemenbogen, der Stapedialring aus
8* (M)
96 Gradenigo.
dem zweiten, die Lamina stapedialis aus der Labyrinthwand
hervorgehen.
Für das Stadium der vollständigen Verknorpelung dieser
Theile ist es viel geeigneter, sich menschlicher Embryonen zu
bedienen, weil der morphologische, für das erwachsene Individuum
charakteristische Typus der Gehörknöchelchen schon aufzutreten
beginnt.
In dieser Beziehung sind die Vergleiche, welche sich zwischen
Embryonen verschiedener Thierspecies (Schwein, Kaninchen, Hunde
und Mäuse) anstellen lassen, sehr lehrreich zur Unterscheidung der
allgemeinen Entwicklungsvorgänge von den speciellen bei den
Thieren einer und derselben Gattung. Für das Studium dieses
Entwicklungsstadiums habe ich eine Reihe von menschlichen Em-
bryonen (4, 4Va? 5, 7Va? 8, 10), dann Schwein-, Kaninchen- und
Mäuseembryonen angewendet.
Menschliche Embryonen 4 und 4V2Cm. Scheitel-
Steiss-Länge.
Die jüngsten von mir untersuchten menschlichen Embryonen
waren 4 und 4V2 Cm. lang.
Obwohl der eine etwas mehr als der andere in der Entwicklung
vorgerückt war, sind überhaupt keine merkbaren Verschiedenheiten
in dem Aussehen der einzelnen Skelettheile zu constatiren; und
nur die Lamina stapedialis weist ein verschiedenes Verhalten
in beiden Embryonen.
Charakteristische Merkmale. Im Auge sind schon
die Stäbchen der Netzhaut deutlich zu erkennen. Der Ductus
cochlearis hat schon seine Windungen vollbracht ; er erscheint
jedoch immer in Form eines einfachen Schlauches, und seine
Epithelschichte ist an der gegen das Gehirn zu gewandten Wand
am dicksten. Keine Spur von Knorpelgewebe an der Stelle des
künftigen Modiolus. Der Sacculus misst in seinem grössten
verticalen Durchmesser 0*40 Mm., der Canalis reuniens Henseni
0*05 Mm., wovon 0'02 auf die mediale, O'Ol auf die laterale
Wand, und 0*02 auf die Höhlung fallen. — Verknöcherungs-
punkte des primordialen Skeletes sind schon imSphoenoideum
posterius und Basi occipitale zu sehen. Die meisten Deck-
knochen sind schon aufgetreten.
(86)
Di« embryonale Anlage des Mittelohrea : die morphologische Bedentnng etc. 97
Histologische Beschaffenheit. Das Gewebe der
Kiemenbogen und der periotischen Kapsel bietet fast überall das
Aussehen des reifen Knorpels. Die Intercellularsubstanz ist
reichlich vorhanden ; die Zellen sind gross und lassen eine deutliche
Kapsel um sie erkennen. Als Grenzschichte des Knorpels finden
wir jetzt keine Uebergangszone von Knorpelzellen zu Bindegewebs-
lellen mehr, sondern eine faserige Schichte mit spindelförmigen
Zellen, die eigentliche Anlage des Perichondriums. Das Bindegewebe
ist auch faserig geworden ; seine Zellen jedoch sind immer rundlich
imd mit kurzen Fortsätzen yersehen.
Die Nervenfasern sind in diesem Stadium schwer von der
fiiserigen Grundsubstanz zu unterscheiden.
Die Muskelfasern lassen sich durch regelmässige Streifen
nnd Ziellenreihen und durch ihre rothe Färbung (Eosin) erkennen.
Die intensiv roth mit Eosin gefärbten Deckknochen treten
auf dem mit Hämatoxylinblau gefärbten Felde sehr scharf hervor ;
auch mit schwacher Vergrössernng können ihre topographischen
Verhältnisse ohne Schwierigkeit durch die Reihe der Schnitte
verfolgt werden.
Die Deckknochen welche sich sehr oft in Beziehung zu
einem bestimmten Knorpelstück bringen lassen, erscheinen zuerst
in Form einer Lamelle, inmitten des mesodermatischen Gewebes,
und in einer gewissen Entfernung von dem betrefifenden Knorpel.
Die knöeherne Lamelle ist in der Regel gekrümmt und weist in
den meisten Fällen eine der convexen Fläche des Knorpels zu-
gewendete Concavität auf. Die Zellen des Bindegewebes, welche
sich zu Osteoblasten umwandeln, zeigen zuerst um sie herum einen
lichteren Saum, sind wenig aneinander gedrängt, verlieren ihre
Fortsatze und werden allmälig in einer eosinophylen Intercellular-
substanz eingebettet.
Periotische Kapsel. Die in diesem Stadium ganz
knorpelig gewordene periotische Kapsel, zeigt an ihrer lateralen
Wand die zwei Labyrinthfenster, und an ihrer medialen Wand
eine grosse Lücke, den künftigen D u c t u s acusticus internus.
Die periotische Kapsel ragt auf einer gewissen Strecke nach
Tome ganz frei mit ihrem rundlichen vorderen Ende hervor ; gegen
hinten za verschmilzt die mediale Wand mit den Sphoenoideum
(87)
98 Gradenigo.
a D t e r i n s , und noch weiter hinten verschmilzt der untere Abschnitt
dieser Wand mit dem Sphoenoidenm posterius und occi-
p i t a 1 e. Spuren einer Raphe sind an den letzteren Verschmelzungs-
stellen zu bemerken.
Die Kapsel kann als aus einem vorderen und unteren, welcher
die häutige Cochlea und den Sacculus aufnimmt (Pars cochlearis),
und einem hinteren Theil, welcher die Bogengänge einschliesst
(Pars canalium semicircularium) , zusammengesetzt betrachtet
werden.
Der vordere Theil ist eine ovale Schale mit dem in verticaler
Richtung etwas schief nach innen gerichteten grössten Durchmesser,
und wird aus einer knorpeligen ziemlich gleich dicken Lamelle
gebildet, welche den grössten Theil des Ductus cochlearis, die
Ganglien und die Faser des Nervus cochlearis, alles in em*
bryonalem Bindegewebe eingebettet, aufninmit.
Der viel massivere hintere Theil stellt bereits eine
Ejiorpelmasse dar, in welcher die respectiven Bogengänge ein-
gebettet erscheinen. Seine Gestalt wird durch das Vorhandensein
eines knorpeligen Fortsatzes unregelmässig, welcher von dem
hinteren oberen Abschnitte der lateralen Oberfläche abgeht, sich
lateralwärts hinstreckt, indem er in einer Art Rinne den kurzen
Ambosschenkelaufhimmt(Processusperioticusposterior^).
Der vordere Theil der periotischen Kapsel ist seinerseits
mittelst einer knorpeligen Lamelle in einem oberen grösseren
Abschnitte, welcher den grössten Theil des spiralförmigen Ductus
^) Nach Beobachtungen, welche hauptsächlich anf spätere Entwicklnngs-
stadien sich beziehen, nnd über deren Ergebnisse ich mir in einer anderen
Arbeit ansfährlich zn sprechen vorbehalte, wären drei knorpelige Fort-
sätze zn unterscheiden, welche ans der lateralen Wand der periotischen Kapsel
gegen das künftige Mittelohr zn wachsen; nämlich:
1. Processns perioticns superior, welcher nebst einer knöchernen
LameUe des Os sqnamosnm znr Bildung des sogenannten Tegmen tympan i
beiträgt.
2. Processns perioticns posterior, welcher mit dem Beichert-
sehen Knorpel zuerst in faserige Verbindung tritt, dann mit letzterem knorpelig
yerschmilzt (Processus styloideus Politzer).
3. Processus perioticns inferior, welcher sich zuletzt entwickelt,
und theilweise den Boden der Paukenhöhle bildet.
(88)
Die eml)ryoiiale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeatung etc. 99
eoehleariB anfiiimmt (eigentliche Pars cochlearis), und
einem kleineren unteren-hinteren , welcher den Saccalus und da»
AaÜEUigsstück der coehlearen Basalwindang in sich aufnimmt (Par&
vestibiilaris), gesondert.
Solche Lamelle weist eine, derjenigen des Ductus coch-
learis ähnliche, Entwicklungsart auf.
Wie bekannt, entwickelt sich der Ductus cochlearis,
während er gegen hinten in Verbindung mit dem Sacculus mittelst
dem Canalis reuniens inferior bleibt, direct nach vorne sich
auf einer gewissen Länge hinstreckend, um sich später gegen
oben, aussen und hinten imizubiegen, und somit seine Spiral-
Windungen anzufangen. — Die knorpelige Lamelle des Cochlearis-
tfaeiles, welche die Windungen an der tympanalen Seite begrenzt^
ist mit der übrigen Kapsel gegen hinten und unten nicht ver-
sehmolzen, sondern erscheint, entsprechend dem Zwischenräume,
welcher zwischen den höheren Spiralwindungen und dem Sacculu»
sammt dem Anfangsstticke der Basalwindung sich befindet, nach
vorne und oben fast hineingebogen. Die in Rede stehende Lamelle
setzt sieh dann in einer vorspringenden Linie fort, welche, spiral-
förmig ans der inneren Wand der Kapsel abgehend, die einzelnen
Windungen des Ductus cochlearis trennt. Diese Linie nimmt
alhnälig an seiner Höhe ab, je mehr sie sich dem oberen Thei)
der Cochlea nähert.
Bei den obgenannten menschlichen Embiyonen ist zwischen
der zweiten und dritten Windung kaum eine Spur dieser vor-
springenden Linie zu sehen. An der Stelle, wo die äussere Wand
sich g^en das Innere der Cochlea umwendet, befindet sich zwischen
derselben und dem übrigen Theil der Kapsel eine deutliche
Raphe.
Es bleibt somit eine den häutigen Sacculus und das Anfangs-
stück der Basalwindung enthaltende Höhle, welche weder nach
vorne, noch nach hinten geschlossen ist, da der Sacculus mittelst
dem Canalis reuniens inferior mit dem Ductus coch-
learis nnd mittelst dem Canalis reuniens superior mit
dem Utricnlus (Alveus communis canalium semicir-
enJariam) in Verbindung steht. Diese Höhle stellt die vestibuläre
Höhle dar.
(39)
100 Crradenigo.
Es ist wichtig,' die Gegenwart der begehriebenen Raphe
zwischen dem hinteren unteren Theil der cochlearen Lamelle und
dem oberen vorderen der yestibularen zu constatiren. Bei den
Frontalschnitten erscheint diese unmittelbar oberhalb des ovalen
Fensters, und könnte daher mit der oberen Differenzirungslinie
der Lamina stapedialis verwechselt werden. In der Fig. 10
z. B. ist die Raphe mit dem Buchstaben J?, die obere Peripherie
der Lamina stapedialis mit A bezeichnet.
Ovales Fenster. — Lamina und Annulus stape-
dialis. (Menschl. Embryonen 4 Cm. Vergl. Fig. 9 und 10).
Die Stelle der capsularen Wand, an welcher der Stapedialring
anliegt, beginnt nur gegen oben und hinten zu von dem übrigen
Theil der Wand sich zu diflferenziren , und eine solche Differen-
yjrung scheint wesentlich durch das Hineindringen von faserigen
Elementen, besonders von der tympanalen Seite her, unterstützt zu
werden. Die Differenzirung ist nur an der oberen hinteren Peripherie
der Lamina zu sehen; weiter nach vorne kann man blos eine
Anordnung der Knorpelzellen in parallelen, dem Rande des
Annulus stapedialis concentrischen Reihen, beobachten.
Der in seiner ganzen Umrandung scharf begrenzte Annulus
stapedialis hat sich in die Lamina um beiläufig die Hälfte
der Dicke seines medialen Randes hineinvertieft. Der Ring ist
in ähnlicher Weise zu dem, was wir bei Katzenembryonen con-
statirt haben, schief gerichtet, so dass sein hinterer äusserer Rand
am tiefsten zu liegen kommt.
üeberreste der A. stapedialis sind noch zu sehen.
Diese Verhältnisse sind aus der Fig. 9 und 10 zu sehen.
Fig. 9 stellt einen frontalen Schnitt dar, der hinter dem
langen Ambosschenkel geführt wurde, und das Lumen des An-
nulus stapedialis getroffen hat. Der laterale und der mediale
Rand des Ringes weisen eine ziemlich gleiche Dicke auf. Die
Stelle der Labyrinthwand, an welcher der Stapedialring anliegt,
zeigt noch nicht eine DiflFerenzirung von dem übrigen Gewebe;
die Raphe, welche nach oben zu in der Figur zu sehen ist, ent-
spricht den Grenzen zwischen der vestibulären Lamelle und der
Partie der periotischen Kapsel, welche die Bogengänge umschliesst.
Ausser dem engen Vas perforans (Arteria stapedialis), findet
(40)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. JQ 1
man ein Stückchen des Mnscnlas stapedialis (M. st.), den hinteren
periotischen Fortsatz (Pr. per.), den Sacculus (Sacc.), den Ductus
cochlearis (D. coch.), das runde Fenster (Fen. r.) u. s. w.
Bei Fig. 10, die einen frontalen Schnitt hinter dem soeben
beschriebenen darstellt, ist der Ring in der Nähe seines hinteren
Schenkels getroffen; dabei bemerken wir oben, neben der be-
schriebenen Begrenzungslinie zwischen der vestibulären und der
cochlearen Partie (R.), die Differenzirung der oberen Peripherie
der Lamina stapedialis.
Wenn wir bei starker Vergrösserung den an der vestibulären
Wand anliegenden Theil des Annulus untersuchen (Fig. 11), finden
wir sein Gewebe aus kleinen, intensiv gefärbten Zellen gebildet
nnd die Intercellularsubstanz ziemlich reichlich vorhanden. Die
Grenzschichte des Annulus (St. 1.) pflanzt sich auch zwischen
Annulus und Lamina fort. Die Stelle der Kapselwand, an
welcher der Ring anliegt, zeigt relativ grosse, schwach gefärbte,
nnd mit kleinem geschrumpften Kern versehene Zellen, die fast
concentrisch zu der Berührungsfläche in Reihen angeordnet sind,
und an der tympanalen Seite keine Grenzschichte aufweisen. Das
Bindegewebe zeigt sowohl an der tympanalen als auch an der
labyrinthischen Seite eine echt faserige Beschaffenheit.
Entsprechend dem hinteren Rande des Ringes, dringen diese
Bindegewebsfasern von der tympanalen Seite her in das Knorpel-
gewebe der capsnlaren Wand und beginnen so an dieser Stelle
die künftige Lamina stapedialis zu begrenzen.
BeidemEmbryo 4^2 Cm. Scheitel-Steiss-Länge ,
ist die Lamina stapedialis rund herum deutlich differenzirt; die
beschriebene Raphe ist noch deutlich vorhanden.
Rundes Fenster. Das runde Fenster ist schon deutlich
rund herum mit knorpeligen Rändern begrenzt. Das Promontorium
endet g^en unten zu mit einer convexen Oberfläche (Fig. 9, Pr.),
und vom inneren Rande dieser Oberfläche geht die Anlage der
Membrana tympani secundaria ab, und heftet sich dem
inneren Rande des gegenüberliegenden Abschnittes der Kapsel
an. Die Anlage der Membrana wird von intensiver gefärbten,
spindelförmigen oder länglichen in longitudinalen Reihen ange-
ordneten Zellen zusammengesetzt, welche als von der Verlängerung
(41)
102 Gradenigo.
und der Verschmelznng des Perichondriums der inneren und äasseren
Oberfläche der capsularen Wand gebildet betrachtet werden dürften.
Während jedoch an der tympanalen Seite die die obge-
nannte Anlage zusammensetzenden Zellen allmälig in die Zellen
des Bindegewebes, welches noch den betreffenden Abschnitt der
tympanalen Höhle besetzt, übergehen, scheint hingegen an der
vestibnlaren Seite die Membrana genau begrenzt, da schon
hierbei ein Resorptionsprocess angefangen hat. Das Bindegewebe
der vestibulären Höhle ist grösstentheils gegen hinten zu um das
Anfangsstück des Ductus cochlearis und den Sacculus
(Fig. 10, Sac.) verschwunden ; die Resorption reicht bereits nach
hinten bis zur vorderen Wand des Utriculns.
Mandibularbogen. In diesem Entwicklungsstadium
können wir bereits den vorderen grösseren Abschnitt des Mandi-
bular bogens als M ecke Fschen Knorpel, und das proximale Endstück
als Hammer und Ambos bezeichnen.
Der MeckeFsche Knorpel erscheint in Form eines
knorpeligen Stabes, dessen Durchmesser, welcher ziemlich constant
in den einzelnen Abschnitten bleibt, durchschnittlich 0*50 Mm. misst
Die distalen Enden vereinigen sich in der Mittellinie und lassen
zwischen sich eine Raphe deatlich erkennen. Der knorpelige Stab
steigt nach hinten zu, indem er sich etwas medialwärts umbiegt. Das
proximale Ende des M e c k e Tschen Knorpels geht in den Hammer-
körper über, und entspricht dem medialen Abschnitte des letzteren.
Hammer. Der Hammer bietet schon die Form des Hammers
eines erwachsenen Menschen dar; bei selbem sind bereits die
Andeutungen des kurzen und des musculären Fortsatzes zu erkennen.
Der Hammer ist von vorne, oben und aussen nach hinten,
unten und innen gerichtet. Der verhältnissmässig dicke Griff
erscheint concav gegen vorne; durch die schiefe Lage des ge-
sammten Knöchelchen tritt das stumpfe Griffende mit der gegen-
überliegenden Wand der periotischen Kapsel in Berührung.
Die wichtigen Beziehungen, in welchen der Hammer zu
dem tnbo-tympanalen Räume gelangt, werden später, — bei Ge-
legenheit von der Darstellung der Entwicklungsweise dieses Raumes,
— ausführlich besprochen werden. Hier glaube ich nur erwähnen
zu dürfen, dass die ganze Partie des Knöchelchen, welche oberhalb
(42)
Di« embryonale Aiilage des Mittelohres : die morphologische Bedeuttmg etc. 1 03
des kurzen Fortsatzes liegt , Ton embryonalem Bindegewebe um-
geben erseheint, so dass nm* der Griff frei in die Trommel-
höhle hineinragt, nnd von Epithel bedeckt wird, jedoch derart,
dass das Knorpelgewebe von dem Epithelialüberznge dnroh eine
ziemlich gleich dicke Schichte von Bindegewebe getrennt bleibt.
Ambos. Der Ambos empfängt den Hammerkopf in einer
schief Ton oben nnd aussen nach unten and innen gerichteten
Furche. Die Gelenkflächen deuten bereits die Form, welche beim
erwachsenen Menschen anzutreffen ist. Zwischen den zwei Knorpeln
liegt eine ans länglichen Zellen bestehende intermediäre Schichte,
welche als aus der Yerläugerung und der Verschmelzung der
Grenzschichten (Perichondria) der zwei Knöchelchen entstanden,
angesehen werden kann.
Ich konnte jedoch durch sorgfältigste PriLfung der betreffenden
Präparate die Ueberzeugung gewinnen, dass in beiden in Rede
stehenden menschlichen Embryonen die Trennung der zwei Ge-
hörknöchelchen noch keine vollständige war. — Es war in der
That dem unteren und äusseren Theil des Gelenkes entsprechend
eine Art, aus Knorpelgewebe bestehender Brücke zu beobachten,
welche den Hanuner- und Amboskopf direct yereinigte. — An dieser
Stelle liess die besondere Anordnung der Knorpelzellen nicht
einmal die spätere Trennung der Gehörknöchelchen vorhersehen.
Der Ambos bietet, so wie der Hammer, annäherungsweise
die Form, welche beim Erwachsenen anzutreffen ist ; auch dieses
Knöchelchen, so wie der Hammer, ist schief nach innen und unten
gerichtet. Der etwas von dem Hammergriff nach hinten diver-
giiende lange Ambosschenkel steigt herunter nach innen zu, und
weist eine Convexität nach vorne auf. — Das Ende des langen
AmboBschenkels tritt zu dem distalen Rande des Annulus sta-
pedialisin Beziehung, indem es sich stark nach innen in seinem
untersten Stücke biegt. Die vereinigten Grenzschichten trennen
die zwei Knorpelstücke von einander.
Es ist keine Spur eines getrennten knorpeligen Os lenti-
eulare s. sjlvianum zu sehen.
Der kurze Ambosschenkel wird in einer fast quergerichteten
Forche der vorderen Fläche des hinteren periotischen Fortsatzes
angenommen, nnd mittelst faserigen Bindegewebes fixirt.
(48)
104 Gradenigo.
Hyoidbogen. Der Hyoidbogen stellt die Form eines knor-
peligen Stabes dar, welcher ziemlieh beträchtliche Verschiedenheiten
der Dicke in seinen einzelnen Abschnitten zeigt. Man kann über-
haupt sagen, dass sein Durchmesser nie die Hälfte des Durch-
messers des mandibularen Bogens übertrifit. Bezüglich seinem
proximalen Stücke, welches als Annulus stapedialis sich ganz von
dem übrigen Hyoidbogen getrennt hat, und in inniges Verhältniss
zu dem langen Ambosschenkel und der Lamina stapedialis
gelangt ist, war schon bei der Darstellung der Entwicklungsvor-
gänge der Kapsel die Rede. Das übrige proximale Stück wird
von uns als Reichert'scher Knorpel bezeichnet werden.
Die distalen Enden des Hyoidbogens vereinigen sich neben
der Mittelinie mit dem knorpeligen Os hyoideum. An dieser
Stelle erscheint der Knorpel grösser. (Durchmesser circa 0*35 Mm.^)
Indem der Reich er t'sche Knorpel sich nach hinten und
oben hinstreckt, wird er, einer mittleren Partie entsprechend,
beträchtlich dünner (Durchmesser 022 Mm.), und auf dieser Strecke
bietet auch sein Gewebe das Aussehen eines noch sehr unreifen
Knorpels dar. Weiter hinten biegt sich der Knorpel nach oben,
nimmt wieder an Dicke zu, und misst in seinem proximalen End-
stücke 0-30.
Der R eich er f sehe Knorpel steigt einem länglichen knor-
peligen Fortsatze entgegen, welcher die Verlängerung nach unten
des capsularen Abschnittes darstellt, welcher vorne den kurzen
Ambosschenkel in sich aufnimmt; er legt sich an die mediale
Seite dieses Fortsatzes, und hört mit einem stumpfen und freien
Ende ungefähr in der Höhe des mittleren Abschnittes des Pro-
montoriums auf. Die laterale Fläche des Reicher tischen Knorpels
wird mittelst faserigen Gewebes mit den medialen Flächen des
obgenannten Processus perioticus verbunden, und verschmilzt
in späteren Entwicklungsstadien knorpelig mit diesem Portsatze.
Deckknochen. Unter den zahlreichen Deckknochen, die
im Schädel in dieser Entwicklungsperiode schon aufgetreten sind.
^) Ich darf woM bemerken, dass, wenn die Schnitte nicht in einer genauen
frontalen Ebene geführt worden sind, so wie der mandibulare als anch der
Hyoidbogen von verschiedenen Dimensionen und Gestaltungen erscheinen können.
(44)
Die embiyonale Anlage des Mittelohres : die morphologiBclie Bedeutung etc. 105
werde ich nur die berücksichtigen, welche sich in Beziehung zu
den zwei ersten Skeletelementen der Kiemenbogen bringen lassen,
namfieh : Os mandibnlare, Os sqnamosom, Processus gracilis mallei
and Annnlos tympanicos.
Der Unterkiefer (Mandibula), das Sqnamosum, der Processus
gracilis 8. folianus mallei (langer Hammerfoi*tsatz) stehen alle in
Beziehung zu dem mandibularen Knorpel und seinen Derivaten.
Der Annolus tympanicus scheint nicht nur mit dem proximalen
Abschnitte des mandibularen, sondern auch mit dem proximalen
Abschnitte des Hyoidbogens in Beziehung zu sein.
Os mandibulare (Os dentalis, Unterkiefer).Fig. 24.
Der Unterkiefer stellt den ersten Deckknochen, welcher im Kopfe
des Embryos auftritt, dar (yergl. III. Stadium). Ganz vorne neben
der Mittellinie, vor der Yereinigungsstelle der zwei M e c k e Fschen
Knorpel, erscheint der Unterkiefer in Form einer knöchernen
Lamelle. Vorne an der Seite treten zwei knöcherne gekrümmte
Lamellen auf, welche unten in einer Anschwellung zusammenlaufen,
und somit einen spitzigen gegen oben geöfiheten Winkel bilden.
Die mediale Lamelle bietet eine, der äusseren convexen Flächen
des mandibularen Knorpels entsprechende Concavität dar, bleibt
jedoch durch eine Bindegewebsschichte von dieser Fläche getrennt
(Fig. 24, Ma. La. m.).
Die laterale, in ähnlicher Weise concave Lamelle zeigt
ongefahr dieselbe Höhe als die mediale (Fig. 24, Ma. La. 1.). In
dem spitzigen, gegen oben geöfiheten Winkel, welchen die zwei
Lamellen begrenzen, sind die Arteria und Nervus alveo-
lar is (Aa. und Na.) und ganz oben die Zahnkeime (D.), welche
als Ausstülpungen des epithelialen Ueberzuges des Mundes er-
scheinen, in einem sehr lockeren Gewebe eingebettet. Bei der
Fig. 24 ist noch das Sulcus lingualis (Su. Li.) zu sehen.
Weiter hinten nimmt die mediale Lamelle allmälig an Höhe ab,
während die laterale fortwährend an Höhe zunimmt, und an ihren
zwei Enden kolbig angeschwollen erscheint. Diese letztere Lamelle
stellt den Processus coronoideus und condyloideus der
Mandibula dar, und wird schon mittelst deutlich angeordneter
Muskelfasern mit dem Os jugale und der künftigen Fossa
zygom atica verbunden.
(46)
106 Gradenigo.
Der MeckeFsche Knorpel bleibt immer im Niveau des
unteren Abschnittes des knöchernen Unterkiefers^ in einer gewissen
Entfernung Yon diesem. Nur auf einer kurzen Strecke habe ich
bei dem menschlichen Embryo 4V2 Cm. constatirt, dass die untere,
aus der Verschmelzung beider Lamellen entstandene Anschwellung
in Berührung mit der vorderen äusseren Peripherie des M eck ei-
schen Knorpels getreten war, und an dieser Stelle wegen der unregel-
mässigen Krümmung hätte der Knorpel als atrophisch betrachtet
werden können.
Os squamosum (Fig. 25). In der frontalen Ebene des
vorderen Abschnittes der periotischen Kapsel, fangt das Squamosum
in Form zweier knöcherner Lamellen, welche in einen fast
rechten, nach aussen geöffneten Winkel zusammenlaufen, zu er-
scheinen an. Die untere Lamelle (L. i. s.) bietet eine dem convexen
oberen äusseren Rande des mandibularen Bogens entsprechende
Krümmung dar; bleibt jedoch in einer gewissen Entfernung von
diesem Rande. Die obere, fast verticale Lamelle (L. v. s.) besitzt
ungefähr dieselbe Höhe wie die andere und erscheint weniger
gekrümmt. Gegen hinten hin schiebt sich die verticale Lamelle
allmälig mit ihrem unteren Ende lateralwärts, so dass zuletzt die
zwei Lamellen einen spitzigen, medial wärts geö£fheten Winkel
zusammen begrenzen. Weiter hinten oberhalb der Hanmier- und
Ambosköpfe verschmelzen die zwei Lamellen des Squamosum
in eine einzige Lamelle, welche mit einer passenden Krümmung
die Köpfe der Knöchelchen von aussen und oben umfasst.
In der frontalen Ebene des Amboskörpers ist keine Spur
des Squamosum mehr zu sehen.
Annulus tympanicus (Fig. 25, An. ty.). Der tym-
panale Ring stellt den grösseren Theil eines knöchernen,
zwischen den zwei proximalen Enden des mandibularen und
des Hyoidbogens gelegenen Ringes dar. Der tympanale Ring
fehlt der Stelle entsprechend, wo die Köpfe des Hammers und
des Ambosses sich befinden, und behält nicht die gleiche Dicke
in seiner Peripherie. Der Abschnitt, welcher direct unterhalb des
letzten Theiles des MeckeTschen Knorpels liegt, ist der breiteste;
er besitzt die Form einer dünnen, gegen oben convexen Lamelle,
und fast die Breite der unteren convexen Fläche des Meckel-
(46)
Die embryonale Anlage des Hittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 107
sehen Stabes (An. ty.). Das laterale Ende der Laraelle ist dem
Knorpel näher als das mediale. Diese Lamelle hört frei nach
hinten anf, bevor der MeckeFsche Knorpel (Mn.) in den Hammer-
körper übergeht Na<^h yome und unten setzt sich die Lamelle
in einer dünnen knöchernen, fast cylindrischen Spange fort,
welche sich nach hinten krümmt, um an der medialen und oberen
Seite des Rei c he rf sehen Knorpels (Hy.) zu gelangen. An der
Stelle, wo direct dieser Knorpel nach oben umbiegt, bleibt der
hintere Band des tympanalen Ringes medialwärts und vorne von
ihm, nm frei in der Höhe ungefähr des stumpfen Endes des er-
wähnten Reicherf sehen Knorpels zu enden.
Die hintere Umrandung des Ringes bleibt immer in einer
Constanten Entfernung von dem Hyoidbogen.
Processus folianus s. gracilis mallei (Fig. 25,
P. g. m.). Der lange Hammerfortsatz erscheint zuerst in Form eines
schmalen knöchernen, in einer sehr kurzen Entfernung von dem
MeckeTschen Fortsatze gelegenen Leistchen. Dieser knöcherne
Fortsatz reicht vorne nicht bis zur vorderen Umrandung des
Annulns tympanicus. Er kommt direct oberhalb des medialen
Abschnittes der Lamelle, die die vordere obere Peripherie des
Annnlnstympanicus bildet, zu hegen. Gegen hinten behält er
dieselbe Lage bezüglich des MeckeTschen Knorpels bei, und
endet an der inneren Seite des vorderen Abschnittes des Hammer-
körpers, unmittelbar oberhalb des tubo-tympanalen Raumes.
Der Processus gracilis tritt in kein näheres Yerhältniss
zn dem Hanuner.
Muskeln. Der Musculus tensor ebenso wie der Mus-
cnlns stapedius sind bei 4 und 4Va Cm. langen menschUchen
Embryonen deutlich differenzirt, insbesondere ihrer Anhefkungs-
steUe an der periotischen Kapsel entsprechend.
Der Musculus tensor entspringt an einer fast horizontalen
vorspringenden Linie der tympanalen Wand der periotischen
Kapsel, ungefähr in der Höhe der unteren Hälfte der Mittel-
windong des Ductus cochlearis und wendet sich nach hinten;
seine Anheftnngsstelle an der inneren Seite des Hammers ist noch
nicht gut angedeutet.
(47)
108 Gradenigo.
Der Musculas stapedius nimmt seinen Ursprung von
unten nach oben, längs einer von dem hinteren periotischen
Fortsatze gebotenen Rinne, welche Rinne auch den absteigenden
Facialisstämm aufnimmt.
Näheres über die topograpischen Verhältnisse, die der
Musculus tensor zu diesen Nerven und zu dem oberen End-
stücke des Reich er tischen Knorpels darbietet, wird später mit-
getheilt werden.
Weitere Entwicklung der Gehörknöchelchen
und der periotischen Kapsel. Da ich in dieser Arbeit
die Entstehungsweise der Gehörknöchelchen und der periotischen
Kapsel nur bis zum Anfange der Yerknöcherung zu verfolgen mir
vorgenommen habe, bleibt es mir nun noch übrig, um das vor-
liegende Thema zu vervollständigen, die Resultate der Prüfung
älterer menschlicher Embiyonen, die noch keine Verknöcherungs-
punkte in dem Skeletelemente des Mittelohres darboten, zu er-
wähnen.
Wir haben schon gesehen, dass bei 4 und 4Va Ctm.
langen menschlichen Embryonen die Gehörknöchelchen bereits
annähernd die Form, welche beim Erwachsenen anzutreffen ist,
zeigen ; es ist also vorauszusehen, dass in späteren Stadien keine
wichtigen Veränderungen mehr zu treffen sein werden. Ich halte
nur für geeignet, einige Detail Vorgänge bei der Lamina sta-
pedialis und dem Reic herrschen Knorpel hervorzuheben.
Entsprechend der Peripherie der Lamina zerti-ümmem und
vernichten die hineindringenden Bindegewebsfaserzüge die einzelnen
Knorpelzellen. An dem centralen Theile der Lamina hingegen
erscheinen die Zellen verdrängt und in einem Zustande von
beginnender Atrophie (Fig. 13). Die Lamina sieht sehr ver-
schmälert aus.
Obschon in dieser Entwicklungsphase die Grenzschichte
nicht mehr zu sehen ist, bleibt die Lamina stapedialis doch
scharf von dem A n n u 1 u s getrennt ; die kleinen und gut gefärbten
Zellen des letzteren scheinen eine rege kariokynetische Thätigkeit
zu besitzen.
In weiteren Stadien ist es nicht möglich an der Basis der
schon ziemlich gut ausgebildeten Stapes die Lamina deutlich zu
(48)
Die efmbTyonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedenttmg etc. 109
erkennen. Die einzelnen Theile dieses Knöchelchens nehmen
allmälig Form nnd Verhältnisse an, wie sie bei dem Erwachsenen
anzutreffen sind.
Bei der Untersuchung der entsprechenden Entwicklnngsphasen
bei Kaninchen-, Hnnd- nnd Mansembryonen , habe ich an der
Basis des Stapes ganz dentlich die zwei sie zusammensetzenden
Elemente erkannt (Annulus und Lamina), welche besonders durch
die Yerschiedene Färbung hervortraten. In den späteren em-
bryonalen Stadien ist eine solche Unterscheidung nicht mehr
möglieh.
Das Ligamentum annulare bildet sich durch Hinein-
dringen der Bindegewebsfaser hauptsächlich von der tympanalen
Seite her, der Peripherie der Lami na entsprechend. — Ich habe
jedoch mich oft überzeugen können, insbesondere bei Kaninchen-
embryonen, dasB auch ein Theil der KnorpelzeUen in der ent-
sprechenden Gegend zur Bildung des in Rede stehenden Gelenkes
beitragt. Diese Zellen platten sich ab, ordnen sich in parallelen
Reihen zu der Oberfläche der Lamina, nehmen die Charaktere
der Bindegewebszellen an und wandeln sich zuletzt im eigentlichen
Fasergewebe um.
Reichert'scher Knorpel. Bei einem menschlichen
Emhryo 8 Ctm. Scheitel-Steiss-Länge habe ich das Endstück
des Hyoidknorpels durch eine, von unten beginnende Reihe von
horizontal geführten Schnitten verfolgt. Die Fig. 14 bis 18, welche
bei fiinf aufeinanderfolgenden Schnitten unternommen wurden,
yeranschanlichen genau die topographischen Verhältnisse dieses
KnorpelB. In Fig. 15 sind die Contouren des tubo-tympanalen
Ramnes (Ca. t. ty.), des äusseren Gehörganges (C. a. ex.), des
Trommelfells (M. ty.) und des schief getroffenen Hammergriffes
M. M.) gezeichnet.
Der Vergleich der einzelnen Schnitte lässt uns erkennen,
dass der Knorpel in einer Art tiefen, nach vorne offenen Furche
liegt, die von der hinteren Partie der periotischen Kapsel gebildet
erscheint. Der Knorpel verschmälert sich allmälig gegen oben
zu; in Fig. 17 ist nur noch seine Grenzschichte vorhanden, in
Kg. 18 jede Spur verschwunden. Wir treffen in diesen Figuren
die faserige Verbindung der lateralen Wand des Knorpels mit
Med. Jalirbücher. 1887. 9 (49)
110 Grftdenigo.
der entgegengesetzten medialen des periotischen Fortsatzes nicht,
weil diese Verbindung in einem tieferen Niveau liegt.
Der Vn. Nervus, welcher gegen oben seine Grössenverhältnisse
nicht merklich modificirt, liegt aussen und hinten von dem Knorpel.
Der Musculus stapedius, welcher oben an Dicke zunimmt, liegt
hinten und etwas innen.
Bei anderen menschlichen Embr}'^onen yerschmilzt indess der
Reich ert'sche Knorpel unter Bildung einer Baphe mit dem
Gewebe des periotischen Fortsatzes.
Die Ergebnisse der Untersuchungen über dieses IV. Ent-
wicklungsstadium (menschliche Embryonen) lassen sich folgender-
massen zusammenfassen:
L Die Skelettheüe des Hittelohres sind durch echtes Knorpel-
gewebe vertreten und zeigen noch keine Ossiflcationspunkte.
Die meisten Deckknochen sind schon aufjgetreten. Die Ver-
knöcherung beginnt in der Basis Cranil.
n. Das Knorpelgewebe ist durch grosse Zellen mit deutlich
markirter Kapsel und reichlicher Intercellularsubstans charakterisirt.
Die Orenzsohichte der Knorpelstficke stellt jetzt die Anlage des
Perichondriums dar.
m. Der vordere Abschnitt der periotischen Kapsel wird
durch Einbiegung einer knorpeligen Lamelle in eine cocUeare und
eine vestibuläre Partie gesondert.
IV. Die Lamina stapedialis wird rund herum von der
äbrigen vestibulären Wand durch das Hineindringen von faserigem
Bindegewebe differenzirt. Der mediale Band desAnnulusstape-
dialis dringt aUmälig in die Lamina hinein; das Gewebe der
Lamina verschmilzt theilweise mit dem Gewebe des Annulus,
und erföhrt theilweise einen Involationsvorgang.
Das runde Fenster ist schon mit der Anlage der Membrana
tympani secundaria zu sehen.
V. Der Hammer erscheint mit dem Ambos knorpelig partiell
vereinigt, der betreffenden Gelenkfläche entsprechend.
VI. Der Beiohert'sche Knorpel hat jede Beziehung zum
Annulus stapedialis verloren; er tritt in faserige Verbin-
dung mit einem absteigenden Fortsatze der periotischen Kapsel,
' (BO)
Die «BibTTOBalo Anlage des Mittelohiea : die morphologische Bedeatang etc. 1 1 1
und yeraelunilzt mit diesem in einem späteren Entwicklungs-
sbidinm.
YIL Der knöoheme Unterkiefer ersclieint zuerst an der
lateralen Seite des M e e k e rscken Knorpels in Form zweier Lamellen,
welche aieh naeh nnten vereinigen nnd somit einen naek oben
geolljieten Winkel begrenzen. Zwischen den Lamellen sind die
Arteria und Nervus alveolaris und die Zaknkeime im embryonalen
Bindegewebe eingebettet.
YUL Das Os squamosum erscheint zuerst oberhalb des
MeekeTschen Xnorpels in Form zweier knöcherner Lamellen,
wdehe vorne einen rechten nach oben und aussen geöflheten
Winkel bilden, und hinten in einer einzigen gekrümmten Lamelle,
welche die Hammer-, Ambosköpfe umfasst sich vereinigen.
£E. Der Annulus tympanicus, welcher den Hammer-,
AmboskSpfen entsprechend unterbrochen ist, weist in seiner Um-
randung nicht gleiche Form und Dicke auf. Sein vorderer oberer
Abschnitt, welcher direct unterhalb des proximalen Stftckes des
Meckerschen Knorpels zu liegen kommt, wird von einer ziemlich
breiten, nach oben concaven, knöchernen Lamelle dargestellt; die
übrige Peripherie wird von einer dünnen, fast cylindrischen
knöchernen Spange vertreten.
X. Der Processus folianusmallei tritt in Form eines
sehmalen, an der unteren medialen Fläche des HeckeTschen
Knorpels anliegenden Leistchens auf. Er zeigt keine directe Ver-
bindung weder mit dem Annulus tympanicus, noch mit dem
Hammer oder Hecke Tschen Fortsatze ; reicht vorne kaum bis zur
vorderen Peripherie des Annulus und endet hinten frei an der
inneren Seite des vordersten Abschnittes des Hammerkörpers.
IL AbBohmtt
Die embryonale Entwicklung des tubo-tympanalen Baumes.
Ich halte es für angezeigt, die Entwicklungsvorgänge des
tubo-tympanalen Raumes hier zu schildern, indem ich alles das
zusammenstelle, was darüber aus dem Studium der verschiedenen
Entwicklungsperioden zu entnehmen ist.
9 ♦ (51)
112 Gradenigo.
Es ist nicht leicht, eine klare Anschauung der Topographie
der Tuba in ihrem primitivsten Stadium zu gewinnen. — Die in
horizontaler oder leicht von vorne nach hinten schiefer Richtung
geführten Schnitte kommen in einer der beiden Eiemenbogen
ungefähr parallelen Ebene zu liegen, und sind daher nicht geeignet,
eine richtige Idee über die Beziehungen zwischen Tuba und der
ersten Eiemenspalte zu geben.
Von den Sagittalschnitten können für diese Art von Nach-
forschungen nur die von der Mittellinie am weitesten gelegenen
benützt werden.
Jene, welche die reflexe Partie der Eiemenbogen treffen,
können uns eine Uebersicht über das Verhalten des distalen, nicht
aber des proximalen Abschnittes der Spalte geben. Jedenfalls
erscheint die Untersuchung der sagittalen Schnittreihe in mancher
Beziehung wichtig.
Die Frontalschnitte sind es, die sich sehr gut flir das Studium
der Modalitäten der Tubaentwicklung eignen; am besten jene,
welche etwas schief von vorne und aussen nach hinten und innen
geführt, sich der Richtung des Halbmessers des Eiemenbogens
nahem. So können nur Bilder der einen Seite des so winzigen
Embryos zu Gesicht kommen, da die andere Hälfte in einer zu
schiefen Richtung getroffen wird.
Auch die von hinten her tangential zur mesocephalischen
Erümmung geführten Schnitte können uns nicht zu unterschätzende
Resultate liefern.
In meiner nachfolgenden Darstellung werde ich nur die ersten
zwei Eiemenbogen und die erste Spalte berücksichtigen.
Da die Eiemenbogen, wie bekannt, an den Seiten der Schädel-
basis sich anheften, setzt sich der Darmcanal, den sie vorne
begrenzen, beiderseits bis zu ihrer Insertionsstelle fort, und com-
municirt mit der ersten Eiemenspalte. Gerade die Fortsetzung
des Darmcanals an der inneren Seite der zwei ersten Eiemenbogen
ist für das Studium der Entstehungsweise des tubo-tympanalen
Raumes von Interesse.
Es möge mir gestattet sein, um die nachfolgende Darstellung
verständlicher zu machen, auf ein Schema, welches in der Fig. 19
dargestellt ist, hinzuweisen. — Ich unterscheide bei jener Strecke
(58)
Bie embryonale Ank^e des Mittelohres : die morphologische Bedeutong etc. 113
des Darmcanals, die sich nach hinten zu zwischen den inneren
Flächen der Bögen und der lateralen Fläche der Schädelbasis
fortsetzt, einen oberen Abschnitt, von mir alsmandibulareSpalte
bezeichnet (dbe\ und einen unteren (hyoidale Spalte) (fce)^
jener gegen aussen von dem ersten Kiemenbogen, dieser von dem
zweiten begrenzt — Diese beiden Spalten communiciren mit der
eigenen Kiemenspalte (hyomandibulare Spalte), welche zwischen
den einander zugekehrten Flächen der beiden Bögen liegt. (Im
Schema wird die gegen aussen geschlossene erste Kiemen-
spalte nur durch den Raum adf dargestellt.)
So nimmt der ganze Baum in seinem Durchschnitte die Form
eines mit gekrümmten und nach innen convexen Seiten versehenen
Dreieckes an; die äussere obere Seite (adh) würde durch den
ersten fJj, die äussere untere (afc) durch den zweiten Kiemen«
bogen (II) 1 die innere (bec) durch die laterale Wand des
Schädels (Cr.) dargestellt erscheinen.
Unter der Benennung tubo-tympanale Raum versteht
man jene Höhle, welche zwischen den Kiemenbogen und der
lateralen Wand des Schädels unmittelbar hinter der dorsalen
Wand des Darmcanals zurückbleibt.
Bezüglich der Gestaltung scheint es mir geeignet, bei diesem
Baum zn unterscheiden, eine vordere Partie, welche in den ersten
Entwicklungsstadien vor dem vordersten Ende der Gehörblase
und in späteren Entwicklungsperioden vor dem Hammer zu liegen
kommt; eine hintere Partie, die in den ersten Stadien, bis zu
dem Punkte, wo der Ductus endolymphaticus in die Labyrinth-»
blase einmündet, und später bis zum hinteren Rande des Stapedial-
ringes reicht. Auf die vordere Partie beziehen sich die Fig. 20,
21, 22'^ auf die hintere 20-4, 21-4, 22.4, welche den hauptsäch-
lichsten Entwicklungsstadien der von mir untersuchten Katzen-
embryonen entsprechen.
Katzenembryonen 12 Mm. Scheitel-Steiss-
Länge. Diese Embryonen bieten uns eines der günstigsten
Stadien dar,* um die Entstehungsweise des tubo-tympanalen Raumes
verfolgen zu können. Die erste Kiemenspalte ist im Begriffe, sich
zu schliessen. Ganz vorne sind die distalen Enden der zwei ersten
Bogenpaare vollständig zusammen verschmolzen, ohne dass irgend
(58)
114 Gradenigo.
eine Spur der ersten Spalte zurückgeblieben wäre. Mehr lateral-
wärts, entsprechend der reflexen Partie der Bogen sind ihre
einander zugekehrten Flächen durch eine mesodermatische Brücke
verbunden. In dem vorderen Abschnitte des tubo-tympanalen Raumes,
in der frontalen Ebene der vordersten Spitze der Gehörblase,
sind die Bogen durch Mesoderma verbunden. Von der ersten
Kiemenspalte verbleibt nur der innere Abschnitt (a df^ Fig. 19 und 20),
welcher in Verbindung mit der gegen unten, respective oben ge-
öffneten mandibularen und hyoidalen Spalte, steht. In
dem hinteren Abschnitte (Fig. 20-4) ist die obere Hälfte der inneren
Fläche des ersten Bogens und der grösste untere Theil der gleich-
namigen Fläche des zweiten Bogens mit der Schädelbasis ver-
wachsen, daher sind mit der ersten Kiemenspalte nur die untere
Hälfte der mandibularen Spalte und ein kleiner, oberer Abschnitt
der hyoidalen Spalte in directer Communication geblieben (dbc^
Fig. 20 Ä). Die Kiemenspalte ist aber nicht durch mesodermatisches
Gewebe, sondern durch die einfache Berührung der epithelialen
Ueberzüge (a) gegen aussen geschlossen.
Nach hinten schliessen sich allmälig die hyoidale, wie die
hyomandibulare Spalte (Kiemenspalte), weil einerseits das proxi-
male Ende des Hyoidbogens (Fig. 20-4, Hy.) sich mit einer starken
Krümmung nach vorne, oben und innen wendet, und andererseits
die zwei ersten Bogen miteinander verwachsen (Mn. und Hy.).
Die mandibulare Spalte, welche schief gegen oben und
innen gerichtet ist, verschwindet als letzte, wie dies auch Fig. 20^
andeutet (dbe). Entsprechend der Stelle, wo der Ductus endo-
lymphaticus in die Labyrinthblase einmündet, ist keine Spur des
tubo-tympanalen Raumes mehr zu finden. An der äusseren Ober-
fläche bleibt nur eine seichte Senkung entsprechend der ersten
Kiemenspalte zurück.
Bei dieser Figur ist noch zu sehen: die Labyrinthblase
mit La. bezeichnet; die Carotis (Ca.) und die Aeste des 5. und
7. Nerven (V^ V«, VH).
Katzenembryo 15 Mm. Scheitel-Steiss-Länge.
(Fig. 21 und 21-4.) ZweitesStadium. Die zwei ersten Kiemen-
bogen, ihrer ganzen Länge nach, miteinander durch Mesoderma
verbunden.
(54)
Die embiyonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentimg etc. 115.
Die Yordere Partie des tabo-lympanalen Raumes ist in seiner
Gestaltung beträchtlich verändert. Das rasche Wachstbum der
Labyiinthblase nnd Labyrinthkapsel hat die mediale Seite de^
oben beschriebenen Dreieckes weit nach aussen vorgeschoben. Im
Schema Fig. 19 repräsentirt die punktirte Linie b e\ c die Stelle
wo die Linie bec za stehen kommt. Die mesodermatische Schichte
welche die zwei Bogen verbindet, hat andererseits die Schliessung
eines grossen Theiles der Ueberreste der ersten Spalte veranlasst
(a gebt in a\ Fig. 19 und 21).
Der tubo-tympanale Raum ist also in diesem Stadium
last ausschliesslich von den beiden mandibularen und hyoi-
dalen Spalten gebildet, die nach aussen mit spitzem Winkel
zusammenlaufen; die eine a^be^ — die andere a^ce^ (Fig. 19 und 21).
Im Punkte a findet sich noch die Andeutung der primitiven
Kiemenspalte.
Im hinteren Abschnitte (Fig. 21^) können wir wieder con~
statiren, wie durch die nach vorne erfolgte Krümmung de»
zweiten Kiemenbogens — welcher hier auch in der Fig. 2 1 A von
dem hyoidalen Zellenstrange (Hy.) und dem Stapedialringe (An. st.)
vertreten ist — die hyoidale Spalte zum Verschwinden ge-
bracht wurde, und der tubo-tympanale Raum nur durch die
mandibulare Spalte dargestellt ist. Die mandibulare Spalte
reicht hinten bis zumAnnulus stapedialis, und verläuft wie
im früheren Stadium von aussen unten nach innen oben (Fig. 21^
a^dbe^); diese Spalte trennt das proximale Ende des mandibularen
Bogens (Mn.) von dem proximalen Ende des Hyoidbogens (Hy.).
Indem das proximale Ende des zweiten Kiemenbogens nach
hinten den tubo-tympanalen Raum schliesst, veranlasst es eine
vertical gerichtete Einstülpung der Wand in Form eines Wulstes
(Colliculus hyoideus).
Bei der Fig. 21 ist noch zu sehen: die Carotis (Ca.), die
Jugolaris (Ju.), der 7. Nerv mit der Chorda tympani
fCh. ty>)j der dritte Ast vom 5. Nerv (V), die Einsenkung des
äusseren Ohres (C. a. e.).
Bei der Fig. 21^ ist ausserdem zu sehen : das Ganglion de^^
9. Paares zwischen Carotis und Jugularis, das Ganglion Gasseri
(6a. G.), die Arteria mandibularis (A. mn.).
(55)
116 Oradenigo.
Katzenembryonen 2 Cm. Scheitel-Steiss-Länge.
<Fig. 22 und 22^.) Drittes Stadium. In Folge der weiteren
Entwicklung des proximalen Endes des Mandibularknorpels, können
wir wieder eine wichtige Formveränderung des tubo-tjmpanalen
Raumes beobachten. Während der Musculus tensor tympani
das obere Ende der Mandibularspalte herabdrUckt, comprimirt der
Hammergriff, indem er gegen innen zu wächst, die äussere Wand'
der Spalte (Fig. 22, Te. ty. und Ma,).
Die mittlere Partie der Wand b a^ kommt daher in Berührung
mit der inneren Wand 6e; die zwei entsprechenden Epithelschichten
verschmelzen auf dieser Stelle und verschwinden zuletzt {d in d^
Fig. 19).
Der obere Abschnitt der mandibularen Spalte, welcher
7\vischen Hammergriff, Hanmierhals, Musculus tensor und Labyrinth-
kapsel liegt, wird auf diese Weise von dem übrigen Theile des
tubo-tympanalen Raumes getrennt, setzt sich nach hinten auf eine
kurze Strecke hin fort, um sich bald zu schliessen. Hinten dehnt
sich demnach nicht, wie im vorigen Stadium, die mandibulare
Spalte, sondera nur die Hyoidalspalte aus (Fig. 22^ a^e^c).
Wegen des Verschwinden jeder Spur der Kiemenspalte ist die
Hyoidalspalte mit dem zurückgebliebenen Theil der mandi-
bularen Spalte verschmolzen.
Indem das proximale Ende des Mandibularknorpels in diesem
^Stadium schwillt um den Hammer- und Amboskörper zu bilden,
veranlasst es eine vertical gerichtete Einstülpung der hinteren
iiusseren Wand des Darmcanals, unmittelbar oberhalb der Einmün-
dung des tubo-tympanalen Raumes (Colliculusmandibularis).
Bei der Fig. 22 ist noch zu sehen : der äussere Gehörgang
(C. a. e.), der 7. und 9. Nerv, die Carotis (Ca.), der vorderste
Theil des Ganglion von 7, den Hammer, die Chorda tympani u. s. w.
Bei der Fig. 22 A : die knorpelige Kapsel der Bogengänge
(Ca. ca. s.), der kurze und der lange Ambosschenkel (S. pr.
br. — S. pr. 1.), der Annulus stapedialis (An. st.) die
Arteria stapedialis (A. st.).
Fassen wir den ganzen complicirten Vorgang kurz zusanmien :
In einem ersten Stadium, bevor die vollständige
Schliessung der ersten Eiemenspalte erfolgt ist, wird der tubo-
(56)
Die embryonale Anlage des MittelohreB : die morphologische Bedentang etc. 117
tympanale Raom dargestellt dnroli das Zusammenfliessen der er-
wilinteB Spalte mit den beiden Spalten, die zwischen den inneren
Flächen des mandibularen, respective hyoidalen Bogens nnd der
lateralen Schädelwand zurückbleiben (mandibulare und hyoi-
dale Spalte) (Pig. 20^).
In einem zweiten Stadium, wenn das proximale Ende
des Hyoidbogens zuerst zur Entwicklung kommt, indem es mit
einer starken Krümmung nach oben und vorne in den Annulus
stapedialis übergeht, schliesst sich nach hinten die entsprechende
Hyoidalspalte. Nachdem aber die Schliessung der ersten Bronchial-
spalte immer vollständiger wird, ist der tubo-tympanale Raum
hinten nur von der Fortsetzung der Mandibularspaite repräsentirt
(21^).
In einem dritten Stadium, wo gleichzeitig mit der
Entwicklung des proximalen Endes des ersten Bogens, der Stapedial-
ring in inniger Beziehung zu diesem tritt, ist es die Mandibular-
spalte, die in ihrer Ausbildung gehemmt und von dem gegen innen
zu wachsenden Hammergriff gepresst wird ; hier setzt sich nach
hinten nur die Hyoidspalte fort.
I Wenn wir zur Untersuchung der Verhältnisse zwischen tubo-
t>inpanalen Räume nnd Labyrinthblase übergehen, Verhältnisse,
die im frontalen Durchschnitte anschaulich gemacht sind, so können
wir beobachten, dass in dem ersten Entwicklungsstadium die
Labyrinthblase, welche, wie bekannt, an der Stelle entsprechend
der Wurzel des 2. Kiemenbogens liegt, nur mit ihrem vorderen
Theil in Beziehung zu der Hyoidspalte tritt, während sowohl die
eigentliche Eiemenspalte (Hyomandibularspalte) , als auch die
Mandibularspalte in einer höher gelegenen Ebene sieh befinden. —
In dem zweiten Stadium können wir sehen, wie die Labyrinthblase
mehr gegen oben gcMrachsen ist, so dass sie vorzugsweise mit
ihrem mittleren Abschnitt zu der mandibularen Spalte in Beziehung
getreten ist.
Dieser Wachsthum nach oben schreitet auch in den nach-
folgenden Stadien fort, so dass das hintere, von der Hyoidspalte
dargestellte Ende des tub ;-tympanalen Baumes unterhalb des
vestibulären Abschnittes der periotischen Kapsel sich befindet.
(57)
118 Gradenigo.
Während also das Resultat der Umbildungen, welche der
tubo-tympanale Raum eingeht, durch eine Niveau-Herabsenkung
dargestellt erscheint, nimmt das innere Ohr einen höheren Platz ein.
Das hintere Ende der tympanalen Höhle, welches anfangs
oberhalb des Labyrinthes sich befindet, kommt später unterhalb
desselben zu liegen.
In dem vierten von mir beschriebenen Entwicklungsstadium,
wenn die Skelettheile knorpelig geworden sind und annäherungs-
weise ihre definitive Form angenommen haben, sind nur kleine
Veränderungen in den topographischen Verhältnissen des tubo-
tympanalen Raumes, im Vergleiche zu dem dritten Stadium, ein-
getreten. Es ist angezeigt, bei Menschen die Entwicklung des
tubo-tympanalen Raumes zu verfolgen.
Bei menschlichen Embryonen, 4 und 4V2 Cm. Scheitel-
Steiss-Länge, ist der vorderste Abschnitt der Tuba, unmittelbar
hinter der Einmündung in die Bauchhöhle, durch eine veiücal
gerichtete Spalte vertreten, welche in der Höhe des M e c k e Tschen
Knorpels, zwischen diesem und dem vordersten Theil der periotischen
Kapsel zu liegen kommt. Medialwärts von der Tuba verläuft
die Carotis nach oben.
Diese Spalte ist also als Mandibularspalte zu be-
trachten. — Mehr nach hinten, vor dem Hammergriff, verlängert
sich diese Spalte gegen unten bis zum Reiche rt'schen Knorpel,
und wird also von den vereinigten Mandibular- und Hyoidspalten
vertreten. Der Hammergriff ist gegen die Labyrinthkapsel zu
gewendet, und wiewohl er bei Menschen eine nicht so ausge-
sprochene Krümmung wie bei Katzen- und Schweinsembryonen
darbietet, bedingt doch sein Ende den vollständigen Verschluss
des betreffenden Abschnittes der Mandibularspalte. Jener Theil
der Spalte, welcher oberhalb des Griffes offen bleibt, ist von
oben her durch den Musculus tensor abgeplattet.
Ausserdem bleibt die tympanale Höhle auch weiter unten
verschlossen, da sie zwischen dem Promontorium und dem schief
aufsteigenden Hyoidknorpel zu liegen kommt. Deswegen bleibt
in diesem Niveau als Vertreter des tubo-tympanalen Raumes nur
der tiefste Abschnitt der Hyoidspalte, welcher unterhalb des
Promontorium und des Reich er t'schen Knorpels liegt.
(58)
IMe emlnyoiiale Anlage des lüttelohres : die morpliologisclie Bedeutung etc. 1 19
Die topographischen Verhältnisse welche der tubo-tympanale
Bsnm bei menschliclien Embryonen in diesem Entwicklnngsstadinm
darbietet, sind ganz ähnlich den Verhältnissen, welche man bei
den Säügethierembryonen trifft.
In einem gleich darauf folgenden Stadinm beginnt die
Tronunelhöhle, welche bisher in einen Rückgangsprocess einge-
gangen war, sich auszubreiten. Anfangs drängt die Höhle zwischen
Hammergriff und künftigem Trommelfell vor, später breitet sie
sich über die refle:ze Partie des Musculus tensor aus, welche
somit in die Höhle aufgenommen erscheint ; endlich erweitert sich
dieselbe zwischen Hammer und der cochlearen Kapsel, und dem
Trommelfell entlang zwischen Hyoidbogen und Promontorium u. s. w.
Das embryonale Bindegewebe bleibt bis zu den spätesten
Entwicklungsstadien der vestibulären Wand der Tronmielhähle
eutsprechend«
(Fortsetasnng folgt.)
-HSh-
(6y)
V.
Drei Chinesen - Gehirne.
Anatomische Mittheiliing von
Prof« Dr. Moriz Benedikt.
(Am 21. Jänner 1887 von der Redaction flbemommen.)
Unvergleichlich interessanter als die der vergleichenden
Schädellehre der menschlichen Racen dürften einst die Resoltate
der vergleichenden Gehimlehre werden.
Das heutige Material ist verschwindend klein und trotz
aUer Anstrengongen ist es mir persönlich nicht gelmigen, irgend
em nennenswerthes Material exotischer Bacengehime aufzutreiben.
Jede Pnblication auf diesem Gebiete wird aber hoffentlich die
Habgier der grossen wissenschaftlichen Institute und Museen ent-
feflseln und es wird dann mit grossen Mitteln und bei passender
Gelegenheit gelingen, mehr Material anzuhäufen.
Schlüsse zu ziehen, werden sich kritisch geschulte Männer
lange enthalten, schon aus dem einfachen Grunde, weil auch die
meisten exotischen Völker anthropologisch nicht mehr einen ein-
(Siehen Factor, sondern ein Racenproduct darstellen, aus dem
nor langsam die Urformen werden herausgeschält werden können.
Die Bezeichnung als „Chinese'' bedeutet allenfalls eine poli-
tische, eine religiöse und nationale Zusammengehörigkeit, aber
keine anthropologische und am wenigsten eine anthropologische
in Sinne einer Urrace.
122 Benedikt
Dies geht schon aas der Vergleichnng meiner drei (Gehirne
hervor , wovon das erste jedenfalls einer ganz anderen Varietät
vom Genus Homo angehört als die beiden anderen.
Weiters ist zu bedenken, dass uns zu diesen Gehirnen die
Biographie fehlt und wir daher überhaupt nicht beurtheilen
können, ob jedes dieser Individuen überhaupt ein typisches
seiner Race war.
Meine drei Gehirne, die ich zuerst am 4. December 1885
in der k. k. Gesellschaft der Aerzte demonstrirt habe, gehören
nach Amerika eingewanderten Chinesen an. Ich verdanke sie
einem ausgezeichneten Gelehrten der Vereinigten Staaten. Wenn
ich ihn nicht nenne, so geschieht es aus der vielleicht übertrie-
benen Angst von meiner Seite, dass der werthe College durch die
Bekanntmachung seines Namens der Vehme der Chinesen ausge-
setzt sei.^)
Jede Gehirnhälfte ist durch zwei Zeichnungen repräsentirt.
Die eine stellt die äussere Fläche dar, plus dem Orbital-
und dem mittleren Basallappen, die man sich von der
unteren äusseren .Kante nach aussen aufgeschlagen denken muss.
Diese zwei Basallappen erscheinen durch Straffirung gesondert.
Die zweite Zeichnung stellt die mediane Fläche mit dem
hinteren und mittleren Basallappen dar.
In der Bezeichnungsweise bin ich von jener, die ich in
meinem Buche: „Anatomische Studien an Verbrechergehimen''
befolgt habe, wenig abgewichen.
Jene lehnte sich ja wesentlich an jene von Ekker an^ die
nicht nur im Allgemeinen sehr gut ist, sondern auch international
am verbreitetsten ist. Beibehalten habe ich das Princip von
Zernoff, getrennt auftretende Theile einer Furche als zusammen-
gehörig zu betrachten und gleich zu bezeichnen.
Gassirt habe ich die Bezeichnung /^ als dritte Stimfurche.
Dieselbe ist als Fiss. präcentralis (npc^) bezeichnet und ebenso
ist die Fissura retrocentralis markirt mit „rc^*
*) Es ist inzwischen von Prof. Oh. K. Mills in Philadelphia auf dem
Nenrologen-Oongress in Long-Branch ein viertes demonstrirt imd beschrieben
worden.
(2)
Drei Chinesen-Geliiriie. X23
Die Scissura sylrica ist in ihrer ganzen Ausdehnung an der
Basis und oberen Grenze des ersten Schläfelappens bis zu ihrem
hinteren Ende mit „iS'' bezeichnet; ihre zwei Fortsätze in die
dritte Stimwindnng mit jS^ und S\ während der dritte vordere
Fortsatz derselben, welcher nach vom und unten von der Fissura
frontalis externa (Fissura frontomarginalis von W e r n i c k e j^fe^)
liegt, mit 8^ bezeichnet ist. Wo 8^ mit „fe^ zusammenfliesst,
entsteht beim Menschen eine Furche, welche der Fiss. präsylvica
der Thiere entspricht und falschlieh bei Thieren von B r o c a und
Giacomini als Centralfurche angesprochen wird. Bei unseren
drei Gehirnen kommt es in keinem zu dieser Bildung.
Die Fissura occipito-temporalis externa von Wer nicke be-
zeichne ich mit „117^, da mein Vorschlag dieselbe Wem ic keusche
Forche zu nennen, vielfach acceptirt wurde.
Der Gyrus Hippocampi („JST") ist hier mehrfach als „T***
bezeichnet und der Gyrus uncinatus („ U^) als T*, weil besonders
das erste Gehirn zu dieser altemirenden Bezeichnung auffordert.
In der Nomenclatur der gabelförmigen Hinterhauptsfurche
iJ5^, Fissura furciformis) habe ich dem Stiele der Gabel
die Bezeichnung „r«^ (Fissura retrosplenica) gegeben. Ich
empfehle diese Bezeichnung aufs Wärmste aus vergleichend ana-
tomischen Gründen, weil dieser Theil bei den meisten gyrence-
phalen Thieren allein von allen Bestandtheilen der gabelförmigen
Furche zurückbleibt, und zwar als hinterster Bogen der Fissura
coUoso-marginalis der Thiere und weil dieser Gabelstiel auch
bei abnormen menschlichen Gehirnen mit den anderen Theilen
in wechselnder Verbindung steht. Es kommt nämlich vor,
einmal, dass der Stiel der Gabel (urs^) blos mit der verticalen
Zinke, für die ich die Bezeichnung ^o^ reservire, zusammen-
hängt (s. 1. c. 4. Beob., linke Hemisphäre) und von der Fissura
calcar. geschieden ist, und ein anderes Mal, dass der Stiel
blos mit der Fissura calcarina (ncc^) zusammenhängt und von
^po*^ getrennt ist. (S. meine Mittheilung: „Demonstration eines
Verbrechergehimes. ** Mittheil. des Wiener med. Doctoren-Col-
leginms. IX. Bd., Nr. 12.)
Mit „ cci ^ habe ich die Parallelfurche der Fissura calcarina
bezeichnet Sie ist eine selten fehlende Furche, welche den Cuneus
(3)
124 Benedikt.
(„Cw") in zwei Hälften trennt und die sehr häufig mit der Fissura
parieto-occipit. interna („^o") communicirt. Sie stellt also eine
Fissura calcarina superior dar.
Ebenso kommt in den zu beschreibenden drei Gehirnen eine
Parallelftirehe mit der Fissura coUateralis („cZ") vor, welche den
Gyrus lingualis in zwei Hälften theilt. Ich habe diese „obere
CoUateralfurche" mit („cZi") bezeichnet.
Die Scissura hippocampi habe ich mit „Sfi"" bezeichnet, und
femer da mein Vorschlag, den äusseren Gyrus des vorderen Basilar-
lappens als „ Orbital windung" zu bezeichnen, vielfach acceptirt
ist, diese Bezeichnung beibehalten.
Mit „a" ist die Fissura amygdal. von Wilder bezeichnet,
i. e. der Einschnitt der basalen Scissura Sylvii nach hinten in
den basalen Mittellappen, und zwar in der Richtung, dass die
Fortsetzung in die Trennungsfurche des Gyrus uncinatus vom
Gyrus Hippocampi fallen würde. Am dritten Gehirne, in welchem
die Fissura coUateralis (oZ) durch den ganzen mittleren Basal-
läppen beiderseits durchgreift und bis an die Scissura Sylvii ge-
langt, wird die Bedeutung der Furche ganz klar (s. Fig. m, c
und d). Diese aus cZ, ^3 und a zusammengesetzte Furche re-
präsentirt zugleich den basalen Theil der Fissura limbica von
B r 0 c a.
Als gemeinschaftliche Eigenthümlichkeiten dieser drei Ge-
hirne können folgende hervorgehoben werden.
1. Verkümmerung (mehr scheinbare) des vorderen und mitt-
leren Basallappens, indem ein Theil der Orbitalwindung und des
Schläfelappens, die sonst an der Basis liegen, auf die äussere
Fläche zu liegen kommen.
2. Tendenz des Schläfelappens (inclusive des mittleren Basal-
lappens) in vier streng getrennte Windungen zu zerfallen, so dass
der Gyrus uncinatus als dritte und der Gyrus Hippocampi als
vierte erscheinen. Der Uncus gehört eigentlich zum Gyrus Hippo-
campi und nur weil beim Menschen gewöhnlich eine durch-
gehende Trennungsfurche fehlt, wurde der dritte Schläfelappen
als Gyr. uncin. bezeichnet.
3. Die Tendenz des Occipitallappens an der äusseren Fläche
in vier deutliche Lappen zu zerfallen. Am einfachsten und
(4)
Drei Chine8eii-6eliini6. 125
lebrreichsten in dieser Beziehung ist die rechte Hemisphäre des
ersten Gehirnes (s. Fig. I a). Als erste Trennnngsfnrche erscheint
die horizontale Hinterhanptsspalte („^^), als dritte ein occipitaler
Fortsatz der ersten Schläfenftirche („^i^), der auch von dem vor*
deren Theile dieser Fnrche abgetrennt sein kann nnd als zweite
Trennongsforche (zwischen 0^ nnd 0^) eine Furche (nOa^), die
zwischen ho nnd ^ eingeschaltet ist. Diese zweite äussere Occi-
pitalfiirche geht oft von der Wernicke'sehen Furche ab oder
die erste Temporalfurche gibt zwei hintere Aeste ab, wovon die
obere die zweite und die untere die dritte äussere Occipitalfurche
darstellt.
Oder die Interparietalis (ip) umkreist den hinteren Pol der
äusseren Fläche, d. h. sie läuft von oben nach unten, parallel
mit dem hinteren Rande der äusseren Fläche und gibt unter-
halb ho noch einen mit dieser parallelen Doppelquerast ab,
welcher die zweite äussere occipitale Furche («og^) darstellt
(8. Fig. m a).
4. Eine weitere Eigenthlimlichkeit ist das starke Gewunden-
sein der Centralftirche und Neigung zur Confluenz, selbst zur par-
tiellen Verschmelzung mit der Praecentralis („po") oder mit der
Retrocentralis („rc«) [s. Fig. I 4 und Fig. m b].
1. QeUbm (Fig. I or—c).
Dieses Gehirn ist von den folgenden zwei vielfach ver-
schieden. Es gehört zweifellos einem Langschädel, der zugleich
hochgradig Plattschädel war, an.
Die obere Hälfte seiner äusseren Flächen im centralen und
dem Parietaltheile bildet eine ausgesprochene obere Fläche und
der mediale Sand im Gebietet des Paracentrallappens ist nach
innen umgekippt und es ist wahrscheinlich , dass der Schädel
an seiner obersten Wölbung einen nach aussen concaven Bogen
bildete.
Das ganze Gehirn ist, besonders die rechte Hemisphäre, in
seinen Furchen architektonisch merkwürdig einfach und bildet
daher grobe Windungsziige.
Der Bau, besonders des Schläfelappens (inclusive des mitt-
leren BasaUappens), ist eine wahre Wonne ftir einen Schematiker.
Xed. Jahrbücher. 1887. 10 (6)
126 Benedikt.
Es gibt wohl kaum ein zweites Gehirn io einer anatomischeii
Saminliuig, welche die Berechtigung zur Eintheilung des Scbläfe-
himes, inclasive des mittleTen Basall&ppeus 'm 4 Gyri so sehr vor-
demonstrirt und zugleich die Identität des Gyrns Hippocampi mit
der vierten und des Gyr. nncin. mit der dritten Scbläfewindnng
so drastisch zeigt, als diese rechte Hemisphäre (Fig. 1 a).
Vit. It.
Hit den folgenden zwei Gehirnen besieht die gemeinsebafl-
licbe Eigenschaft einer scharfen Sondernng des Occipitallappens
der äusseren Seite in rier scharf geschiedene Windangen.
Drai CbIn«B«ii-G«Iiir]ie. 127
Die linke HemisphÄre (Fig. I J) zeigt in auffallender
Weise die Verschmelznng der Centralfnrche mit der praecentralen
und retrocentralen.
EKese VerschmelziiDg des Mittetotttckes der Centralfarche
mit dem Hittelstiioke der Praeeentralis und des Endsttleke« der
"fIj. U.
ersteren mit dem Endstücke der F. retrocentralie ist wohl einzig
in Beiner Art in den bisherigeD Beobachtungen.
Das antere Ende der Praeeentralis („pc") verschmilzt so
ToUständig mit dem HittelstUcke der Centralfnrche, dass von
letzterem die zwei Stimforcben (/] and f,) abgeben.
Adb der medialen Fläche der rechten Hemisphäre (Fig. I c)
ist das tiefe Eingreifen der Calloso-maiginaliB in den Qnadrat-
lappen fast bis znr Perpendionlarspalte bemerkeoswerth.
Die deotliche Zerlegung des Cimeus und des Gjr. lingnalis
in zwei Parallellappen (durch die Furche cc, und clj) ist mit
Aosnahme der liokeD Hemisphäre des dritten Gebimeg diesem
ersten Gehirne mit den folgenden zwei gemeinsun (a. Fig. I c
and d, Fig. II c and d and Fig. m c).
Das Verhültnise, dass ein Theil des Orbitallappens snf die
ännsere Fläche zn liegen kommt nnd die Fissora frontalis externa
(/») ganz auf die änssere Fläche zn liegen kommt nnd daher der
basilare Theil des Orbitallappens verktünmert erscheint, ist bei
diesem Ctehime, wenn anch nicht in extremer Weise , schon an-
gedeutet.
2. Gehirn (Fi«, ll a—d).
Die aofiiüleDdfrte Ersoheinong an den änsseren Flächen
beider Hemisphären ist das weit« Hineinragen des Orbitallappens
in dieselben. Rechts (Fig. II a) liegt schon eine Art der sehr
wenig ansgebildeteo OrbitalAirche (noi") an der änsseren Fläche,
während in der Unken (Fig. n b) die OrbitaUiirche die Grenze
zwisoben änsserer and unterer Fläche bildet.
Die beiden Centralfnrchen zeigen Verästelnngen, aber keine
Conflaenz. Die linke Hemisphäre (Fig. II h) zeigt ein Zasammen-
i der Hinterbanptsftirche [po) mit der Interparietalis.
Drei Cliiiieseii-Crehinie.
An der medialeo Fläche zeigt sieb beiderseits ein anffallend
korzer Scfaeokel der CaUoeo-mar^naliB, dagegen ein weites Dorch-
greifen dieser Forche in den PraecnneuB (Q) bis in die Mähe der
gabelförmigen Hinterhaaptospalte und beiderseits eine Tendenz
zw Bildang einer Parallelfurche zwischen der Fissura retro-
Bplenica («»") and dem Splenimu. In der rechten Hemisphäre
feblt der Zasaminenhang zwiecheo der Galcarioa
Rod der Farieto-occipitaÜB (s. Fig. II c bei +).
3. Oehlm (Fig. m a~d).
Auf beiden änsseren Hälflen fällt wieder die gewundene
und zn Zackenbildangen geneigte Centralftircbe (c) anf, doch
fliesBt dieselbe in der linken HemiBpbäre (Fig. III b) nnr mit
dem unteren Aste der Fraecentralis (pc) zoBammen. In der recbteo
Hemisphäre (Fig. m a) hingegen ist die Retrocentralis (rc)
Drei Cbiuesen-QsliiTiis.
131
genao ein zweiter Haoptast dieser Fnrclie and der notere Tbeil
der Praecentralis ebenso. An beiden Hemisphären, besonders aber
reebts liegt der OrbitaHappen mit einem starken Antbeile an der
äoBseren Fläche.
Sehr complicirt ist an der rechten Hemisphäre (Fig. III a
der Bau der Praecentralis (pc).
Ein QQterer Ast geht von der Centralis ab, der obere Ast
hingegen, der die obere Stimfiirche (/i) abgibt, fliesst mit dem
enten rorderen Arte (8') der Sylvica znaatnmen.
182 BsDedikt.
Rechte ist wieder der Schläfelappen in vier Windnngen
getbeUt nnd der mittlere Baeallappen Terkttmmert nnd der Gyras
nncinatoa {T^) znm Theil an der äneseren Fläche gelegen.
Ebenso ist die strenge Viertheilnng des Occipitallappeng an
der Anssenseite ansgeaprochen.
HOchst complicirt ist der Farietallappen gebaut. Ein Neben-
ast (I) der Parieto-occipitalis externa {po, s. Fig. in c) steht an
der äusseren Fläche mit einem vorderen Aotheile der Interparie-
talis (ip), mit der Retrocentralis und durch diese mit der Cen-
tralis in Verbindung, femer mit der Wernicke'scheQ Fnrche
(tc) nnd durch letztere mit dem hinteren Abschnitte der Inter-
parietalis, welche fast senkrecht, nahezu parallel mit der hinteren
Kante des Hinterhanptiappens herabsteigt
An der medialen Fläche (Fig. m c) ist wieder die Zwei-
theilung des Cnnens und des Gyms lingnalis durch die Furchen
eci und eil beachtenswerth und ebenso die Fortsetzung von cl
in den mittleren Basallappen als dritte Schläfenfurche und die
Endignng in der Scissura Sylvii. Die Fissura amygdal. (a) stellt
also das vorderste Endstück dar, wenn <d nnd t, zusammenfliessen
nnd in die Scissnra sylvica hineinreichen.
An der linken Hemisphäre (Fig. HI b) ist ausser der Vier-
theilnng des Occipital- und Schläfelappens, der Verktimmemng
des vorderen und mittleren Basallappens, weitere an der äuseeren
Fläche die eigenthtlmliche Durchbrechung beider parieto-occi-
;^M*,
pitalen Uebergangsfalten (PWs d^ i^^^^^^^^^ V'},^
eher dnrch die Conflnenz der PeiAw^hbI ^"^^'^'^^'iwrttrt,
den hinteren nnd unteren Pol <^^^ '^\'a^ ^'^\ vi\\\J^
parietalis (ijo), ferner mit der kurzen '«v_,^!"*'^toi(,\tiu,
(ui) und mit einem hintersten Abschnitte ^ ^''^''"^^ Vi^a^
fiirche U) , der von dem Haupttheile der \^^ ^ '^'"'>y«\v
trennt ist, zn Stande kommt. '"^^ »ii^,
Daför besteht ein trennender Windanggi^;. .
zweiten Parietalwindnng (Pj) dnrch einen hinteren xw""* **'
ersten Schiäfewindang (T^) (bei x) zwischen den \.^
nannten getrennten Tlieilen der ereten 8ehläfenfnrtlie ^n. ^
mittleren Hinterhauptswindung (Oj durchgeht. *
An der medialen Fläche fällt die Bildung der |Vi
marginalis (cm) auf. Das Hauptstiick stellt eigentUcli ^^j ,,
Fissura paracentraiis dar, mit je einem kurzen Fortsati
hinten in den Praecuneus (0 und in das Stirnhim.
Das eigentlich frontale Stlick der CaÜoso-marginalig , ^
Tom paracentralen getrennt ist , ist einem Hirschgeweihe ni,.\,t
unähnlich.
Ich schliesse hiermit die Schilderung der änsseren Fläeheti
dieser Gehirne. Ich komme vielleicht später, bei grüeserem Materiale
auf die innere Structnr zurück.
Wien, Mitte Jänner 1887.
Errata.
Pftg. 1:37. Die FiBGor em iat irrthUmlicb mit i
verbunden geieichaet (in Fig. Ic).
Pft«. 129. In Fig. Uc ist bei x die Fissur cc
während b
D Stiele der Hinterbaopt^furclie
jt po in Yetbindmig gezeichnet,
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TJeber congenitale Herzmyome.
Von
Dr. Alexander Kollsko^
Aflsisteiiten am pathologlacli-aiiatomiBolien Institute in Wien.
(Am 9. Febroar 1887 Ton der Bedaction flbemommen.)
Hiersn Tafel I.
In der am 15. Jänner 1886 stattgehabten Sitzung der
k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien demonstrirte ich mikro-
skopische Präparate von congenitalen Rhabdomyomen des Herzens,
nnd da ich wegen der grossen Seltenheit dieser Geschwulstform im
Herzmuskel den von mir beobachteten Fall einer eingehenderen
Beschreihung für würdig hielt, liess ich in dem betreffenden Sitzungs-
protokoll auf eine nachfolgende Veröffentlichung in diesen Jahr-
büchern hinweisen. Dieser Verpflichtung komme ich in dem
Folgenden nach.
Es stammten die damals demonstrirten Präparate yon Ge-
schwülsten in dem Herzfleische eines 2monatlichen Kindes, an
essen Leiche die sanitätspolizeiliche Section behufs Constatirung
er Todesursache vorgenommen worden war. Die Obduction wurde
3n Herrn Dr. Arnold Pal tauf ausgeführt und das Herz un-
littelbar nach derselben Herrn Professor Kundrat zur Verfugung
gestellt, der mich mit der mikroskopischen Untersuchung des Prä-
¥ed. Jahrbücher. 1887. 12 (D
136 Kolisko.
parates beauftragte. Der Güte des Herrn Dr. A. Palt auf ver-
danke ich die nachstehenden, dem Sectionsbefnnde entnommenen
Daten :
„Theobald Brackner, 2 Monate alt, am 14. November 1885
Morgens todt im Bette gefmiden. Sanitätspolizeiliche Section am
15. November Morgens.
Körper 55 Gm. lang, sehr mager, blass, mit nur spärlichen
Todtenflecken versehen; Bindehaut blass; Lippen vertrocknet; Hals
dünn ; Thorax fassförmig ; Unterleib stark gewölbt, grünlich verfärbt ;
Genitale und After normal; deren Umgebung, sowie die unteren
Extremitäten mit gelblich vertrockneten Massen bedeckt ; Glieder schlaff;
äusserlich keine Verletzung. Weiche Schädeldecken sehr dünn, blass;
Schädeldach von entsprechender Grösse, im Scheitel- und Stimtheile
stark verdünnt; Fontanelle 2^/3 Cm. weit; Hirnhäute sehr blass;
Gehirn sehr weich, feucht, blutarm ; seine Höhlen enge ; in den Blnt-
leitern nur sehr wenige Faserstoffgerinnsel, t Unterhautzellgewebe fett-
los ; Hautnabel, sowie Nabelgefi&sse vollkommen zurückgebildet. In der
Trachea sehr wenig Schleim, ihre Schleimhaut, sowie die des Larynx
etwas geröthet, die des Pharynx blassviolett, die des Oesophagus
blass ; Zwerchfell beiderseits am 3. Rippenknorpel ; Thymus zweilappig,
sehr blass; aus den grossen Bronchien entleert sich bei Druck auf
die Lungen sehr reichlicher zäher, eitriger Schleim; desgleichen auch
aus den kleineren; das Lungengewebe zum Theil lufthaltig, zum
Theil verdichtet, luftlos, blntreich ; die Pleura der rechten Lunge von
einzelnen Ecchymosen durchsetzt; die linke ebenso beschaffen. Am
Epicard des schlaffen Herzens einige punktförmige Ecchymosen ; die
Herzhöhlen etwas weiter; das Fleisch brüchig und blass.
Unter der linken Tasche der Pulmonalis finden
sich zwei streng umschriebene, hanfkorngrosse, 1 Mm.
erhabene, leicht höckerige, fleischige, sehr blasse
Excrescenzen.
Leber und Milz von gewöhnlicher Grösse, weich, brüchig, blutreich.
Im Magen eine geringe Menge galliger. Flüssigkeit; seine Wandung
sehr dünn und blass. Beide Nieren gewöhnlich gestaltet; ihre Kapsel
leicht ablösbar; an der Oberfläche einzelne Blutpunkte; das Nieren-
gewebe weich, graulichviolett. Im Dünndarm ziemlich reichlicher,
flockiger, hellgelber Inhalt ; Wanduug desselben allenthalben dünn ; die
folliculären Gebilde sämmtlich etwas vergrössert, innen sehr blass. Im
Colon zäher Schleim; Schleimhaut aUenthalben gefaltet; die Follikel
vergrössert und von theils rothen, theils schiefergrauen Höfen umgeben.
In der Harnblase einige Tropfen trüben Harnes."
Eine genauere Inspection des Herzens, theils am frischen,
theils am gehärteten Präparate vorgenommen, ergab noch Folgendes :
(2)
ü#ber congenitale Herzmyome. 137
In der Mitte des Ansatzrandes der linken Semilunarklappe der
Pafanonalarterie wölbt sich ein etwa banfkomgrosses, ^mndlicbes, ober-
fl^blieh warzig unebenes Knötchen vor, welches in seiner ganzen Grösse
Ober die Fläche des Endocards vorspringt nnd im Gewebe der Klappe
selbst zn sitzen seheint, jedoch mit breiter Basis dem Muskelgewebe
des Oonns aufsitzt nnd von einer Endocardschichte anscheinend über-
kleidet ist. Die annähernd kreisförmige Basis misst 3 Mm. im Durchmesser,
die Dicke des Knötchens an einem senkrecht auf die Klappenfläche
nnd parallel zum Verlaufe der Pulmonalarterie geführten Durchschnitte
gemessen beträgt 2 Mm. Rechts von diesem Knötchen, unmittelbar unter
der Oonmiissur zwischen linker und rechter Klappe, ist das Endocard
des Conus leicht vorgewölbt und an zwei Stellen mit mohnkomgrossen,
1 Mm, hoch warzig vorspringenden Knötchen besetzt. Ein zu dem
erstgefOhrten Schnitte paralleler Schnitt zeigt diese Yorwölbung und
die kleinen warzigen Vorsprünge bedingt durch ein zweites, dem ersten
an Grösse gleiches Knötchen, welches in der Musculatur des Conus
sitzend nach hinten zu noch durch eine 1 Mm. breite Muskelschichte
vom subpericardialen Zellgewebe getrennt ist. Ein Schnitt zwischen
den beiden beschriebenen hanfkomgrossen Knötchen zeigt, dass sie
durch eine circa 1 Mm. dicke Schichte Muskelsubstanz von einander
getrennt sind. Ferner findet sich l^/s Mm. unterhalb des zuletzt be-
schriebenen Knötchens im Herzfleische noch ein drittes, welches durch
eine 1 — 2 Mm. dicke Muskelschichte von jenem getrennt, als ein
spitzovoider, fast 8 Mm. langer Körper von rechts unten nach links
oben ziehend unter dem zweiten Knötchen liegt, bis an das Endocard,
dasselbe kaum merklich verwölbend, reicht und nach hinten durch
eine 1 Mm. dicke Muskelsehichte von dem subpericardialen Zellgewebe
getrennt ist. Die rechts liegende Spitze desselben liegt 5 Mm. unter
der Mitte des Ansatzes der rechten Semilunarklappe, die linksliegende findet
sieh 1 Mm. hinter der Basis des ersten Knötchens. In seiner Mitte zeigt
sieh dieses Knötchen so von vorne nach hinten zu abgeflacht, dass es
auf dem zweiten der erwähnten Schnitte als ein 6 Mm. langer, 2 Mm.
breiter Streif schief von unten nach oben die ganze Conusmusculatur
durchsetzt, aussen nur durch eine ^/^ Mm. breite Muskelsehichte vom
subpericardialen Zellgewebe getrennt. Ausser diesen 3 Knötchen finden
sieh theils im obersten Theile des Septum ventrioulorum, theils in der
vorderen Wand des rechten Ventrikels einige (5 — 6) mohnkomgrosse
ähnliehe Knötchen, die mitten in die Musculatur eingeschlossen erscheinen.
Am linken Herzen, sowie in den übrigen Theilen der Musculatur des
rechten Herzens finden sich trotz genauer Durchsuchung mittelst zahl-
reicher Schnitte keine ähnlichen Gebilde.
Von all den erwähnten Knötchen wurden unter Anwendung
der Celloidinmethode mittelst Microtom Schnitte angefertigt , u. zw.
12 * <3)
138 Kolisko.
Ton den drei grösseren entsprechend den angegebenen auf die
Elappenflächen senkrecht geführten Schnitten. Das Resultat der
mikroskopischen Untersuchung war folgendes:
A. Loapen-Vergrösaening.
An mit Carmin oder Hämatoxylin-Eosin geerbten Präparaten
stechen die kleinen Geschwülste durch eine bedeutend hellere Farbe
Ton dem dunkler gefärbten Herzmuskel ab. Ausser diesem Farben-
«nterschiede grenzen sie sich aber auch durch eine gradlinig yerlaufende
Orenze scharf von den Muskelbflndeln ab, so dass es den Anschein
hat, als wftren sie, aus einem fremdartigen Gewebe bestehend, in die
Musculatur eingelagert und stünden in keiner Verbindung mit deren
Fasern. Wo die Geschwülstchen an der Oberfläche Yorragen, sind
sie aber von einer dem Endocard entsprechenden fibrösen Schichte
41berzogen. Fig. 1 und 2 geben bei dreifacher Vergrösserung ein Bild
über die bei der makroskopischen Beschreibung erwähnten Verhältnisse.
Fig. 1 ent^rioht dem senkrecht auf die Conuswand, durch die Mitte
der linken Pulmonalklappe und parallel zur Pulmonalarterie geführten
Schnitte : „P ist die Innenflache der Fulmonalis, K die linke Pulmonal-
klappe, ^ t^ ti und ^4 sind die Tumoren, M bezeichnet die Herz-
musculatur." Fig. 2 entspricht dem 2. Schnitte, welcher parallel zum
1. durch die Commissur zwischen linker und rechter ELlappe geführt
wurde: „P und A bezeichnen Pulmonalis und Aorta, K die rechte
Pulmonalklappe, ^ und t^ die Tumoren, M die Herzmnsculatur.'
B. SOfiftche Vergrösserimg. Fig. 3.
Das Gewebe, aus welchem die kleinen Geschwülste bestehen,
erscheint als ein zartf aseriges Balkenwerk mit zahllosen Lücken, wodurch
eine netzartige oder vielmehr schwammige Anordnung entsteht, welche
den Eindruck einer cavemösen Structur darbietet. Die Grösse der
Lücken dieses Balkenwerkes ist eine sehr variable. Dieselben sind
meist von ovaler Form, die grösseren 2 — 4mal länger als breit, von
den kleineren sind viele kuglig. Der Längsdurchmesser dieser Lücken
beträgt an einigen ganz vereinzelten in den zwei grössten Knötchen
bis 0*15 Mm., an der Mehrzahl der grösseren Lücken aber geht er
nicht über 0*08 Mm. hinaus und ist an den die Hauptmasse bildenden
kleinsten Lücken circa O'Ol Mm. lang. Die ovalgeformten Lücken
liegen mit ihren Längsdurchmessem in je einem Knötchen einander
parallel und in der Regel lässt sich auch an den grösseren Knötchen
constatiren, dass ihre Lücken mit dem Längsdurchmesser auf der Richtung
der benachbarten normalen Muskelbündel senkrecht stehen. Eine Com-
manication dieser Räume scheint nicht zu bestehen, desgleichen ist
(4)
ü^ber con^nüale Heixmyome.' 139
über einen etwaigen Inhalt derselben nicht in's Klare zu kommen, sie
Behemen vielmehr leer zu sein.
In dem zarten Balkenwerke selbst, welches mit Lithioncarmin
Uassroth, mit Pioroearmin gelblich, mit Hftmatoxylin-Eosin rosa geftrbt
enebeint, sieht man eine ziemlich reichliche Anzahl von blassroth^
lespective blan gefärbten Kernen, doch ist dieselbe, mit dem enormen
Kemreichthum der benachbarten Mnskelbtlndel verglichen, relativ eine
geringe. Dnreh die zahlreichen, anscheinend leeren Lücken and die
geringe Zahl der Kerne findet jene blassere Färbnng der Geschwülstchen
ihre Erklärung. Doch findet man, wenigstens in allen grösseren Knötchen,
mehrere kemreiche und daher auch intensiv gefärbte Stränge entweder
mitten im Tnmor oder von der Peripherie hereinziehend, welche sich
als Gefäsflstränge erkennen lassen, was an den stellenweise sich
findenden Querschnitten solcher Stränge noch deutlicher sichtbar ist.
Die Grenze zwischen dem Herzmuskel und den Geschwülsten ist nicht
überall eine so scharfe, wie sie sich nach der Loupenvergrösserung
hätte erwartoi lassen. Wenn auch an vielen Stellen eine vollkommen
scharfe Abgrenzung sich zeigt, indem die benachbarten Muskelbündel
an der Geschwulstmasse vorbeiziehen oder gar durch ein zartes Binde-
gewebsseptnm von ihr getrennt sind, so ist doch andererseits sowohl
an den grösseren, als auch namentlich an den kleioeren Tumoren ein
üebergeben der normalen Muskdfasem in das Netzwerk der Geschwulst-
masse sehr häufig zu constatiren.
Ausser den bei der makroskopischen Besehreibung erwähnten
Knöteh^i sieht man aber auch bei dieser Vergrösserung mehrere be-
deutend kleinere, ganz den übrigen in Bezug auf blassere Färbung
imd netzartige Struetur ähnliche Knötchen, welche zwischen den be*
sehnebenen in der Musculatnr eingebettet sind und an welchen das
Zusammenhängen ihres Maschenwerkes mit den normalen Muskelfasern
am deutlichsten zu sehen ist.
C. 500fache Vergrösserung.
Das Balkenwerk, welches bei der schwachen Vergrösserung ein
faseriges zu sein schien, zeigt fast durchwegs eine zwar sehr zarte, aber
voUkonmien deutliche Querstreifung , und erweist sich dadurch als
ein musculöses. (Diese Querstreifung lässt sich bei Anwendung stärkster
Linsensysteme in kleinste kugelige Kömchen auflösen, welche in Längs-
«nd Querreihen angeordnet erscheinen, Fig. 4.) Im Polarisations-
mikroskope zeigt sich, dass das Maschen werk der Tumoren doppelbrechend
ist. Herr Professor Sigm. Exner hatte die Freundlichkeit, die Unter-
suchung auf doppelbrechende Eigenschaften vorzunehmen und dieselben
zn constatiren. Es sei mir an dieser Stelle gestattet, ihm meinen Dank
auszusprechai.
(5)
140 Kolisko.
Dieses Balkenwerk wird aber nieht, wenige später zu erwähnende
Stellen ausgenommen, von Muskelfasern gebildet, sondern von grossen
platten und sehr dünnen Mnskelzellen, welche membranöse Umhüllungen
jener Lücken darstellen und deren Seitenansicht jene bei schwächerer
Yergrösserung faserig erscheinenden Balken vortäuscht. Man sieht nämlich
an vielen und namentlich an den kleineren Lücken bei tieferer oder
höherer Schraubenstellung eine untere oder obere membranöse Begrenzung
der Lücke, welche allmälig in die seitliche Wand übergeht, so dass jene
elliptischen oder kreisförmigen Lücken als ovoide, respective kugelige
Bäume erscheinen. In Folge der geringen Dicke dieser membranösen
Wände und in Anbetracht der Grösse der von ihnen umschlossenen Räume
ist aber an den meisten Lücken die obere oder untere Wand nur
unvollständig im Schnitte enthalten und es sind dann nur mehr oder
weniger breite Säume derselben von den seitlichen Wänden aus nach
unten oder oben zu verfolgen, die dann meist zackig, seltener geradlinig
nach dem im Schnitte als Lücke erscheinenden Hohlräume zu vorstehen.
Durch Anlegung von Schnittserien gelingt es, an allen, auch an den
grösseren Lücken nachzuweisen, dass sie nach allen Raumesrichtungen
hin von den membranösen Muskelzellen umgrenzt werden.
um über die Form dieser Mu^kelzellen mehr in^s Klare zu kommen,
als wie es an den Schnitten möglich war, versuchte ich die Isolirung
derselben durch Kalilauge. Ein Stückchen der Geschwulst von der
linken Pulmonalklappe wurde mittelst des Präparirmikroskopes möglichst
sorgfältig in Sb^i^ Kalilauge zerzupft. Es zeigte sich, dass die Isolirung
der Zellen, wenn auch nicht vollständig, so doch an vielen Stellen
genügen war. Dieselben sind platte, sehr dünne Zellen mit zahlreichen,
ebenfalls membranösen Fortsätzen an ihrer Peripherie. Die Qnerstreifung
dieser Zellen ist an dem mit KOH behandelten Präparate sehr schön
2u sehen, u. zw. an den Fläohenbildem der Zellen, respective ihrer
Ausläufer, als jene regelmässige Quer- und Längsreihen bildende
Körnung, an den Seitenansichten als quere Streifung. An letzterer
lässt sich auch leicht die Doppelbrechung nachweisen, indem bei ge-
kreuzten Nicols diese Ränder hell erscheinen. In diesen Zellen findet
sich ein ovaler, ziemlich scharf contourirter, grosser Kern. Uebrigens
lägst sich aueh in den Schnitten die beschriebene Form der Zellen
nachweisen, allerdings an einzelnen Schnitten nur an dafür günstigen
Stellen, durch die Verfolgung an Serienschnitten aber überall. Die
Zellen sind gegeneinander in der Weise gelagert, dass ihre Ausläufer,
mit den Rändern aneinander stossend, anscheinend durch dieselben mit-
einander vereinigt sind.
Die Hohlräume, welche von all diesen membranösen Zellleibem und
Ihren Ausläufern umschlossen werden, sind von denselben allein begrenzt
und es gelingt bei der sorgfUtigsten Durchsuchung nirgends, eine
endotheliale Auskleidung derselben aufieufinden. Auch ist es nicht
<fl)
1
Ueber congenitale Honsmyome. 141
mOglielii eine Gominiiiiioatioii dersel][>6]i untereinander nachzuweisen, selbst
niebt an den Serienschnitten. Dass sie vollständig leer sein sollten, wie es
bei sdiwächerer Vergrössemng sohlen, erweist sich ferner als nioht ganz
richtig, indem sich in vielen, namentlich der grösseren Räume, eine
sehr feinkörnige Masse findet, welche durch die Celloidinimbibition im
Schnitte festgehalten wurde. Dieselbe füllt nirgends die Räume voU-
stindig ans, sondern liegt entweder in der Mitte oder an der Wand
der Lücken. Die Kömchen dieses Inhaltes sind ungefiürbt geblieben.
Es macht den Eindruck, als ob eine seröse eiweissarme Flflssigkeit,
wdche die Hohlräume ausgefüllt hatte, durch die Härtungsflflssigkeit
zur G^erinnnng gebracht worden sei. Ganz vereinzelt — ich konnte
es an den zahllosen durchmusterten Schnitten etwa 5mal sehen —
findet sieh auch in den grössten der Hohlräume und in jener kömigen
Masse eingeschlossen ein homogenes kugliges Gebilde, welches mit
Carmin oder Hämatoxylin leicht sich imbibirt hat.
Als sehr reichlidi erweist sich die Geftssversorgung der Ge-
sehwfllstehen ; dieselbe ist namentlich an den kleinen Tumoren sehr
in die Angen fallend, indem an denselben die feinsten Oapillaren mit
Blutkörperchen gefallt sind, während in den grösseren nur die mächtigeren
Geftase Blut führen. Doch lässt sich auch in diesen der Reichthum
an Gapillarrai durch die hintereinandergereihten, im Vergleiche zu den
blassen Mnskelkemen intensiv gefilrbten, spindeligen Keme erkennen,
welche zwischen den membranösen Muskelzellen in den Wänden der
H<dilräiime sehr häufig sichtbar sind. Dass diese Keme OapillargefiUBen
ai^hören, geht aus dem Vergleiche mit den vom Blut iigicirten
CapiSaren der kleineren Geschwülste noch deutlicher hervor. Ausser
diesem Capillargefitosnetz finden sich auch noch dicke, fibröswandige
und kornreiche grosse (Jeftsse, die theils der Länge nach, theils der
Quere nach durchschnitten sind, und welche in die benachbarte nor-
male Museulatur zu verfolgen sind.
An den Randpartien der Tumoren erweist sich das Verhältniss
ihrer Substanz zu der benachbarten Museulatur, respective zu dem
£ndocard folgendermassen. Es steht das musculöse Fachwerk an den
klttneren Knötchen mit der Museulatur des Herzens in directem Zu-
sammenhange, indem die Fasern des Herzens an der trotzdem aber
noch immer scharfen Grenze sich plötzlich in das Netzwerk aufzulösen
beginnen, nur an den äussersten Randpartien noch die Dicke bei-
behaltend, sofort aber in jene membranösen Zellen übergehend. Dieses
Verhältniss findet sich auch an vielen Stellen der Peripherie äer grösseren
Knötchen, doeh fehlt meistens an denselben dieser Zusammenhang, wo
dann die Oesehwulstsubstanz von der des Herzmuskels meist durch
zartes Bindegewebe getrennt ist. — Gegenüber dem Endocard ver-
halten sich die Knötchen, u. zw. die drei grösseren, die ja allein bis
an*s Endoeard rächen, so, dass die zwei stark gegen die Herzhöhle
(7)
■T?rj
142 Koliiko.
vorspringenden das Endoeard nicht allein vorwölben, sondern aneh
dnrdiwuchem nnd jene kleinen warzigen Erhebungen auf der Oberflilche
dieser Knötchen, vom Endothel allein bedeckt, auf dem Endoeard auf-
sitzen oder nur mehr von einigen Fasern desselben flberdeckt sind.
Die Bindegewebsfasern des Endocards sind an diesen Stellen durch das
cavemöse Muskelnetz auseinandergetrieben. Das dritte Knötchen erscheint
vom Endoeard überzogen, ohne in dasselbe hineinzugreifen.
Endlich wftre noch zu erwfihncD, dass in den centralen Partien
jenes Knötchens, welches in der Mitte des Ansatzes der linken Pulmonal-
klappe sitzt, die cavemöse Structur weniger deutlich ist als in seinen
peripheren Partien und als in den anderen Knötchen, sondern dass
daselbst jene Lflcken nur als schmale Spalträume zwischen den Zellen
zu erkennen sind, welch letztere mehr den Eindruck von Fasern machen.
Die Kerne sind aber an diesen Stellen im Vergleich zu den normalen
Muskelfasern ebenso spärlich wie an den cavemösen Partien, die Quer-
streifiing ist ebenfalls sehr deutlich. Ein Zupfpräparat in d5®/o KOH
zeigt, dass aus diesen faserigen Stellen Muskelzellen sich isoliren lassen,
welche mehr den bekannten kurzen Querstflcken der Herzmuskeln
ähnlich sind.
Es kann keinem Zweifel nnterliegen, dass die beschriebenen
kleinen Tumoren des Herzfleisches aus quergestreifter Muskel-
snbstanz von eigenthlimlicher cavemöser Anordnung bestehen. Die
zwar sehr zarte, aber doch allenthalben sicher zu constatirende
Qnerstreifung jenes Fachwerkes nnd seine doppelt brechenden
Eigenschaften erweisen dies zur Genüge. Es könnte nor die
Frage aufgeworfen werden, ob denn diese Muskelsubstanz die
Bedeutung einer neugebildeten habe und ob dieselbe nicht vielmehr
ein Theil der ursprünglichen Musculatur sei, welcher durch einen
eigenthümlichen degenerativen Process zur Bildung geschwulst-
ähnlicher Knötchen gebracht worden sei. Oegen die Annahme
eines solchen Degenerationsprocesses lässt sich nun Folgendes an-
fhhren:
Vor Allem ist es mit dem Begriffe „Degeneration" vollkommen
unvereinbar, dass ein derselben verfallendes Gewebe die ihm vom
Nachbargewebe, hier also von dem fibrösen Endoeard, gegebene
Grenze durchbricht, dasselbe durchsetzt, ja sogar jenseits über-
wuchert. Ein solches Verhältniss ist aber zweifellos hier vorhanden,
denn an den zwei grösseren Knötchen ist ja das Endoeard von dem
cavemösen Muskelgewebe durchsetzt, seine Fasern sind von ihm
auseinandergeworfen und nur das Endothel überdeckt noch die
(8)
I z^
üeber congenitale Hersmyome. 143
warzig yorspringenden kleinen Answüchse anf der Oberfläche
der Knötchen. Femer sind aber auch die so dentlich sichtbare
Qaerstreifong der Zellen, die Erhaltung der Zellkerne, die reichliche
Gefassyersorgang Momente, welche mit der Annahme eines dege-
nerativen Vorganges sich nicht leicht vereinigen lassen. Endlich
ist dagegen anzuführen, dass vollkommen analog gebaute, ebenfalls
als Myome beschriebene Geschwülste des Herzens bekannt sind,
welche den Charakter der Neubildung insofeme noch deutlicher
zeigten, als sie zu einer viel bedeutenderen Grösse herange-
wachsen waren.
Desgleichen wäre der Gedanke von der Hand zu weisen,
dass eine circumscripte Hyperplasie des Herzmuskels vorliege,
denn zum Wesen einer Hyperplasie gehört doch vor Allem
die Bildung gleichartiger Elemente. In den beschriebenen Fällen
aber ist eine so gleichmässige, auch an den allerkleinsten Tumoren,
an diesen sogar am deutlichsten, sichtbare Abweichung vom nor-
malen Gewebstypus des Herzmuskels zu sehen, dass schon in
Folge dessen an eine Hyperplasie nicht gedacht werden kann.
Es liesse sich übrigens auch noch gegen diese Auffassung in^s
Fdd führen die scharfe Abgrenzung der Tumoren gegenüber dem
Herzmaskel, die bereits erwähnte Durchwucherung des Endocards
und endlich die Verschiedenheit, welche diese Geschwülste gegenüber
einem von Eantzow und Virchow beschriebenen Falle von
eongenitaler circumscripter Hyperplasie des Herzmuskels in Folge
von im Muskel liegenden miliaren Gummen besitzen.
Es bliebe denmach wohl nur die Annahme einer echten
Geschwolstbildung übrig.
Da aber die Geschwülstchen nicht allein aus der querge-
streiften Muskelsubstanz bestehen, sondern ein Hauptantheil von
den zahlreichen Hohlräumen derselben gebildet wird, diese aber
die Deutung von Gefässräumen erfahren und dann die Tumoren
als Ctofässneubildungen mit secundärer Veränderung des Muskels
mfgefasst werden könnten, so bedarf auch die Möglichkeit einer
imurtigen Auffassung einiger Worte.
Da weder an den allerkleinsten, nur wenige Hohlräume
»ithaltenden Tumoren, geschweige denn an den grösseren eine
Spur von Blut oder Blutpigment als Inhalt jener Räume zu ent-
(9)
■wr
144 Kolisko.
decken ist, da auch an keiner der Lücken eine endothelartige
Auskleidung wahrzunehmen ist, da endlich ein reichliches capUlares
Gefassnetz mit Blut iigicirt in den Wänden der Hohlräume sich
findet, ohne dass irgendwo ein Uehergang dieser Gefasse in die
Lücken zu constatiren ist, kann a priori die Auffassung der
Hohlräume als Blutgefässe und dem zu Folge auch die Annahme
einer Blutgefässgeschwulst als ausgeschlossen betrachtet werden.
Auch als Lymphgefässe könnten jene Lücken nicht aufgefasst
werden, denn das vollständige Fehlen einer endothelialen Aus-
kleidung, sowie auch der offenbar eiweissarme, wohl seröse Inhalt
der Räume lassen es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass
man es mit erweiterten Lymphgefässen zu thun habe.
Es kann demnach die Geschwulstbildung nur durch eine
Neubildung von quergestreifter Muskelsubstanz bedingt sein, welche
als Myoma striocellulare (Virchow) oder Rhabdo-
myoma (Zenker) zu bezeichnen ist
Die Structur der besprochenen Myome ist aber eine wesentlich
andere, als wie wir es an den Myomen und Myosarcomen der
Niere, des Hodens etc. oder in den, quergestreifte Muskel ent-
haltenden Partien von Teratomen zu sehen gewohnt sind. Das
Ungewöhnliche liegt in der eigenthümlichen Anordnung der mem-
branös gebildeten Muskelzellen zu einem Fachwerke, wie es ja
an Myomen anderer Organe niemals beobachtet worden ist. Diese
Abweichung ist aber offenbar begründet durch die Localität, an
der die beschriebenen Myome sich entwickelt haben.
Es sind ja diese Geschwülste aus dem Herzmuskel herror-
gegangen, einem Muskel, der durch einen netzartigen Zusammenhang
seiner Elemente ganz wesentlich von den anderen Muskeln des
Körpers verschieden ist. Demnach müsste aber das Herzmyom
stets in so eigenthümlicher Weise gebaut sein; und in der That
findet dies sowohl in der Uebereinstimmung, welche die in der
Literatur bis jetzt bekfinnten Fälle von Herzmyomen mit dem von
mir beschriebenen Falle zeigen, als auch in der Histogenese des
Herzmuskels seine Bestätigung
Es finden sich in der Literatur 5 FäUe, welche entweder
als Herzmyome beschrieben^ oder als solche von anderen Autoren
gedeutet worden sind ; aber nur bei dreien ist die Auffassung der
(10)
lieber congenitale HerEmyome. 145
betreffenden Geschwülste als Myome eine gerechtfertigte, während
in den 2 anderen Fallen eine solche Deutung gewiss unzulässig ist.
Es führt mich dies zu einer Besprechung der erwähnten
FäDe. Des leichteren Verständnisses halber will ich eine kurze
Wiedeipibe des Wesentlichsten dieser Fälle vorausschicken.
Fall Beoklin^hatLsen. ')
Neugeborenes Kind, kurz nach der Geburt gestorben ; im Herz-
fleisehe mehrere theils nach aussen, theils nach innen prominirende
Tunoren; die grösseren in den Wänden der Ventrikel, der grösste
tanbeneigross ; alle ziemlich scharf von der Muskelsubstanz sich ab-
setzend, von blasserer Farbe und von dichterer Consistenz als dieselbe.
Bei frischer Untersuchung platte, theils spindelige, theils ver-
ästelte Zellen leicht zu isoliren ; dieselben besitzen einen grossen elliptischen
Kern mit glänzendem Eemkörperchen, liegen sehr dicht nebeneinander
und zeigen eine regelmässige Anordnung kleiner Körnchen in parallelen
Linien, eine deutliche Querstreifnng. Am gehärteten Präparate zeigt
sieh, dass diese platten Zellen sich fast überall so aneinander legen,
dass sie die Wände von Röhren bilden, deren Querdurchmesser im
Allgemeinen dem einer quergestreiften Muskelfaser gleich kommt ; keine
eptthelartige Auskleidung dieser Röhren ist zu erkennen, ebensowenig
eine Communication derselben untereinander ; Aber die Beschaffenheit des
froheren Inhaltes der Röhren lässt sieh kein Anhaltspunkt gewinnen.
Im Gehirne eine grosse Zahl von Sclerosen (Gliome).
Fall Virchow. ')
Neugeborenes Sand von guter Ernährung, mit multiplen Haut-
gesehwUlsten. Das Herz nach der Beschreibung Virchow 's, dem es
ah Spiiituspräparat zugesendet worden war, 5 Om. hoch, 4*3 Cm. breit,
Bamentlioh rechts voluminös und halbkugdlg ; die linke Hälfte, durch
eine tiefe Incisur an der Spitze abgegrenzt, mehr das Aussehen eines
•Anhanges zeigend; dureh eine Reihe rundlicher Vorragnngen ist die
Oberfläche, zumal rechts um die Spitze, links um die Basis höckerig;
diese Vorragungen entsprechen auf Durchschnitten rundlichen, bis
1*5 Gm. Durehmesser besitzenden, sehr dicht und gleichmässig aus-
0 Monateohrift 1 Gebnrtakimde. Bd. XX, pag. 1.
Yttrhandliuigeii ' der Berliner sebnrtshilfl. GesellBchaft. 1863, Heft XV,
pag. 73.
Die letsteren waren mir leider nicht zogänglich, die obigen Daten stammen
ans der Konatsschrift 1 Ctebnrtskunde.
*) Virchow '8 Archiv, Bd. XXX, pag. 468: ^Congenitale cayemöse Hyome
des Henens."
(11)
146 Kolisko.
sehenden, leicht auslöebaren Geschwülsten. An den Mnscnli pectinati
des rechten Vorhofes bis hanfkorngrosse Auswüchse der Fleischbflndel
sitzend. In der Höhle des rechten Ventrikels, dieselbe fast ausfüllend,
zwei unregelmässig kugelige, lose den Papillarmuskeln anhängende,
Thromben ähnliche Gebilde, das eine kirschengross, das andere bohnen-
gross, beide dicht znsammendrttckbar , scheinbar porös, sonst ganz
gleichförmig ; im Septum ein ähnlicher kirschgrosser Knoten von derber
Gonsistenz, in den Ventrikel halbkugelig vorragend ; an den Papillar-
muskeln und den Trabeculae cameae hanfkorngrosse flachrundliehe
Auswüchse, welche vom Endocard überzogen sind. Im linken Herzen
mehrere grosse Knoten im Septum unter dem Aortenostium, kleine an
den Trabekeln der Herzspitze und besonders grosse, so ein kirsch-
kemgrosser, frei vortretender Knoten, am vorderen Papillarmuskel.
Mikroskopisch an allen Tumoren derselbe Befund. Dieselben
bestehen aus einem losen Maschenwerke von cavemösem Bau, das bei
schwacher Vergrösserung aus fibrösen Balken zusammengesetzt scheint,
welche rundliche und unregelmässige, scheinbar leere Räume bilden.
Nur da erscheinen diese Balken breit, wo sie seitlich umgelegt oder
verschoben sind. Bei starker Vergrösserung lösen sich alle Septa und
Balken in musculöse Bänder auf mit sehr weicher Querstreifung auf
Flächen- und Seitenansicht. Diese Querstreifung von kleinen blassen
Kömchen gebildet, die auch der Länge nach in bestimmten Reihen
geordnet sind. Von Strecke zu Strecke grosse runde oder eiförmige
Kerne mit Kemkörperchen. Auf der schmalen Kante und bei Falten-
bildung treten die Querstreifen oder Kömer schärfer hervor. Auch
bei starker Vergrösserung scheinen jene Räume leer zu sein ; nur an
einzelnen^ aus der Tiefe entnommenen Schnitten finden sich darin blasse,
scheinbar homogene, verschieden grosse Kugeln.
Fall Kantzow-Virphow. 0
Achtmonatliche, todtgeborene Fmcht, von einer syphilitischen
Mutter herstammend. In den Lungen weisse Pneumonie. Am Herzen
findet sich quer über dem Conus der Pulmonalis, kurz vor dem Ostium/
pulmonale eine circa ^/^ Zoll breite, hart anzufühlende, flache, in der
Mitte ziemlich stark ansteigende Oeschwulst, welche gegen die Ränder
allmälig in das Nachbargewebe verstreicht, ohne dass irgend eine
scharfe Orenze zu erkennen ist. An dem, in der Mitte 3 — 4 Linien
dicken Durchschnitt ergeben sich die innersten Muskellagen fast ganz
unverändert, gegen die Herzhöhle zu ist kein Vorsprung zu sehen.
Im Uebrigen lässt keine andere Stelle des Herzens eine Abweichung
^)Virchow's Archiv, Bd. XXXV, pag. 211: „Congenitales, wahrscheinlich
syphilitisches Myom des Herzens.*'
(12)
Ueber oongenitale Hensmyome. 147
erkenneD. Sehon änsserlieb bemerkt man an der Geschwulst unter
dem Perieard kleine rundliche gelbweisse Flecke, in ziemlich regel-
mässigen kleinen Abständen im Oeschwulstgewebe zerstreut. Auf dem
Durehsohnitte sind dieselben in der ganzen Dicke der Anschwellung
zu finden, jedoch weniger regelmässig und nicht überall als Punkte,
sondern hie und da auch als Striche und Linien. Schon dem blossen
Auge erseheint ihr Gewebe dichter als die übrige, ihrem Ansehen nach
kamn von der übrigen Herzsubstanz sich unterscheidende Geschwulst-
Substanz.
Bei mikroskopischer Untersuchung zeigt sich diese letztere ganz
aus neugebildeten quergestreiften Muskeln zusammengesetzt, welche
sidi von der normalen, aus den gewöhnlichen schmalen rundlichen
Primitivbflndeln bestehenden Musculatur dadurch unterscheiden, dass
sie ausschliesslich aus platten, 3 — 4mal breiteren, quergestreiften Muskel-
zellen bestehen, welche, 2 — 4mal länger als breit, regelmässig grosse
Kerne mit Kemkörperchen enthalten und an den langen Enden in
mehrfache spitzige, meist kürzere Fortsätze auslaufen. Die Querstreifung
wird von Kömeiieihen gebildet. Im Umfange jener weissgelben Punkte
und Streifen ist eine durch Eemwucherung und Granulation bezeichnete
Wucherung zu sehen, welche nach innen durch Fettmetamorphose
zerfUlt und im Centrum eine ziemlich amorphe Detritusmasse hinterlässt
(miliare Gnmmen).
Fall Skrzeozka. 0
Ein kräftiger, angeblich früher stets gesunder 21jähriger Bauer
wurde von einem 12jährigen Knaben im Laufe verfolgt, ergriffen und
zu Boden geworfen, in demselben Augenblick rOchelte er einige Male
und starb. Bei der Section findet sich : Gedunsenes Gesicht, Auftreibung
des Unterleibes, livide Färbung des ganzen Körpers, die blau durch-
seheinenden Hautvenen ein Netz bildend, merklich vorgeschrittene
Yerwesnng; äusserlich keine Verletzung, einige Narben an den Fuss-
geienken und der rechten Clavicula. Anhäufung von dunklem flüssigen
Blute in Venen und Sinus der Kopf höhle; blutiges Serum an der
Schädelbasis und im Wirbelcanal; totale schwielige Anwachsung der
linken Lunge, fädige Adhäsionen der rechten ; sechs Unzen schwarzes
dOnnflflssiges Blut in der rechten Pleurahöhle ; hochgradige Blutttberfüllung
in beiden Lungen, namentlich in der linken ; Adhärenz des Herzbeutels
an die linke Pleura; Verwachsung des Herzbeutels mit dem Herzen;
inlagerung von Kalkplatten zwischen dieselben. Das Herz blieb un-
röffhet, wie aus Skrzeczka's Beschreibung hervorgeht und wurde
Spiritus aufbewahrt. Bei der drei Monate nach der Section von
krzeczka, dem das Präparat zugeschickt wurde, vorgenommenen
*) Virchow's Archiv, Bd. XI, pap. 181: „ ESigenthftBÜiclie cavernöge
itartnng der MuBCulatnr des Herzens.^
(13)
148 Kolisko.
üntersachong findet sieh Folgendes : Gewicht des mittelgrossen Herzens
326 Gramm ; v511ige Verwachsung der Pericardialblätter ; Einlagerung
kalkiger Platten zwischen dieselben; die Wand des linken Ventrikels
gleicht auf dem Durchschnitte völlig einem durchschnittenen feinen
Badeschwamm und entspricht so ziemlich den Brück e'schen Abbildungen
der eavemösen Amphibienherzen. Zahlreiche, dicht nebeneinander
liegende, Stecknadelkopf- bis kleinbohnengrosse Höhlen liegen nämlich
in der gelbbräunlichen Muskelsubstanz, die grösseren Höhlen liegen nach
aussen zu, die grössten unter dem Pericard ; von den letzteren sind manche
durch feine, von einer Wand zur anderen gehende Häutchen und Fädchen
unvollkommen in mehrere Zellen getheilt; die Höhlen sind, nachdem
der sie füllende Spiritus ausgelaufen ist, leer; sie stellen nur Lücken
der Muskelsnbstanz dar, indem auch nirgends eine auskleidende Membran
nachweisbar ist; in einer einzigen subpericardial liegenden Höhle ist
etwas geronnenes Blut ; in der Höhe des Sulcus circularis, ^/^ Linie unter
dem Pericard, findet sich ein gelber, scharf abgegrenzter erbsengrosser
Fleck. Dieselbe cavemöse Veränderung der Musculatur findet sich
am Septum ventriculorum, femer, aber in geringerem Grade, in der Wand
des rechten Ventrikels, endlich in den Papillarmuskeln des linken
Ventrikels ; die Klappen sind normal ; die Wand des linken Ventrikels
etwas hypertrophisch, sonst die Herzdimensionen nahezu normal ; kein
Atherom an den Arterien; normale Coronararterien. Mikroskopisch
wurde untersucht der in einer der grösseren Höhlen enthaltene Spiritus,
er zeigt ausser Fetttröpfchen nichts, was auf den muthmasslichen
Inhalt der Höhle hätte schliessen lassen ; femer die innerhalb der grösseren
Höhlen ausgespannten Häntchen und Fädchen, sie bestehen aus ge-
locktem Bindegewebe, untermischt mit Fetttröpfchen; femer das Blut-
gerinnsel der einen erwähnten Höhle, es zeigt mit Blutfarbstoff durch-
tränkte Faserstoffgerinnungen ; femer die Musculatur, sie ist allenthalben
besonders im linken Ventrikel hochgradig verfettet, sehr brüchig, bei
der Zerfasemng nur kurze Trümmer von Muskelbündeln darzustellen;
endlich der erwähnte gelbe Fleck, er besteht aus Bindegewebe mit
dazwischen gelagertem Fett, theils frei als kleine Tröpfchen, theils in
grossen Zellen eingeschlossen.
Fall Hlava.^
14 Tage altes Kind ; wegen plötzlichen Todes sanitätspolizeiliche
Section. Am Herzen findet sich, auf der äusseren Peripherie der linken
») Sbornik lökafakj^, I. Bd., 3. Hefk, Juli 1886, „Rhabdomyom lev^ho
srdce^. loh entnehme die Daten über diesen Fall theils einer üebersetznng der
Hlava'schen Publication, theils bemhen dieselben auf eigener Beobachtung an
mikroskopischen Präparaten, welche Herr Professor Hlava mir zuzuschicken
die Freundlichkeit hatte.
(14)
Ueber congenitale Henrnyome. ^49
Kammer breit aa£sitzeiid, ein eiförmiger, 4 Cm. langer, in der Mitte
3 Cm. breiter, vom Salcus annularig bia zur Herzspitze reichender
Tomor. Dersdbe grenzt sich vom Herzen dnroh eine von der Basis
der Aorta zur Herzspitze and auf die hintere Wand ziehende Furehe
ab. Durch diese Furche hat es den Anschein, als wenn zwei Herzen
in eines yerschmolzen wären, an dem nur die Spitze gespalten blieb.
Der Tumor ist vom Epicard überzogen. Auf seinem Durchschnitte
erseheint er weich, blutreich, blassbraun, aber lichter als die Herz-
mnseulatur gefärbt, dem Parenchym eines feinen Schwammes ähnlich,
scharf vom Herzmuskel abgegrenzt. Die linke Kammer auffallend enge,
vom Tumor comprimirt, beide Vorhöfe etwas erweitert, Foramen ovale
offen, rechte Kammer erweitert und deutlich hypertrophirt. Der Ductus
BotaÜi noch f%lr eine feine Sonde durchgängig. Herzfleisch gelblich,
brflehig. Die Klappen zart.
Mikroskopisch erweist sich die Oeschwulst als aus quergestreiften,
platten, mit ovalem Kerne versehenen Zellen bestehend, welche zahl-
reiche ebenfalls platte membranöse Ausläufer aussenden, und theils
mit ihrem Leibe, theils mittelst der membranösen Ausläufer zahlreiche
mndovale, meist aber unregelmässige Lücken umgrenzen.^) Der Tumor
ist an seiner äusseren Fläche vom Epicard überzogen, unter welchem
noeh eine dünne faserige Muskelschichte sich findet, welche aber dem
Herzmuskel und nicht dem Tumor anzugehören scheint und die in
das Fachwerk der membranösen Muskelzellen des Tumors hie und da
deutlich übergeht. Auch gegen die Musculatur des linken Ventrikels,
dem der Tumor ja aufsitzt, ist ein üebergang der Tumorzellen in die
Herzmnsculatur zu constatiren. Ein sehr reichliches Netzwerk kern-
reieher, capillarer Gefässe durchzieht die Muskelsubstanz des Tumors
in ganz ähnlicher Weise, wie ich es an meinen Herzmyomen beschrie-
boi habe. Doch finden sich ausserdem auch sehr zahlreiche grosse, meist
mit Blut gefüllte Gefitese, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl und
namentlich die grössten eine eigenthümliche Beschaffenheit ihrer Wand
zeigen , indem dieselbe mit Ausnahme der kemreichen Intima in eine
homogene transparente, ungefärbt bleibende (Picrocarmin) breite Schichte
nmgewandelt ist, in der sich hie und da spindelige oder sternförmige,
mit Ausläufern versehene Zellen nachweisen lassen.
Von diesen fönf Fällen sind nur drei , bei welchen die
Deutung der Herztumoren als Bhabdomyome zulässig ist. Es sind
^) HIava fasst diese Lücken in seiner Arbeit zwar als einen Effect der
Alkoholhärtnng auf and will sie im Protoplasma der Mnskelzellen selbst wahr-
genommen haben ; doch konnte ich mich an den mir von Herrn Professor H 1 a v a
xogiesandten Präparaten nirgends von letzterem überzeugen, yielmehr mit Be-
stimmtheit die intercellnläre Lage dieser Lücken constatiren nnd fast überall,
am deutlichsten an den Bandpartien, die yollkommene Analogie mit der eigen-
thSmüchen cavemösen Zellstmctnr der Myome meines Falles finden.
(16)
^T
150 Kolisko.
dies die Fälle von Recklinghausen, vonVirchow und von
H 1 a V a. 1) Die beiden anderen Fälle, derKantzow-Vircho w'sche
und der Skrzeezk ansehe Fall, gehören, wie ich versuchen
werde zu beweisen, nicht zu den Myomen des Herzens.
In den drei ersteren kann kaum ein Zweifel aufkommen,
dass es sich in der That um echte Geschwulstbildnng querge-
streifter Muskelsubstanz handelte. Da wegen der so bedeutenden
Grösse, dem scharfen Begrenztsein, dem polypösen Vorragen
nach der Herzhöhle zu an eine einfach hyperplastische Neubildung
von Muskelgewebe nicht zu denken ist, kann nur Geschwulst-
bildung im engeren Sinne des Wortes vorliegen. Und da dieselbe
durch zweifellos neugebildete Muskelsubstanz gebildet wird, ist
wohl „Myom^ die allein passende Bezeichnung.
In allen drei Fällen hat aber die Substanz dieser Myome
jene besondere Eigenthümlichkeit, welche sie von der Musculatur
anderer Rhabdomyome so wesentlich unterscheidet, nämlich jene
cavemöse Anordnung der die Geschwulst bildenden Muskelzellen,
welche sich auch an den kleinen Tumoren des von mir beobachteten
Falles findet. Nur- im Recklinghause n'schen Falle ist insofeme
eine Abweichung zu bemerken, als es in der Beschreibung des mikro-
skopischen Befundes heisst, dass jene Zellen sich so aneinander
legten, dass sie die Wände von Röhren bildeten. Doch beruht
diese Bezeichnung offenbar auf einer irrigen Deutung jener Lücken,
denn Virchow selbst äusserte sich bei Gelegenheit der Be-
schreibung eines Falles von „cavemösen Myomen des Herzens'' über
denRecklinghausen'schenFall dahin, dass er denselben nach
^) Einen vierten irahrscheinlich hierhergehörigen FaU ans der älteren
Literatur, von Billard beschrieben, habe ich zu erwähnen nnterlafisen) weil ein
mikroskopischer Befand des Billard'schen Falles fehlt. Virchow weist in
seinem Werke „Die krankhaften Geschwülste", Bd. in, pag. 99, bei der Ab-
handlung der streifzelligen Muskelgeschwulst des Herzens auf diesen Fall hin,
indem er sagt, dass derselbe möglicherweise hierher gehöre. Billard beschrieb
nämlich (Trait4 des maladies des enfans nouveau-nte et ä la mamelle, Paris 1828,
pag. 6Ki7) unter der Bezeichnung Squirrhe du coeur im Herzfleische eines drei
Tage alten Kindes drei kleine Geschwülste, welche, an der vorderen Herzfläche
in der Wand des linken Ventrikels und im Septum liegend, die Musculatur nach
aussen und innen vordrängten und auf dem Durchschnitte aus einem Faser-
geflecht zu bestehen schienen.
(16)
üeber congenitale Herzmyome. 151
neuerlicher Vergleichong als „ganz und gar ttbereinstinunend^
gefiinden habe.
Was nun die beiden anderen Fälle betrifft, so können sie
ans folgenden Gründen nicht zu den Herzmyomen gezählt werden.
Im Eantzow-Virchow'schen Falle handelt es sich ja
nach Virchow's eigenen Worten um „eine syphilitische inter-
stitielle Myocarditis, neben welcher die mosculäre Hyperplasie als
ein einfaches Beizungsprodnct aufzufassen sein dürfte, ähnlich
der Hyperostose neben Gummositäten des Periosts^. Die Richtig-
keit dieser Anschauung V i r c h o w^s geht aus seiner vortrefflichen
Beschreibung des Falles zweifellos hervor und Virchow hatte
von seinem Standpunkte aus gewiss Recht, das neugebildete
Muskelgewebe Myom zu nennen.
Da man aber heutzutage die einfachen Gewebshyperplasien,
entzündlichen Gewebsneubildungen und Retentionsgeschwülste von
den echten Geschwülsten zu trennen gewohnt ist, kann auf den
Kantzow-Yircho waschen Fall der engere Begriff des Wortes
,,(}eschwul8t^ nicht anwendbar und mithin auch die Bezeichnung
dieser Muskelneubildung als Myom, wenigstens nach dem heutzu-
tage allgemein üblichen Vorgänge, nicht zulässig sein. Nichtsdesto-
weniger figurirt der betreffende Fall ii\ all den neueren Hand-
büchern ^) der pathologischen Anatomie als Myom, obwohl in den-
selben sonst überall und strenge die Trennung der echten Muskel-
geschwulst, des Myoms von einer einfachen Hyperplasie der
Muskeln festgehalten wird. Auch Friedreich ^) berührt auf
Grund des Eantzow-Yircho waschen Falles die Möglichkeit
der syphilitischen Genese der Herzmyome.
Was nun den Skrzeczk ansehen Fall betrifil, so ist es eigent-
licb unverstandlich, wie derselbe die Deutung von Herzmyomen
') Orth, Lehrb. d. spec. path. Anat. 1. Lief., pag. 201 und 202. —
Ziegler, Lehrb. d. aDg. n. spec. path. Anat. 4. Anfl., 2. Bd., pag. 55. —
Bireh-Hir Sehfeld. Lehrb. d. path. Anatomie. 2. Aufl., 2. Bd., pag. 87 nnd
i. Anfl., LBd., pag. 131.
Ja Gornil-Banvier nehmen sogar keinen Anstand, zn erklären, dass
De Herzmyome syphilitischen Kindern angehört hätten nnd dass Virchow
-enwt geneigt wäre, sie für Gnmmen zn betrachten (Manuel d'histologie patho-
»giqne. IL 6dit., 1881, Tome I, pag. 272).
s) Krankheiten des Herzens. 2. Auflage.
Med. Jahzbüoher. 1887. 13 (17)
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152
Koliako.
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erfahren konnte. Skrzeczka selbst hat seinen Fall keineswegs
als Geschwülste des Herzens beschrieben, sondern als eine „ eigen-
thümliche cavemöse Entartung der Muscolatur des Herzens^^ die
er sich in der Weise zu erklären versuchte, dass er eine Re-
sorption von circumscripten Verfettungsherden des Muskels annahm.
Nun hat aber Virchow bei Gelegenheit der Beschreibung der
cavemösen Structur der Herzmyome sich dahin geäussert, dass
ihm etwas Aehnliches aus der Literatur nicht bekannt sei, ausge-
nommen der Skrzeczka'sche Fall, bei welchem durch eine
poröse badeschwammähnliche Beschaffenheit der Herzmusculatur
eine gewisse Aehnlichkeit mit der cavernösen Structur der Myome
sich finde. Diese Aeusserung Virchow's, welche sich ja nur auf
die Aehnlichkeit der Structur der Musculatur des Skrzeczka-
schen Herzens einerseits und der Myome andererseits beziehen
konnte, wurde offenbar missverstanden und ist wohl die Ursache,
dass in der späteren Literatur^) der Skrzeczka'sche Fall zu
denHerzgeschwülsteU; respective zu den Herzmyomen, gezählt wird.
Dass aber jene „eigenthümliche cavemöse Entartung der
Musculatur des Herzens", wie Skrzeczka sie beschreibt, nicht
durch Geschwulstbildung bedingt sein kann, geht aus Folgendem
hervor. Es ist in Skrzeczka's Beschreibung ausdrücklich ange-
geben, dass die Herzdimensionen ausser einer geringen Hyper-
trophie des linken Ventrikels nahezu normal waren; weder nach
innen, noch nach aussen zeigte sich am Herzen eine Vorwölbung,
obwohl die Ventrikel wand so dicht von jenen, mit Spiritus ge-
füllten Höhlen durchsetzt war, dass sie einem Schwämme glich;
diese Höhlen selbst erreichten die relativ bedeutende Grösse einer
kleinen Bohne und stellten nur Lücken der Musculatur dar; sie
waren leer, nachdem der sie füllende, nur Fetttröpfchen ent-
haltende Spiritus ausgeflossen war; keine Spur einer aus-
kleidenden Membran war in ihnen nachzuweisen; das Herz
hatte anscheinend genügend und nur von der Verwachsung
beeinträchtigt functionirt, denn es gehörte einem kräftigen
^) Orth, 1. c, als „cavemöses Angiom, das vielleiclit anch ursprünglich
•ein Myom war**, beaseichnet. Ziegler, 1. c, als „Angiom'^. Friedreich, 1. c.
als „wahrscheinlich anch zu den Myomen gehörend^. Hlava, 1. c, als mit
seinem nnd dem Vir cho waschen Falle für übereinstimmend erklärt.
(18)
K.
it>
mi
lieber congenitale Herzmyome. 153
21jäliTigeii , Yorher gesunden Bauer an, der angeblich sogar nie
brustkrank gewesen sein sollte. Unter solchen Verhältnissen ist es
doch geradezu unmöglich, an das Vorhandensein von Herz-
geschwtilsten zu denken. Ebensowenig ist irgend ein Anhaltspunkt
f^T die Annahme einer Rückbildung von Geschwülsten zu jenen
Hohlräumen zu finden, ganz abgesehen davon, dass es, um mit
C 0 h n h e i m's treffenden Worten zu sprechen, eine für alle echten
Geschwülste giltige Thatsache ist, dass niemals ein Neoplasma
sich spontan zurückbildet und verschwindet. Skrzeczka selbst
gibt als Erklärung seines Befundes eine Resorption von circum-
Scripten Verfettungen an, weil er, wohl mit Recht, die Extraction
des Fettes durch den schlechten Präparatenspiritus, also eine
postmortale Entstehungsweise jener Lücken für unmöglich hält.
Doch ist auch eine derartige Resorption wohl kaum als Ursache
anzunehmen, denn abgesehen davon, dass niemals etwas Aehnliches
bei Herzverfettungen beobachtet worden ist, ist es doch nicht
denkbar, dass bei einer so hochgradigen Veränderung des Herz-
fleisches die Herzdimensionen normale und der Träger eines
solchen Herzens ein kräftiger, 21jähriger, vorher gesunder Bursche
gewesen sein soll.
Efi ist überhaupt eine gezwungene Annahme, dass jene
„cavemöse Entartung" während des Lebens bestanden habe.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass dieselbe einen postmortalen
Entstehungsgrund habe. Welcher Natur dieser Process aber ge-
wesen ist, lässt sich allerdings nur schwer aus der Beschreibung
Skrzeczka 's erschliessen. Doch möchte ich eine, wie mir scheint
nicht unwahrscheinliche Entstehungsweise vermuthen. Es wäre
nämlich meiner Ansicht nach ohne Zwang der Grund jener ca-
vemösen Entartung in einem Fäulnissemphjsem der Herzmusculatur
zu finden, welches bei der Section übersehen worden wäre, da
ja das Herz gar nicht eröfihet, sondern erst nach langem Ver-
weilen in Spiritus von Skrzeczka untersucht worden war. Dies-
ezOglich ist zu beachten, dass im Sectionsberichte des Dr. R e i c h e I,
er die Obduction vorgenommen hatte, ausdrücklich vorgeschrittene
Verwesung angegeben ist; auch die Dunsung des Gesichtes, die
Auftreibung des Unterleibes, die livide Färbung des ganzen Körpers,
die blaudurchscheinenden Venennetze und die blutigen Flüssige
13 • ^i»>
Sf
154 Eoliako.
keiten an der Schädelbasis, im Wirbelcanai und im rechten
Pleuraräume sind Momente, welche auf einen vorgeschrittenen
Fäulnissprocess hindeuten. Wie schon erwähnt, wurde das Herz
bei der Section nicht eröffnet, sondern es wurde wegen der aus-
gedehnten Verkalkung zwischen dem angewachsenen Herzbeutel
und dem Herzen in Spiritus aufbewahrt. Erst nach drei Monaten
untersuchte Skrzeczka das Herz und bei der Eröffnung fand
er jene „eigenthilmliche cavemöse Entartung^ der Musculatur.
Unter solchen Verhältnissen ist es doch gewiss denkbar, dass ein
Fäulnissemphysem der Herzmusculatur übersehen wurde, und dass,
nachdem die Gasblasen von dem eindringenden Spiritus resorbirt
oder verdrängt worden waren, sich jene schwammige Beschaffenheit
des Herzmuskels gebildet hatte. Auch ein sonst sehr auffallendes
und schwer zu erklärendes Verhältniss am Skrzeczk ansehen
Herzen würde seine Erklärung in einem Fäulnissemphysem finden.
Jene Höhlen zeigten nämlich eine ungleiche Grösse, u. zw. lagen
die kleinsten von Stecknadelkopfgrösse in den inneren Schichten
der Herzwand, die grösseren aussen und die grössten, von Bohnen-
grösse, unter dem Pericard. Auch beim Fäulnissemphysem des
Herzmuskels liegen in den dichten Muskelschichten innen nur
kleine Gasblasen, während nach aussen zu in dem lockeren sub-
pericardialen Gewebe, namentlich wenn starke Fettwucherung
vorhanden ist, die kleinen Gasblasen zu grossen confluiren.
In dieser meiner Vermuthung, dass jene „eigenthümliche
cavemöse" Entartung durch ein Fäulnissemphysem entstanden
wäre, wurde ich noch durch einen diesbezüglichen Versuch bestärkt.
Ich liess zwei Herzen, an welchen bei der Section ein hoch-
gradiges Fäulnissemphysem schon von aussen bemerkbar war,
wovon ich mich auch durch Einschnitte überzeugt hatte, durch
mehrere Monate im gewöhnlichen Präparatenspiritus uneröffnet
liegen. Als ich dann die Herzwände durchschnitt, zeigte sich ein
Bild, das der Skrzeczka'schen Beschreibung fast vollkommea
glich. Das Herzfleisch hatte ein schwammiges Gefüge, gebildet durch
zahllose, verschieden grosse, mit Spiritus erfüllte Lücken, während
die Gasblasen vollkommen verschwunden waren. Namentlich an
dem einen Herzen, das von dicker Fettschichte umwuchert war,
zeigte es sich äusserst deutlich, dass die kleinen Lücken nur in
(20)
üeber congenitale Herzmyoine. 155
den Innensehichten , die grösseren bis bohnengrossen im snbperi-
cardialen Zellgewebe und in den äusseren Mnskelschichten vor-
handen waren. Selbst die von einer Wand zur andern gehenden
,Häntchen nnd Fädchen^ fanden sich in den peripher liegenden
grösseren Höhlen nnd eine mikroskopische Untersuchang zeigte
sie ebenfalls ans Bindegewebe mit Fetttröpfchen bestehend.
Nach all dem glaube ich, dass meine Ansicht über die Ent-
stehnngsweise der „carvemösen Entartung^ imSkrzeczka ^schen
Falle eine nicht unberechtigte ist; gewiss aber kann als sicher
gestellt betrachtet werden, dass jener Fall nicht zu den Herz-
geschwülsten, geschweige denn zu den Herzmyomen zu zählen sei»
Ich kehre zu meinem Falle zurück. Aus dem Vergleiche
mit den Fällen aus der Literatur geht hervor, dass er als der
vierte Fall von Herzmyomen anzusehen wäre, und mit den
bisher bekannten Fällen die eigenthümliche cavemöse Structur
der Muskelsubstanz gemeinsam hat, welche bisher nur an den
congenitalen Herzmyomen beobachtet worden ist. Es scheint also
das angeborene Myom des Herzens diese Eigenthümlichkeit über-
haupt zu besitzen. Natürlicher Weise wirft sich die Frage auf,
worin dieselbe ihren Grund haben könnte.
Bisher ist es nicht gelungen, eine Erklärung hierfür zu geben
und nur die Thatsache ist constatirt worden. Ich glaube aber,
dass ein diese Thatsachen erklärender Grund in der Histogenese
des Herzmuskels zu finden ist.
Cohnheim's geistreiche Theorie über die Aetiologie der
Geschwülste im Auge habend, ging ich von der Meinung aus,
es möchte jene Eigenthümlichkeit der Muskelsubstanz der con-
genitalen Myome ihren Grund in einer ähnlichen Beschaffenheit
der allerjüngsten Stadien der Musculatur des embryonalen Herzens
haben. In der Literatur, soweit sie mir zugänglich war, findet
sich nichts von einem ähnlichen Lückensysteme im embryonalen
Herzmuskel beschrieben. Als ich mich aber selbst an die Unter-
^hnng des Embryoherzens nach dieser Richtung hin machte,
b ich meine Erwartung bestätigt. An dem Herzen eines, etwa
er Wochen alten, menschlichen Embryos konnte ich ein ähnliches
fld, wie am caveniösen Herzmyome, wahrnehmen. Es fand sich
imUeh ein System kleinster Lücken in der Herzwand, also in
(21)
156 Kolisko.
der Musculatur selbst , u. zw. waren diese Lücken von den mem-
branösen Maskeizellen und ihren Ausläufern umgrenzt. Trotz der
Kleinheit der Lücken liess sich mit Sicherheit feststellen, dass die
Muskelzellen ein Fachwerk bildeten, dass ihre membranösen Leiber
bald ein Profilbild, bald ein Flächenbild darboten und dass ersteres
die seitliche, letzteres die obere oder untere Begrenzung von jenen
Lücken dai*stellten. Ein Inhalt liess sich in den Lücken nicht
entdecken, Blutkörperchen waren sicher nicht darin zu finden, eben-
sowenig liess sich eine endotheliale Auskleidung nachweisen. Am
deutlichsten war diese fachartige Anordnung der embryonalen
Muskelzellen in den peripheren Schichten der dicken Ventrikelwand
zu sehen, sie war aber auch deutlich zu erkennen in jenen
musculösen Balken im Innern des Herzens, welche den späteren
Papillarmuskeln und Sehnenfäden entsprechen. Dasselbe Resultat
hatte ich bei der Untersuchung der Herzmusculatur von zwei
anderen, etwas älteren menschlichen Embryonen, von zwei wenige
Tage alten Kaninchenembryonen und einem Meerschweinchen-
embryo. Ich hatte auch Gelegenheit, vom Herzen eines etwa zwei
Monate alten menschlichen Embryos ein ganz frisches Zupfpräparat
anzufertigen und konnte sehen, dass die isolirten membranösen
Muskelzellen ebenfalls membranöse Ausläufer besassen, welche
nach verschiedenen Raumesrichtungen von dem den Kern ent-
haltenden Leib der Zelle abgingen. An Profilbildem dieser Fortsätze
war sehr deutlich Querstreifung zu erkennen.
In diesem Lückensysteme des embryonalen Herzmuskels
scheint mir die Erklärung für die cavemöse Structur der Herz-
myome zu liegen. Dieselbe wäre als ein Ausdruck der embryonalen
Natur des Muskelgewebes der Myome aufzufassen. Gleichwie in
anderen echten Geschwülsten embryonale Gewebstypen sich wieder-
finden, die im physiologisch erwachsenen Organismus kein Prototyp
besitzen, wäre auch hier ein nur im embryonalen Herzmuskel
sich findender Typus in dem Myome wiederholt. Alle jene kleinen,
nur mikroskopisch wahrnehmbaren Stellen cavemöser Muskel-
substanz, wie sie sich in meinem Falle finden, wären demnach
als eben sich entwickelnde Myome aufzufassen und es liegt nicht
zu ferne, dieselben im Sinne von Cohnheim's Theorie als aus
überschüssig producirtem Zellenmateriale der Herzmuskelanlage
(22)
• M
lieber congenitale Herzmyome. 157
hervorgegangen zu betrachten, dessen Vertheilung im tibrigen
wohlansgebildeten Herzmuskel sie angeben würden.
Ein Beleg hierf)ir scheint mir auch in dem Eantzow-
y i r c h 0 w 'sehen Falle zu finden zu sein, wo nämlich die platten,
quergestreiften, an den langen Enden mit mehrfachen Fortsätzen
yersehenen Muskelzellen trotz dieser embryonalen Beschaffenheit
die cavemöse Structur vermissen Hessen, wo aber auch deren
Entstehung nicht auf jene frühe Stufe dei* Entwicklung des Herz-
muskels zurückzuführen wäre, sondern wo dieselben als einfaches
> Beizungsproduct um miliare Gummen in einer viel späteren Zeit
I des embryonalen Lebens sich entwickelt haben mussten.
Die eigentliche Bedeutung jenes Lückensystemes im em-
bryonalen Herzmuskel kann wohl erst durch eine eingehendere
Verfolgung dieses Verhältnisses an zahlreichen Embryonen ergründet
werden; doch möchte ich die Vermuthung aussprechen, dass dasselbe
mit der späteren netzförmigen Beschaffenheit der Herzmusculatur
in ursächlichem Zusammenhange stehe, wobei vielleicht die ein-
tretende Function als das veranlassende Moment zur Umbildung
jener platten Zellen zu den verzweigten Fasern anzusehen wäre.
Ob der im Thierreich auch anderswo als am Herzen] sich fin-
dende netzförmige Zusammenhang der Muskelfasern ebenfalls
in einer ähnlichen cavemösen Structur ihrer embryonalen Anlage
begründet sei, müsste auch Gegenstand einer eingehenderen Unter-
suchung sein, wenn sich meine eben ausgesprochene Vermuthung
bestätigen sollte.
Als Resultate meiner Untersuchungen möchte ich somit
hinstellen:
Dass die bisher bekannten als echte Neubildungen zu
betrachtenden Myome des Herzens Rhabdomyome waren, welche
flieh durch den eigenthümlichen cavernösen Bau ihrer Muskel-
snbstanz auszeichnen. Dass diese eigenthümUche Structur mit
dem Bau des Herzmuskels in dessen ersten Entwicklungsstadien
übereinstimmt und dadurch noch mehr den congenitalen Ursprung
jener Geschwülste klarstellt.
(28)
158 Eolisko. Ueber congenitale Henmyome.
Erklärung der AbbildungeiL
r ^. 1 und 2. LonpenvergTosserong. P= Polmonalarterie ; A = Aorta ; M=z Herz-
mnscülatiir ; K auf Fig. 1 :s die linke Polmonalklappe, auf Fig. 2 ^b die
rechte PalmonaUdappe ; t^t t^^ ^,, f^=:die Tnmoren.
Fig. 8. SOfiftclie Vergrössemng eines der kleineren Knötchen.
"Fig. 4. 900fache Vergrossening einer Partie ans demselben Knötchen. Die Inhalts-
massen sind nicht in alle Ränme eingeseichnet, die Müskelkenie sind
etwas sn scharf contounrt.
-m^
(24)
■
i
vn.
Bemerkungen zur Ehrlich'schen Nervenförbung.
Dr. J. Pal.
(Hus dsm IniiliuiB für allGomeliiB und BiperlmBittille PilliolOElB der Wlengr UninnilSI.)
(Am 13. März 1887 vod der BedactloD Obeinonmeii.)
Am 21. December 1885 hielt Ehrlich in Berlin einen
Vortrag >), in welchem er Über eine nene Färhemethode flJr Nerven-
fasem berichtet. Sein Färbeverfahren ist von allen bisher bekannt
gewordenen echon insofern priocipieU verBchiedeD, als es sich hier
um eine in vivo vorgenommene Procednr handelt, imd zwar wird
m diesem Zwecke Afethylenblan oder ein anderer £6rper der
Kethylenblangrnppe °) in die Vene des lebenden Thieres gebracht.
Ich habe die Wiederholung dieser Versuche im Herbste
Torigeit Jahres anfgenommen, znnächBt um die höchst interessante
Thatsache zu constatiren. Indem aber die so schön gefUrbteu
Nerrenstämmciien nnd ifervennetze ihre Farbe unter dem Mikro-
skope schon nach Minuten verlieren, habe ich mein Bestreben
darauf gerichtet, diese Farbe zu fixiren.
Wenngleich nun meine Arbeit nicht ganz erfolglos war, so
habe ich doch Anstand genommen, darüber öffentlich zu berichten,
') Prof. Dt. P. Ehrlich: Ueher die Hethylenblsiireacüoii der leliendm
Kvrmianbstanz. D. med. WocheiucliT. 1886, Vr. 4.
■) Bernthien, Ber. d. d. ehem. Ges. 1885. Liebig's Ann. 230, pag. 73.
A'^
\iy
160
Pal.
l^\
zumal Herr Ehrlich eine aosfiihrliche Pablication in Alissicht
gestellt hat.
Inzwischen hat Prof. C. Arnstein in Kasan im „Anato-
mischen Anzeiger" ^) über Experimente Mittheilong gemacht , die
Herr Alexis Smirnow unter seiner Leitung unternommen hat
und die gleichfalls darauf gerichtet sind, die durch die E h r 1 i c h'sche
Methode dargestellten Bilder zu fixiren. Nimmehr liegt für mich
kein Grund vor, die Resultate meiner Versuche nicht mitzutheilen.
Vorerst will ich aber in Kürze das Wesentliche des Ex-
periments beschreiben, was mir umsomehr geboten erscheint, als
von Ehrlich hierüber keine Daten vorliegen.
Ich habe Fröschen *) das Methylenblau auf dem Wege der
Infusion unter niedrigem Drucke beigebracht, und zwar fand ich,
dass selbst ganz dünne Lösungen genügen, um die schönsten
Bilder von Nervenendigungen hervorzurufen.
In jüngster Zeit habe ich mit Vaprocentiger Lösung ge-
arbeitet.
Die Canüle habe ich zuweilen in die Vena abdominalis, zu-
weilen in die Vena cutanea magna des Frosches eingeführt. Das
letztere Verfahren ziehe ich trotz seiner Schwierigkeit vor, da es
bei dem ersteren Verfahren zu Stauungen in der Leber kommt,
die den Versuch leicht stören können.
Das Resultat war in allen Fällen ein zufriedenstellendes,
wenn kein Fehler in der Anordnung vorlag. Nach wenigen Se-
cunden schon ti*at, wie es Ehrlich angibt, intensive Bläue in
der geöfiBaeten Mundhöhle auf. Wurde die Infasion fortgesetzt, so
gingen die Thiere nach mehreren Stunden zu Grunde ; unterbrach
man die Infusion sofort nach den ersten Färbungserscheinungen, so
blieben die Thiere am Leben und zeigten nach mehreren Tagen
noch in einzelnen Organen, insbesondere in der Leber, Spuren des
Farbstoffes, der dadurch bemerkbar wird, dass sich die Leber an
der Luft grün färbt. Um die Organe mit Farbstofflösung besser
durchzuspülen, habe ich gewöhnlich aus einem grösseren Gefässe
bluten lassen.
\
^) „Methylenblaufärbnng als histolo^sche Methode.'^ IL Jahrg. 1887, Nr. 5.
*) Meine Versnche sind ausschliesslich an diesen darchgeführt.
W
Bemerkungen snr Ehrlich'schen Nervenfärbung. Igl
Betrachtet man die Znnge eines anf diese Weise präparirten
Frosches näher, so sieht man die breiten Papillen als tiefblaue
Punkte hervortreten. Schneidet man nun ein Stückchen der Zungen-
schleimhaut aus und bringt sie unter das Mikroskop, so erblickt
man fast immer in den Geschmackspapillen ein überraschend
schönes Bild von Nervenendigungen, welche Ehrlich in dem
erwähnten Vortrage beschrieben hat.
Ein Zweifel, betreffend die nervöse Natur der Gebilde, kann
nicht obwalten, da das zuführende Nervenstämmchen in der
gleichen ganz eigenthümlichen Nuance des Blau gefärbt erscheint.
Ebenso wie in diesem Gewebe sind auch an anderen, schon von
Ehrlich angegebenen Orten in hervorragender Weise Nerven-
stämmchen und deren feinste Endigungen gefärbt, so z. B. in der
Gaumenschleimhaut, in den Augenmuskeln u. s. w. An manchen
Stellen sieht man jedoch, dass auch vereinzelt andere Gewebs-
elemente den Farbstoff an sich reissen, wie dies auch schon von
Ehrlich hervorgehoben wurde.
Für das Zustandekommen dieser Erscheinung hat Ehrlich
auch eine chemische Erklärung gefunden, die nach Allem, was
man darüber heute weiss, sehr plausibel zu sein scheint.
Ich kann nicht umhin, hier in Kurzem eine Andeutung davon
zu machen.
Das Methylenblau hat wie alle Körper dieser Gruppe ^) eine
Sulfongruppe eingelagert,
Ce H3^ - N (CH,),
N< >S
CeHs — N(CHs},Cl
Salzsanres Methylenblan nach Bernthsen,
and alle diese Körper geben die gleiche Reaction, wenn sie in
das Gefasssystem eingeführt wurden. Führt man jedoch die ganz
ähnlich construirte Verbindung
Ca H, — N (CHa),
N<
Ce H, — N (CHs)a Cl
Dimethylplienylengran (Bindschedler).
^) Bernthsen 1. c.
(8)
NV
^\^-
162
Pal.
-.A
»1.
ein, die sich Ton dem Methylenblan wesentlich durch den Mangel
der Snlfongmppe unterscheidet, so tritt die Nervenreaction nicht
ein. Es lag in Folge dessen nahe, zu schliessen, dass durch die
Einlagerung der Sulfongruppe die Aufnahme in die Nervenbahn
ermöglicht werde.
Ehrlich zieht auf Grund einiger vergleichender Unter-
suchungen den Schluss, dass „die Methylenblaureaction als eine
allgemeine Eigenschaft der Axencjlindersubstanzen anzusehen und
somit in direete Beziehung mit der Function der Nervensubstanz
zu bringen ist^.
Allein nicht alle Nervenendigungen zeigen diese Beaction.
Nach Ehrlich sollen Sauerstoffsättigung und alkalische Beaction
die Bedingungen sein, unter welchen die nervösen Substanzen das
Methylenblau aufnehmen. Doch ist, wie Ehrlich selbst angibt,
auch diese Erklärung ftir sich nicht ausreichend.
Der Werth der durch diese Methode erlangten Bilder wird
aber wesentlich dadurch getrübt, dass die Färbung, wie schon
einleitend bemerkt worden ist, sehr rasch schwindet. Meine auf
die Conservirung gerichteten Experimente sind zwar noch nicht
abgeschlossen; aber die Publication Arnstein's veranlasst mich,
dasjenige mitzutheilen, was bereits spruchreif erscheint.
V*.
IT.»
S*i'-
Breitet man ein Stückchen der gefärbten Mundschleimhaut
auf dem Objectträger aus und bedeckt es mit einem Deck-
glase, so beginnt das Präparat schon nach wenigen Minuten ab-
zublassen, wenngleich sich einzelne Partien noch stundenlang blau
erhalten.
Das Abblassen beginnt in diesem Falle im Centrum des
Präparates und schreitet von hier gegen die Peripherie vorwärts ;
die Bandpartien erhalten die blaue Farbe am längsten.
Dieser Umstand drängt uns die Annahme auf, dass das aus-
geschnittene Gewebe Beductionsfahigkeit besitzt und aus dem
Methylenblau eine Leukoverbindung bildet, während die Eand-
partien noch unter dem Zuflüsse des umgebenden Sauerstoffes blau
bleiben. Es lag demnach nahe, die Präparate ohne Deckglas zu
beobachten, und es stellte sich in der That heraus, dass sich un-
bedeckte Präparate bis zu mehreren Stunden erhalten, wenn die
(4)
Bemerknngen snr Gbrlich'aehsn Nerveaftirbimg. J.gg
nßthige Fenchtigkeit nicht Tereiegt. Zar Erhaltong der erfordere
licbeD Feacbtigkeitsmenge habe ich O'ßprocentige KochBalztösnng,
eventnell anch deetillirtes Wasser benützt.
Um die Rednction des Methylenblau zn Terhisdem , habe
ich in zweiter Linie versucht, die Gewebe rasch abzntüdten nnd
anf diesem Wege Präparate von längerer Dauer zu gewinnen. Ich
habe zn diesem Zwecke einerseits Trocknen in der Spiritnsflamme,
andererseits Trocknen über Schwefelsäure bei LnftverdUnnnng
versncht. Beide Verfahren haben, mit der nöthigen Vorsicht an-
gewendet, brauchbare Bilder geliefert, wenngleich dabei die
feinsten Endigungen der Nerven nur ausnahmsweise coneervirt
erschienen.
Bei beiden Procedsren dürfen nur ganz kleine Stückchen
auf dem Objcctträger dbnn ausgebreitet werden. Die Trocknung
ndt der Flamme geschieht so , dass man das Ende des Objeet-
trägers einigemale rasch durch die Flamme zieht. Das Präparat
selbst darf nicht heisa werden, sonst ist es verloren. Ist das
Gewebestückchen trocken und auch durchsichtig, so wird es
mit einem Tropfen Terpentin-Damarlack eingeschlossen. Einzelne
solche Präparate haben sich als sehr dauerhaft erwiesen.
Nebeu diesem Verfahren musste ich natorgemäss an die
Fizirnng dorch Fällung denken nnd habe ich zu diesem Zwecke
mich mit jenen Substanzen beschäftigt, die in Methylenhlau-
lösungen Niederschläge erzengen. Hier berühren sich meine
Versuche mit den von Smtrnow beiÄrnstein ansgeftibrten.
Eb gibt eine ganze Reihe von Körpern , die im Methylenblau
Niederschläge erzeugen : Chromsäure , Jodkalium , Pikrinsäure,
rothes Blntlaugensalz u. s. w. Die Erfolge mit diesen Körpern
waren mit Ausnahme des Jodkaliums ungenügende. Ich habe mich
des letzteren in einer von Arnstein ganz abweichenden Weise
bedient; welches von den beiden Verfahren jedoch das zweck-
mtlSBigere ist, kann ich zur Stunde nicht auBsagen.
Ich schneide ein Stückchen des Gewebes aus und lege es
in einen Tropfen einer 20procentigeQ Lösung von Jodkalium in
Glycerin anf den Objcctträger. Das so bereitete Präparat bleibt
dnich mehrere Standen liegen und wird erst dann nach voll-
ständiger Imbibition zngedeckt.
^ii-v.;-
* * '
*%
164
PaL BemerkimgeiL zur Ehrlicli'Bchen Nervenfarbnng.
^
K
Ich habe mit diesem Verfahren Nervenfasern mid selbst
schöne Endigongen Wochen, ja selbst Monate hindurch erhalten.
Das Jodkalinm erzengt im Methylenblau eine Fällung, die
aus Erystallen von violetter Farbe besteht. Dementsprechend
verwandeln sich auch die blauen Nervenbilder in violette. Das
Sichtbarwerden solcher Erystalle stört leider nicht selten die Rein-
heit der Bilder.
Auch diese Präparate blassen mit der Zeit ab, jedoch von
der Peripherie gegen das Centrum hin, so dass sich hier die
Farbe am längsten erhält.
5J-.'
'yU
-m^
\
(«)
vin.
Ueber den therapeutischen Werth der
Salzwasserinfosion.
Von
Dr, Carl Maydl^
Privatdooent der Clürargie in Wien.
(Am 13. März 1887 von der EedacÜon übernommen.)
Im Jahre 1884 habe ich einige üntersnchimgen^über die
Einspritzmig yerdüimter Kochsalzlösungen in das Oefösssystem
yerblnteter Thiere angestellt nnd die Ergebnisse dieser Unter*
gQchnngen in einer Abhandlung ^) niedergelegt.
Den Ansichten znfolge , welche ich daselbst vertreten habe,
gollte dem therapeutischen Werthe der genannten Infusionen keine
60 hohe Bedeutung zukommen , als ihnen noch kurz vorher bei*
gelegt worden ist Zwar habe ich nicht in Abrede gestellt, dass
man ein Thier, bei welchem Athmung und Puls in Folge einer
heftigen Blutung eben erloschen sind, durch die Infusion wieder
beleben, dass man also Puls und Athmung wieder erwecken könne.
Ich habe aber behauptet, dass die Thiere, welche einen so
') Der Werth der Eoohsalzinfasion und Blnttransftosion beim Verblntimg»-
tode. Wi«n«r med. Jahrbücher. 1884.
ü)
166 MaydJ
Bchweren Blntrerlost erlitten haben, trotz der Wiederbelebung,
alsbald zu Grande gehen. Ich habe mich demgemäss dahin ge-
äussert, dass Menschen, welche in Folge einer Verwundung auf
dem Schlachtfelde bis zu dem obenerwähnten Grade verblutet
haben, durch die Infusion einer geeigneten Kochsalzlösung immerhin
lange genug am Leben werden erhalten können, um in ein
Hospital transportirt , und daselbst einer zweiten Infusion und
zwar von Menschenblut unterzogen zu werden.
Nach dem Erscheinen meiner Abhandlung sind noch andere
Stimmen laut geworden, denen zufolge ich annehmen durfte, dass
ich mit meiner Ansicht nicht allein stehe. In der That haben
sich auch die literarischen Mittheilungen über am Menschen aus*
geführte Infusionen seither auffällig vermindert.
In neuester Zeit hat indessen Professor Eronecker in
Bern über dieses Thema einen Vortrag gehalten, in welchem er
die Ergebnisse meiner Untersuchungen einer sehr abfälligen,
durch spöttische Ausfalle gewürzten Kritik unterzieht. ^)
Herr Kronecker, der sich, wie es scheint"), flir den gei-
stigen Urheber der Infusionsmethode hält, was er aber, beiläuug
bemerkt, nicht ist, berichtet nun über einen einschlägigen Fall
von Heilung dnrch die Salzwasserinfusion. Während ich behauptet
habe, dass Hunde, die bis zum Ausfall gewisser Lebenserschei-
nungen entblutet worden sind, nach vorübergehender Erholung
dennoch zu Grunde gehen, führt Herr Kronecker einen Fall
an, in welchem das Leben des Thieres trotz der obenerwähnten
Umstände am Leben erhalten worden ist. Mit Bücksicht darauf,
dass ich schon in meiner früheren Abhandlung, anlässlich einer
anderen Beweisführung, einen ähnlichen Einzelfall als Ausnahms-
fall bezeichnet habe, von welchem eine allgemeine Regel nicht
abgeleitet werden dürfe, schützt sich Herr Kronecker von
vorneherein gegen einen solchen Widerspruch meinerseits. Er
bekämpft die formale Richtigkeit meines Denkens und weist unter
^) Kritisches nnd ExperimenteUes über lebensrettende Infusion von
Eoclisalzlösnng bei Hunden. Ans dem Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte.
Basel 1886.
') Biese meine Aenssemng grändet sich darauf, dass er mich und Schramm
als die Herren Nacharbeiter anspricht.
(2)
üeber den therapeutischen Werth der Salzwasserinftision. 157
AnfühniDg eines Exempels darauf hin, dass ich mir, als Schüler
des Philosophen Stricker, solche Exempla sehr wohl zum Mnster
hätte nehmen können.
Ueberdies zeigt Herr Kronecker oder glaubt es wenigstens
zeigen zu können, dass die von mir befolgten Methoden mangel-
haft seien, dass ich anf die Leistungsfähigkeit des Herzens keine
Bticksicht genommen habe.
Demzufolge, argumentirt er, sind meine Wiederbelebungs-
versuche unter so ungünstigen Verhältnissen ausgeführt worden,
dass hierdurch die ungünstigen Ergebnisse , letalen Ausgänge,
hinreichend erklärlich werden.
Ich habe sofort nach dem Bekanntwerden dieser Kritik die
Arbeit noch einmal aufgenommen, und aus den Ergebnissen der
neuen Versuche die Ueberzeugung gewonnen, dass die von mir
aufgestellten Behauptungen durch die Ausführungen des Herrn
Kronecker nicht im Geringsten erschüttert worden sind.
Andererseits hat sich mir durch die Lecture seiner Publi-
eation die Meinung aufgedrängt, dass die Dysharmonie zwi-
schen unseren Ansichten in der That in gewissen Fehlern be-
gründet sei, die aber nicht ich begangen, sondern die ganz und
gar auf der Seite des Herrn Kronecker liegen.
Diese Fehler, welche den Argumenten des Herrn Kron-
ecker Eintrag thun, bestehen darin:
1. Dass er seinen Gedankengang in formaler Beziehung
mangelhaft aufbaut.
2. Dass er bei dieser Kritik den hydrostatischen und
hydrodynamischen Verhältnissen ungenügend Rechnung trägt,
und endlich
3. dass er sich mit seiner Kritik auf Angaben bezieht, die
er mir fälschlich unterschiebt.
Was nun den 1, Punkt betriflft, so lautet der Vorwurf, den
Herr Kronecker gegen mich erhebt, wie folgt:
„Herr May dl behandelt also diese physiologischen Ver-
„snche als klinischer Casuistiker „Ein seltener Fall" be-
„ weist ihm nichts für den Werth der Heilung. Dem Schüler
„des Philosophen Stricker hätte es aber doch nicht ent-
„gehen sollen, dass wenn auch der einzige Gajus nicht gestor-
Hed. Jahrbücher. 1887. 24 <S>
.1« '
V .
168 Maydl.
„ben wäre, entweder der Obersatz : „Alle Menschen sind sterb-
„lich^ falsch wäre oder der Schlosssatz : „Gajns ist ein Mensch^.
Indem ich mich zur Entscheidung von Streitfragen der for-
malen Logik nicht für competent halte, habe ich Herrn Professor
Stricker, dessen Name nun doch einmal seitens des Herrn
Kronecker herangezogen wurde, gebeten, mir über die Be-
rechtigung dieses Vorwurfes Aufklärung zu ertheilen.
^," \ Hierauf wurde mir die folgende Antwort zu Theil :
Ik^' Sehr geehrter Herr!
Es fallt mir nicht leicht Ihrem Wunsche zu entsprechen.
Die angeblich philosophische Kritik, welche Ihrer Denkweise zu
Theil geworden ist, mag vielleicht als ein Ausflnss heiterer Laune
entstanden und nicht ernstgemeint sein. Sie aber muthen mir zu,
die Sache ernst zu nehmen. Wenn ich mich nun dennoch ent-
schliesse, Ihrem Wunsche zu entsprechen, so geschieht es in
der Meinung, dass meine Bemerkungen, abgesehen von ihrer
Beziehung zu der erwähnten Kritik einen didaktischen Werth
haben kannten.
Mit Rücksicht auf den Umstand, dass die Leser Ihres Auf-
satzes der rein formalen Behandlung kein besonderes Interesse
entgegen tragen dürften, will ich der Klärung der Sachlage durch
eine Erzählung zu Hilfe kommen.
Ein Apotheker hat behauptet, er habe einen Cholerafall
durch Pfeffermünzzeltchen geheilt. Die Heilung gelang ihm zwar
nur in einem Falle, aber, sagte er, der eine Fall reiche hin, um
die Behauptung zu stützen , dass die Cholera durch Ffeffermünze
geheilt werden könne. Um den Werth eines solchen Einzelfalles
zu illustriren, berief er sich darauf, dass die Regel „Alle Rinder
sind vierfüssig** als durchbrochen angesehen werden müsse, sobald
es festgestellt ist, dass eine fünffUssige Kuh existirt. Darauf er-
hob sich nun ein schlichter Arzt und erwiderte dem Apotheker,
wie folgt.
In dem Exempel von der Kuh handle es sich um eine
Regel, welche der sinnliehen Wahrnehmung entnommen ist; es
handelt sich um eine Regel über Thatsachen. Sobald eine fttnf-
füssige Kuh gesehen worden ist, muss die Regel in der That
(4)
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Ueber den therapentüchen Werth der Salzwaaaeriiifnaion. Igg
als dnrchbrochen angeseben werden. Bei der Heilung der Cholera
hingegen drehe eich der Streit nm Ursache nnd Wirkung. Die
Richtigkeit der Tbatsacheo, welche der Herr Apotheker vorfUhrt^
zweifeln wir gar nicht an. Wir glanben, daBS er dem Kranken
Pfeffenniinze verabfolgt hat; wir glauben, dass der Kranke genesen
ist; was wir bezweifeln, iBt nnr, dass der Kranke deswegen
genesen sei, weil er die PfeffemiUnze genommen. DieBcs Weil
hat uns der Herr Apotheker in dem Einzelfalle nicht ad oculos
demoBstrirt.
So und noch schlechter liegt die Sache in Ansehung des
Exempels, welches Ihr Kritiker vorfUhrt.
In dem Streite, welcher sich Über den therapeutischen Werth
der Infusion entwickelt bat, handelt es sich nicht nm die ein-
fache Constatirung einer Tbafsache. Die Thatsache, dass ein Hund
nach der cntsprccbendeR Verblntnng und Infusion am Leben
geblieben ist , wird ja hier nicht in Abrede gestellt ; auch wird
nicht in Abrede gestellt, dass die gewissen Erscheinungen: Ver-
blntnng, Todessymptome, Infusion und das Wiederanftreten von Puls
nnd Athmung anf einander gefolgt sind; was in Abrede gestellt
wird, ist das causale Verhältniss. Um aber eine allgemeine Regel
über ein causales Verhältniss zu durchbrechen, genügt es nicht,
eine Reihe auf einander folgender Erscheinungen vorzuführen
nnd die Existenz derselben zu constatireuj es mnss eben das
cansale Verhältniss erwiesen werden. Ein solcher Beweis ist, so
viel ich sehe, von Ihrem Kritiker gar nicht angetreten worden.
In dem vorliegenden Falle liegt Übrigens die Sache, wie
ich schon angedeutet habe, für den Werth der Kritik noch viel
schlimmer. Denn sie bestreiten ja gar nicht, dass in dem Aust-
nahmgfalle die Infusion von 0-6''jo KochsaLslÖsung die Veran-
lassung zur Wiederbelebung gewesen sei. Sie behaupten eben nur,
dass ausnahmsweise Umstände obwalten, welche der Infusion den
Hebel zur Wirkung bieten, die aber in der Regel nicht vorhan-
den sind. Wir wollen einen der möglichen Fälle in Betracht
ziehen.
Einem Hunde sind die Splanchnici durchschnitten worden;
ein beträchtlicher Theil des Blutes hat sich im Bauche ange-
sammelt; nun ist das Gehirn eben in Folge dieser Ansammlung
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170
Uaydl.
ohnedies mangelhaft mit Blut versorgt. Schneidet man einem
solchen Thiere noch die Carotis durch, so wird es bei einem
relativ geringeren Percentsatz des Blutverlustes die „terminalen^
Symptome bieten. Bei einem solchen Thiere ist es nun sehr
wohl denkbar, dass eine Infusion von verdünnter NaCl-Lösung
eine wesentlich bessere Wirkung erzielt, als es in der Regel der
Fall ist, weil die Kochsalzlösung diesesmal auf einen grossen
Blutvorrath in den Baucheingeweiden stösst und sich mit dem-
selben mengt. Ihrer Behauptung zu Folge sterben ja die Thiere,
wenn der Blutverlust bis zu einer gewissen Grenze gediehen ist,
an Anämie, weil eben zu wenig Blut im Körper zurückgeblieben
war, das sich mit der Kochsalzlösung mischen könnte. Ist nun
in dem Ihnen entgegengehaltenen Einzelfalle der Beweis erbracht
worden, dass daselbst nicht ausnahmsweise, nach der Verblutung
noch solche Blutreservoirs zurückgeblieben sind, welche der ein-
gespritzten Kochsalzlösung beigemengt, geeignet waren, das Leben
2U erhalten? Die Antwort lautet: Nein.
i
Es ist also offenkundig, dass da, wo es sich um Ursache
und Wirkung handelt und vollends da, wo eine Reihe für
uns noch gar nicht aufgedeckter Ursachen zusammenhängen,
der Einzelfall nicht so beurtheilt werden kann, wie jene Regel
über Thatsachen, welche Ihr Kritiker durch das Beispiel von
dem Cajus, der noch nicht gestorben wäre, zu illustriren ver-
sucht hat.
Ihr Kritiker hat überdies das unrichtig angewendete Beispiel
auch sonst noch unrichtig angefasst. Zwar ist der Satz „Alle Men-
schen sind sterblich" in Schulbüchern vielfach als Beispiel gebraucht
worden. Der Gebrauch dieses Exempels ist aber nach dem Urtheile
bedeutender Philosophen nicht empfehlenswerth. Denn indem dieser
Satz als Muster hingestellt wird, bringt man der Jugend die
Meinung bei, dass ihm in der That allgemeine Giltigkeit zukomme.
£r besitzt aber nicht einmal empirische Giltigkeit.
Wenn alle Menschen aussterben würden bis auf einen, äo
könnte dieser Eine immer noch nicht, auf Erfahrung gestützt, be-
haupten , dass alle Menschen sterblich seien ; zumal er ja nicht
sicher wissen kann, ob er selbst sterben wird.
(6)
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lieber dem therapeutisclieii Werth der Salzwasserinftision.
171
Da Dan Ihr Kritiker, einen Satz von allgemeiner Giltigkeit
als £xempel hinzustellen die Absicht hatte, so hat er sich sicherlich
in der Wahl des Beispiels vergriffen. Vollends nnznlässig ist aber
die formale Durchführung des Beweises. Es heisst daselbst (vide
pag. 9) „Wenn der einzige Cajas noch nicht gestorben wäre".
Wenn alle Menschen, welche heute noch leben, plötzlich
aus dem Dasein scheiden würden, dann könnte allenfalls ein Un-
sterblicher ausrufen : „Wenn der eine Cajus nicht gestorben wäre** ;
heutzutage, da sich noch Millionen Menschen des Daseins erfreuen^
wäre ein solcher Ausruf jedenfalls verfrüht.
Stricker.
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1
Ich gehe nun zu den sachlichen Argumenten über, welche
Herr Eronecker gegen meine Behauptungen vorbringt.
Der schwerste Vorwurf besteht darin , dass ich unter ar-
teriellem Drucke in die Vena jugularis infundirt habe. Herr K.
citirt dabei einen meiner Versuche, und zwar den, welcher vat
Cap. VI sub titulo „Directe Beobachtungen** fdes Herzens) mit-
getheilt worden ist. Ich habe, heisst es in dem Berichte de»
H. Kronecker, einem Hunde von 11*5 Kg. in 2^/2 Minuten —
(hier schaltet Herr K. ein ! ein) — 900 Ccm. blutwarmer O'öper-
centiger Kochsalzlösung bei einem Infusionsdruck von 80 Mm. in
die Ven. jug. ext. — (hier folgt wieder ein !) — eingegossen und
während dessen das blossgelegte Herz beobachtet. Nach dieser Mit-
tfaeilung des Thatbestandes leitet Herr Kronecker seine weitere
Darstellung mit den Worten ein: „Derart sind, wie ich sehe,
alle Versuche angestellt", und fügt hinzu: „Im Protokoll des Ver-
suchs Nr. 21 findet man sogar die wunderbaren Verhältnisse*^
Blutdruck in der Carotis 41 Mm. Hg, Infusion in der Jug. externa
bei 100 Mm. Hg.
In diese Darstellung meiner Versuche seitens des Herrn K.
haben sich aber ganzeigenthümliche Irrthümer eingeschlichen.
Dass ich einem Hunde bei 80 Mm. Druck in 2*/a Min. 900 Ccm.
eingeflösst und einem zweiten Thiere sogar bei 100 Mm.
Hg-Druck 960 Ccm. Nad-Lösung infundirt habe, ist allerdings
richtig. Nur sind es nicht dieselben Versuche, gegen welche
Herr Kronecker zu polemisiren behauptet. Denn seine Polemik
(7>
172
Maydl.
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richtet sich gegen jene Experimente, welche ich zu Heil-
zwecken ausgeführt. Die beiden Versuche aber, an welchen
Herr E. seine Kritik übt, habe ich zu ganz anderen Zwecken
angestellt. Und ich habe dafür, dass sie ganz anderen Zwecken
dienen, so voUgiltige und klare Beweise angefahrt, um es für
ganz ausgeschlossen halten zu dürfen, dass sich irgend Jemand,
der meine Abhandlung gelesen hat, darüber hätte täuschen
können.
Ich habe 1. in dem Versuche, in welchem 900 Ccm. Na Cl-
Lösung bei 80 Mm. Druck eingegossen wurde, wie ausdrücklich
bemerkt ist, gar keine Blutentleerung gemacht ; 2. habe ich den
Thorax eröffnet; 3. wurde aus einer Carotis der Blutdruck ge-
schrieben.
In dem anderen Versuche (21), der auf pag. 127 mitgetheilt
worden ist, wurde, wie es an dem Kopfe des Versuchsprotokolls
deutlich zu lesen ist, aus der Caroti s und Pulmonalis gleich-
zeitig der Druck geschrieben, womit implicite gesagt ist, dass
der Thorax eröffnet war. Offenkundig muss es also aus diesen
Daten erhellen, dass diese beiden Versuche nicht in die Reihe
jener Experimente zu setzen sind, welche als „lebensrettende In-
fusionen" bezeichnet werden. Ueberdies habe ich über meine Ex-
perimente in verschiedenen Capiteln berichtet, von welchen eines
^die Bluttransfasion" , das zweite „kymographische Aufnahme"
und das dritte „directe Beobachtungen" überschrieben ist. Die-
jenigen meiner Experimente, über welche Herr Kronecker be-
richtet, und welche er als Infusions-, respective Heilversuche
kritisirt, sind sub titulo Kymographische Aufnahmen und directe
Beobachtungen (des Herzens) mitgetheilt worden.
Zum Schlüsse des letzten Capitels, gleichsam als Resultat
der directen Beobachtungen, führe ich an, dass darin (in den
Ergebnissen) eine nachdrückliche Mahnung liege, die Transfusionen
oder Infusionen in nicht zu grossen Mengen und bei geringem
Drucke vorzunehmen.
Um aber endlich jeden denkbaren Zweifel darüber zu ver-
scheuchen, dass diese ad informandum ausgeführten Experimente
nicht mit jenen verwechselt werden dürfen, welche ich im Interesse
<der Frage der Lebensrettung angestellt habe, werden die letzteren
<8)
^s?r;
üeber den therapentisclien Werth der Salzwasserinfasion. 173
auf pag. 85 in einer besonderen Tabelle zusammengestellt , in
welcher jene ad informandum ausgeführten Versuche natürlich keine
Aufnahme fanden.
Herr K. umgeht alle diese Daten, fUhrt gegen mich als
schwerwiegende Fehler bei lebensrettenden Versuchen jene Versuchs-
anordnungen an, die nur zu informativen Zwecken ausgeführt
wurden und knüpft daran die der Wahrheit absolut wider-
sprechende Bemerkung an, dass, „so viel er sieht", alle Ver-
suche derart angestellt sind.
Gegen eine solche Art der Berichterstattung muss ich Protest
einlegen ; sie entspricht nicht der literarischen Gewissenhaftigkeit,
die man von einem ernsten Manne erwarten darf.
Der Vorwurf, den Herr Krön eck er gegen meine Methoden
erhebt, der Vorwurf nämlich, dass ich unter zu hohen Drücken
infnndirt habe, wäre an und für sich belanglos, wenn sich nicht
daran die falsche Angabe knüpfte, dass ich unter solchen Drücken
relativ zu grosse Massen in relativ kurzen Zeiträumen infundirt
habe. Denn darüber wird jeder Hydrodynamiker im Klaren sein,
dass, wenn ich in ein Reservoir mit weichen nachgiebigen Wänden
kleine Quantitäten Flüssigkeit, sei es auch unter sehr hohem
Drucke, eintrage, ich den Gesanmitdruck in dem grossen erweiter-
baren Reservoir nicht wesentlich zu steigern vermag. Anders
liegt die Sache, wenn die Menge der unter grösserem Druck
eingetragenen Flüssigkeit steigt und im Vergleiche zu der Grösse
des Bassins beträchtliche Höhen erreicht. Denn dann ist es
selbstverständlich, dass diese Einspritzungen auch in dem Reservoir
den Druck beträchtlich zu erhöhen vermögen.
Neben der Masse der. eingetriebenen Flüssigkeit kommt, wie
eben bemerkt wurde, die Zeit, über welche sich die Einspritzungs-
dauer erstreckt, respective der Geschwindigkeit des Einströmens
in Betracht, besonders wenn das Bassin, in welches man ein-
spritzt, sich gleichmässig in ein zweites Bassin entleert. Wenn
ich die grössere Quantität Flüssigkeit in das Bassin Nr. 1 so
langsam eintrage, dass eine UeberfüUnng , wegen der Entleerung
des Bassins, Nr. 1 in das Bassin Nr. 2 nicht eintreten kann, so
kann auch im Bassin Nr. 1 keine namhafte Drucksteigerung sich
kundgeben.
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Ueberblickt man nun die Tabelle, in welcher ich meine
Eochsalzinfosionen zn Heilzwecken in übersichtlicher Darstellung
zusammenfasse, so ergibt es sich, dass ich in 10 Versuchen einmal
die Quantität von 400 Cm., dreimal je 300 Cm., einmal 200, zweimal
löO, einmal 100, einmal nur 50 Cm. Salzwasser infundirt habe.
Indem aber Herr Eronecker meine beiden ad informandum
ausgeführten Versuche, in welchen 900 und 960 Ccm. infundirt
worden sind, als die Typen meiner Heilyersuche hinstellt und die
Bemerkung anfügt, dass soviel er sieht, alle Versuche derart an-
gestellt worden sind, hat er nicht nur etwas Unwahres berichtet,
sondern durch eben diese Unwahrheit den Werth meiner Arbeit
einen wesentlichen Eintrag zu thun angestrebt.
Dass sich in meiner Arbeit die Angabe findet, ich habe bei
einem Drucke von 80 Mm. Hg infimdirt, ist ganz zutreffend;
ausdrücklich habe ich aber hervorgehoben, dass dieser Druck in
einem Seitenrohr der zwischen den Wasserleitungshahn und dem
Infusionsrohr eingespannten Inftisionsflasche gemessen wurde. Ob
der gleiche Druck auch in dem Venensystem und, worauf es am
meisten ankommt, speciell im rechten Ventrikel geherrscht habe,
das ist eine ganz andere Frage. Denn man muss bedenken, dass
die Flüssigkeit aus meiner Infusionsflasche durch eine enge
Canüle in die zum grossen Theil entleerten schlaffen Venensäcke
ausgeflossen ist. Dazu kommt noch die Zeit in Betracht, welche
die Infusion in Anspruch genommen hat. Denn es darf nicht
fibersehen werden, dass das Herz die langsam eingetragenen Massen
in die Lungen fortgeschafft haben musste, ehe der Druck in den
Venen namhaft ansteigen konnte. Ueberblicken wir meine Ver-
suchsprotokolle , so ist z. B. für den Versuch Nr. 8, pag. 146,
in welchem einem Hunde von 9000 Grm. Hg 400 Ccm. Na Cl-
Lösung eingetragen worden sind, ausdrücklich angegeben, dass
die Infusion 3^/« Minuten in Anspruch genommen hat, also sind
in der Secunde 2 Ccm. Flüssigkeit ausgeflossen; ausdrücklich
heisst es ferner in dem Protokolle, dass der Puls schon nach den
ersten 100 Ccm. fühlbar war.
In einem anderen Versuche, den ich auf pag. 157 mit-
theilte, heisst es sogar ausdrücklich , dass 410 Ccm. Na Cl-Lösung
zum Einfliessen 10 Minuten in Anspruch genommen haben.
(10)
T»"
Deber den thanipentischen Werth der SBlzwasBerinfuBion. \ 75
Im Versuche 31, pag. 154, wird anBdrüeklich angegeben,
(las8 ich 150 Ccm. Flii^igkeit in 2 Reprisen infandirt habe.
Ich sage also gewiss nicht za viel , wenn ich die Bericht-
erstattnng des Herrn Kronecker als eine incorrecte bezeichne.
Doch will ich über diesen Umstand hinweggehen. Setzen wir
den Fall, ich hätte all die Fehler wirklieh begangen, die Herr
Eronecker namhaft macbt, bo stünde es um seine Kritik
immer noch schlecht genug. Ich habe 10 Versnobe von leben-
rettenden Kochsalzinfusionen an verblutenden Händen angestellt.
Nun habe ich ausdrücklich erwähnt, dass die Infusion erst dann
begonnen wurde, wenn die Tbierc pulslos waren. Indem ich
femer durch die Protokolle darthne, dass bei 8 Hunden eine
Wiederbelebung stattgefunden hat, so versteht es sich von selbst,
dass ich durch die Infusion die Herzthätigkeit nicht gelähmt,
sondern wieder angeregt habe. In der That lehrt ja die Palpation
des Pulses, dass mit der fortschreitenden Infusion der Puls immer
kräftiger wird. Diesen Umstand (der Wiederbelebung nämlich) habe
ich noch besonders dadurch hervorgehoben, dass ich den Werth
der Salzwasserinfusion nicht als vollständig nichtig hingestellt,
sondern vielmehr nachdrücklich betont habe, man kSune nach
schweren Blutungen die Herzthätigkeit anregen, und das Indivi-
daum solange am Leben erhalten, bis man es etwa vom Schlacht-
felde in's Hospital bringen, nnd dort eine erneuerte Infusion von Blut
ausführen könnte. Kann nun irgend ein mediciniscb unterrich-
teter Mann ernstlich daran glauben, dass ein Thier, dessen Puls
erloschen, dessen Herzbewegungen nur kaum wabmelimbar
waren, nnd welchem ich unter einem Druck von 80 Mm. Hg
Kochsalzlösungen darch die Venen eingetrieben habe, bis
zu dem Grade, dass der Puls kräftig geworden, die Athmuiig
BJcb wiederhergestellt bat, Eefiexe wieder aufgetreten sind, kann
Jemand daran glauben, dass ein solches Tbier durch diese Infusion,
respective durch den hohen Druck getödtet worden sei ?
Herr Kronecker bericbtet allerdings über seine Erfahrungen,
dass ein mit Salzwasser ausgewaschenes Herz scbeintodt werden
kann. Ist es aber nicht ungereimt, diese Erfahrungen auf meine
Versuche anzuwenden?
176 Maydl.
Sind die Herzen, welche bei meinen Infusionen kräftig zu
schlagen angefangen und noch viele Stunden nach der Infusion
kräftig geschlagen haben, durch meinen Eingriff scheintodt ge-
worden? Der Vergleich mit den scheintodt gemachten Herzen
passt nicht einmal auf jene Versuche, welche ich zu Informations-
zwecken ausgeftihrt habe. Denn es geht aus diesen Versuchen
hervor, dass es mir — vielleicht in Folge einer besonderen Wider-
standskraft des Versuchsthieres — trotz der absichtlichen MiBshand-
lung des Herzens, indem ich 1850 Ccm. (!) Na Cl- Lösung infundirt
habe, nicht gelang, das Herz zum Stillstande zu bringen, und
das Thier erst durch Einstellung der künstlichen Athmung ge-
tödtet werden musste.
Dieser willkürlichen Behandlung, welche Herr Krön eck er
den logischen Principien der Kritik zu Theil werden lässt, ent-
spricht wohl auch seine sachliche Gontrole. Herr Kronecker
hat einen Controlsversuch angestellt. Natürlich am Hunde, werden
die Leser vermuthen. Doch nein. Herr Kronecker hat meine
auf den Hund bezüglichen Angaben am Kaninchen geprüft. Er
hat einem Kaninchen von 2260 Körpergewicht 70 Grm. Blut
entzogen, und unter 150 Ccm. Wasserdruck 200 Ccm. Na Cl-Lösung
eingeflösst. Das Thier starb sofort.
Einem zweiten Kaninchen wurde die Kochsalzlösung bei
geringem Drucke inftmdirt, und dieses Kaninchen überlebte den
Versuch, starb aber nach 48 Stunden.
Auf diesem letzten Umstand, dass nämlich auch dieses
Thier gestorben ist, legt Herr Kronecker, wie es scheint,
kein Gewicht.
Und er mag von seinem Standpunkte aus Recht haben.
Erklärt er doch ausdrücklich, dass die Wissenschaft (die Physio-
logie) steril werde, wenn praktische Gesichtspunkte die Unter-
suchungen leiten. Wahrlich ein beneidenswerther Zustand, in
welchen sich Herr Kronecker als Theoretiker versetzt sieht.
Was ficht das den Theoretiker, der die praktischen Ziele ausser
Acht lässt, weiter an, wenn das Kaninchen 48 Stunden nach der
Operation stirbt. Er hat das Kaninchen gerettet. Von meinem
praktischen Gesichtspunkte aus muss ich die Sache allerdings
anders auffassen. Ich sehe keinen von den beiden Fällen des
(12)
üeber den therapeutischen Werth der Salzvasseiinftision. 177
Herrn Eronecker als gebeilt an. Das eine Thier ist auf dem
Operationstische, das andere 48 Stunden nach der Operation
gestorben.
Der Controlyersuch an den beiden Kaninchen ist also nicht
nur darum von geringem Werthe, weil man von der Widerstands-
kraft des Eaninchenherzens keine Schlüsse ziehen darf, auf
dje Widerstandskraft des Hundeherzens, sondern auch darum,
weil beide Kaninchen, sowohl das bei hohem als auch das bei
niederen Druck infundirte Kaninchen gestorben sind. Herr
Kronecker hätte schon aus diesen mangelhaften Versuchen
entnehmen können, dass sein Widerspincti gegen meine Be-
hauptungen nicht gut fundirt sei.
Ich wende mich nun zur Mittheilung der Ergebnisse jener
Versuchsreihe, welche ich neuerdings angestellt habe. Es handelte
sich hier zunächst darum, zu untersuchen, ob die Salzwasserinfusion
in die Vene eines entbluteten Hundes bei niederem Druck günstigere
Resultate aufweist als bei höherem Aussendrucke.
Zwar haben meine oben angeführten Betrachtungen gelehrt,
dass dem Unterschiede zwischen hohem und niederem Drucke
in die Infusionsflasche nicht jene Bedeutung zukomme, die ihm
Herr Kronecker beilegt, aber es war immerhin wünschenswerth,
die Betrachtung durch eine erneute Beobachtung zu unterstützen.
Ich schalte nun im Folgenden zunächst die Mittheilung über
eine Serie von neuen Versuchen ein, welche bei einem Infusions-
druck von 25 Ccm. Wasser angestellt wurden.
Da alle Versuche an Hunden angestellt worden sind, sei
das hier ein für allemal angemerkt.
Den Zustand des Thieres, an welchem äusserlich kein Lebens-
zeichen wahrzunehmen ist, wo also die Reflexerregbarkeit ge-
schwunden, die Athmung sistirt ist, der Puls nicht gefühlt wird,
wo aber die Herzbewegungeu noch nicht erloschen sind, will ich
als scheintodt bezeichnen. Es mag mir diese Ausdrucksweise
wenigstens für den Zweck dieser Abhandlung gestattet sein, zumal
sie mich der Mühe überhebt, die gleichen Daten in- mehreren
Protokollen zu wiederholen.
(13)
:*-'
178 Maydl
I. Serie.
Versuche mit niederem Drucke (25 Ccm. Wasser) in der
Infusionsflasche :
Versuch 1 am 16. Not. 1886. Körpergewicht 4500, Blutung
aus der Carotis bis 265 Gr. = 5*8^/o des Körpergewichtes,
Puls geschwunden, Athmung sehr selten ; Infusion von 250 Ccm»
neutralen 0'6®/o NaCl-Lösung. Athmung und Seflexe stellen sich
wieder her, abgebunden liegt der Hund regungslos da, bekommt
ab und zu Streckkrämpfe.
Am 18. November Tod, die Section ergibt hochgradige
Anämie aller Organe, Wunde nicht eiternd.
Versuch 2 am 17. November. Körpergewicht 4700, Blutung
aus der Carotis 290 Gr. = 6-1% Kg., Puls nur eben fühlbar,
Athmung sehr selten, Muskelkrämpfe. Infusion in die Jug. ext.
300 Ccm. NaCl-Lösung. Puls wird sofort kräftig, sehr frequent,
Athmung wird regelmässig. Nach dem Abbinden liegt das Thier
kraftlos da. Nachmittags stellt er sich schon auf die Beine auf.
20. November. Wunde eitert. Das Thier überlebt.
Versuch 3 am 23. November 1886. Körpergewicht 6100 Grm.
Blutung aus der Carot. d. 350 Grm. = ö'l^/o Körpergewicht;
Athmung sehr selten, Puls geschwunden, Herzschlag schwach.
Infusion beginnt, Athmung und Puls treten zwar ein, doch
schwinden beide wieder; man steigert den Druck vorübergehend
auf 50 Cm. , worauf Puls und Athmung wieder eintreten. Die
Infusionsmenge betrug 300 Ccm. Das Thier tiberlebt.
Versuch 4 am 24. November 1886. Körpergewicht 5340 Grm.
Blutung aus der Carot. 270 Grm. = ö'O^U Körpergewicht. Die
Blutung sistirt von selbst. Scheintod. Man infnndirt 270 NaCl-
Lösung bei 25 Ccm. Wasserdruck. Puls und Athmung kehren
wieder. Abgebunden zeigt das Thier hochgradige Dispnoe und
Krämpfe, nach IV2 Stunden geht es zu Grunde. Hochgradige
Anämie; sonst nichts Abnormes.
Versuch 5 am 26. November 1886. Körpergewicht 6200 Grm.,
entleert 380 Grm. = 6-lo/o- Bei 350 Grm. treten kurzdauernde
(14)
r
Deber dsn therapenlischBa Werlh der SaliwaBaeriafoHion. 179
Streckkrämpfe ein, die Atlimung ist vortibergcliend sistirt. Nacli
Entleerung weiterer 3ü Grin. treten abeiTnals Streckkrämpfe ein.
Scheintod. Infiision von 300 Ccin. Respiration und Puls kehren
wieder. Das Tbier gebt naeli 3 Standen zn Grunde.
Versuch 6 am 27. November 1886. Körpergewicht 5900 Grni.
Man entleert Blut bis zum Eintritt des Scbeiutodes , und zwar
3:i6 Grm. = .'i-ß"/, Kürpergewicbt. Man infundirt 230 Ccin.
Na C3-Lüsnng ; Puls und Atlimung kehren wieder, abgebunden er-
hebt sich das Thier, wankt aber im Gehen. Starb am 2d. No-
vember Morgens.
Versuch 7 am 29. November 1 88f). Körpergewicht 5450 Grm.
Man entleert 287 Grm, lilnt, es traten Streckkrämpfe ein, Ath-
mung ward selten, bessert sich aber bei stillatebender Blutung.
Infusion von 280 Ccm. NaCl-Lösung. Abg;ebuuden läuft der
Hund einige Schritte herum, wankt hierbei, setzt sich und fällt
endlich um. Das Tbier überlebt.
Versuch 8 am 6. December 1 886. Körpergewicht 5230 Grm.
Man entleert 270 Grm., worauf die Blutung von selbst aufhört;
das Blut gerann in der Canüle, Canille wurde frisch eingebunden,
man setzte die Blutung fort , bis Streckkrämpfe eintraten ; es
waren neuerdings 50 Grm, abgeflossen, zusammen 320 Grm.
= e-l^/o Körpergewicht. Scheintod, Man infundirt 300 Ccm.
Na Ül-Lösung ; Puls stellt sich her , auch Athmung tritt wieder
ein. Das Thier ist sehr matt, richtet sich aber doch auf. Sechs
Stunden später trat der Tod ein.
Versuch 9 am 27. December 1886. Körpergewicht 6300 Grm.
Man entleert 332 Grm, Blut = ö'lVo, bis Scheintod eintrat.
Man goss 330 Grm. Na 01-Lösung ein. Doch stellten sich Athmung
nnd Puls nicht wieder her ; trotzdem Uerzcontractionen nach Er-
öSnnng des Thorax noch vorhanden waren.
Versuch 10. Körpergemcht 8500 Grm. Man entleert aus der
Carotis 435 Grm. Blut := b'VU Körpergewicht, bis Scheintod
eintrat. Man infundirt 450 Grm. NaCI-Lösung; Puls, Athmung,
Reflexe kehren wieder; der Hund läuft abgebunden ziemlich
munter umher. Er starb in der Nacht vom 29. auf den 30. De-
cember.
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180
Haydl.
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^.
n. Serie.
Diese Serie nmfasst vier Versuche, welche bei hohem Drucke
in der Iijifusionsflasche angestellt wurden (120 — 140 Ccm. Wasser-
druck).
Von den yier Versnefafitbiereii starben zwei, während zwei
überlebten; das Verhältniss gestaltete sich hier ganz so wie in
der ersten Serie. Die Thiere, bei denen die Blutung nicht bis
zum Verlöschen der Athmung getrieben worden war, sind am
Leben geblieben, die zwei anderen starben trotz der vorüber-
gehenden Erholung nachträglich. Bei dem einen dieser letzteren
war die Athmung nach der Blutung nicht ganz geschwunden,
aber selten geworden. Das Thier tiberlebte den Eingriff vier Tage.
Das vierte Thier wurde bis zum Eintritte des Scheintodes ver-
blutet, es starb trotz der vorübergehenden Wiederbelebung nach
einigen Stunden.
Versuch l am 6. December. Körpergewicht 9350 Grm.
Man entleert 405 Grm. Blut aus der Carotis = 5*l<*/o Köi-per-
gewicht. Puls geschwunden, Athmung dauert fort, Blutung erfolgt
nur mehr bei der Exspiration; Infusion von 400 Ccm. NaCi-
Lösung unter 140 Ccm. Wasserdruck. Keine Dyspnoe; das Thier
tiberlebt.
Versuch 2 am 7. December. Körpergewicht 6000 Grm.
Man entleert aus der Carotis 300 Grm. Blut = b^lo Körper-
gewicht, bis der Hund Blasenkrämpfe, sowie solche der ge-
sammten Musculatur bekommt; die Blutung steht still. Athmung
noch vorhanden. Infusion von 300 Ccm. NaCl-Lösung bei 120 Ccm.
Wasserdruck. Der Hund läuft nach Lösung der Fesseln sofort
herum. Ueberlebt.
Versuch 3 am 9. December. Körpergewicht 5200 Grm.
Man entleert aus der Carotis 270 Grm. Blut = 5* 7 o/o Körper-
gewicht. Streckkrämpfe, Puls geschwunden, Athmung selten; man
infundirt nun unter einem Druck von 1 20 Ccm. Wasser 250 Na Cl-
Lösung. Puls kehrt sofort wieder; abgebunden läuft das Thier
ganz munter herum. Es starb am 13. December.
(16)
^
üeber den UierApentischeii VerÜi der SalsvaBBerinfaafon. Ig^
Versuch 4 am 10. December. Körpergewicht 6700 Grm.
Man entleert ans der Carotis 445 Grm. = d'C/o Blut bis zum
Scbeintode. Hierauf wird dem Thier bei 130 Ccm. Wasserdrack
400 Ccm. NaCl-Lösung eingegossen; Puls und Athmung treten
wieder eiD, der Hand liegt kraftlos da, aber mit lebhaftem Aos-
dmck der Aagen. Starb in der folgenden Nacht. Section wies
hochgradige Anämie nach.
Die hier namhaft gemachteo Versuche wären wohl nicht
ansreicbend, am daranfhin neue weittragende Anssagen zn gründen.
Da ich aber schon früher eine beträchtliche Reihe von Infdsions-
versuchen ausgeführt habe, und die ErgebniHse der jetzt ange-
stellten Experimente , insoweit sie die Heilung betreffen, in ihren
Resultaten mit den früheren Versuchen itbereinstimmen, so scheint
es mir, dass eine weitere Wiederholang — insolange keine
neuen Gesicbtspankte eingeführt werd,en — nutzlos sei.
Diesmal war, wie schon hervorgehoben wurde, mein Augen-
merk nur darauf gerichtet, zu erfahren, ob die Verschiedenheit
des Druckes in der Infusionsflasche innerhalb der angegebenen
Grenzen auf die Erhaltung des Lebens von irgend einem Ein-
flösse sei. Die Antwort, welche meine Experimente anf diese
Frage geben, lautet absolut negirend.
Es hat sich in allen Versuchen übereinstimmend heraus-
gestellt, dass tiber das Weiterleben des Thieres nicht die Höhe
des Druckes in der Infosionsflasche ') , sondern die Grenze , bis
zu welcher die Verblutung gediehen ist, entscheidet. Zwar lässt
sich in keinem Falle bestimmt bemessen , wie viel Blut in dem
Thiere nach der Blntnng noch znrfickblcibt. Wir kennen ja den
absoluten Blutgehalt des Tbieres nicht genau genug. Ich kann
mich daher nur an jene Merkmale halten, welche einen gewissen
Grad der Blutung charakterisiren. Diese Merkmale sind das Ver-
halten de« Pulses, der Athmung und der Reflexe. Der Puls ist
aber selbstverständlich von geringerer Bedeutung als die Athmung.
Denn wenn der Puls aufhört, so beisst das eigentlich nur so
viel, als dass wir ihn nicht wabmehmen. Ob wirklich keine
Blutbeweg^iDg mehr stattfindet, ist damit noch nicht entschieden.
-) Natürlich innertialb der discntirtan Grenzsn.
182 Maydl.
Sieber ist es, dass die Herzbewegangen länger andauern, als der
Puls wahrnehmbar ist. So lange aber die Herzbewegnngen vor-
handen sind, ist die Wahrscheinliehkeit gegeben, dass diese Be-
wegungen mit dem Einströmen der Salzlösung an Grösse gewinnen.
Wenn hingegen die äusserlich wahrnehmbaren Athembewe-
gungen aufgehört haben, dann hat die Athmung überhaupt aufgehört.
In der That ist die äusserste Gefahr für das Leben des Thieres noch
nicht mit dem Erlöschen des Pulses, sondern mit dem Aufhören
der Athmung oder, wie ich es nenne, mit dem Eintritte des
Scheintodes gegeben. Wird — nach dem Aufhören des Pulses und
der Athmung — alsbald die Infusion eingeleitet, so werden die
Thiere, so weit meine Erfahrungen reichen, in der Regel wieder
belebt ; das Herz beginnt kräftig zu schlagen, der Puls wird deut-
lich tastbar und bald darauf beginnt auch die Athmung wieder.
Aber das ist fiir das Fortleben des Thieres noch nicht von
entscheidender Bedeutung.' Entscheidend ist aber der Grad der
Anämie. Ist die Anämie sehr weit gediehen, dann stirbt das Thier
schon nach wenigen Stunden, man mag bei höherem oder niederem
Drucke (in der Flasche) infundirt haben.
Herr Kronecker bezeichnet mich und Herrn Schramm^),
welch letzterer ähnliche Resultate erzielt hat wie ich, als „die
Herren Nacharbeiter^ , die unter ungünstigen Verhältnissen ge-
arbeitet haben. In meinen Versuchen war es der hohe Druck, bei
Herrn Schramm wieder die Alkalescenz der Infusionsflüssigkeit,
welche die Thiere getödtet habe. Die Lösung, welche Herr
Schramm infundirt hat, nämlich 1 Grm. kohlensaures Natron
pro mille 0*6% Kochsalzlösung, sei, sagt Herr Krön eck er, für
das Thier nicht indifferent, sondern gefährlich, und zwar gefahrlich
nicht gerade durch den Gehalt an kohlensauren Natron, sondern
durch die Alkalescenz.
Herr Kronecker theilt in seiner Publication nicht mit,
ob ihm so ausreichende chemische Untersuchungen zur Verfügung
stehen, nm eine solche Aussage vom chemischen Standpunkte aus
stützen zu können. Da er eine solche Angabe nicht macht, so
') Schramm. Ueber den Werth der Eochsalsinfosion und Blattransfosion
etc. Wiener med. Jahrbücher 1885.
(18)
Deber den therapenti sehen Werth der Salzwasnerinftaidn. 1^3
bleibt ims vorläufig nichte anderes übrig, als die Aeosserungeo
jener Aatoritäten zn Batbe zn ziehen, welobe solche Untersnchungen
wirklich angestellt haben. Und bo erlaube ich mir die folgenden
Angaben Ton Zuntz^) zu citiren:
„Die durch Titriren leicht zn ermittelnde Alkalescenz des
BlntsemmB entspricht nach meinen nnd Sctschenofs (M6m. de
l'acad. de St. Petersbonrg. 1879, XXVI, Nr. 13, pag. 9) Versuchen
einer O'l — 0"2'/oigen Sodalösnng, die des Blutes etwa einer doppelt
so starken" (also 2 — 4 pro 1000 Aq.). Diesen Angaben zufolge
wäre die Kritik des Herrn Kronecker auch contra Schramm
keine berecbtigte.
Herr Kronecker bat aber vier Experimente angestellt,
und zwar infnndirte er zweimal alkalische, zweimal neutrale Koch-
salzlösung. Der Verlauf war in den ersten beiden Fällen tödtlieh,
während -die Thiere in den zwei zaletzt genannten Fällen am
Leben blieben.
Aber hier muss über den Ergebnissen der Arbeit des Herrn
Kronecker irgend ein Missgescbick gewaltet haben.
Zwar dass zwei seiner Thiere, denen er netitrale Lösungen
infandirt hat, am Leben geblieben sind , darüber wundere ich
mich nicht. Werden die Thiere nicht bis zum Eintritt des Sehein-
todes entblutet, dann überleben sie eben die Infusion.
Dass die zwei anderen Thiere, denen alkalische Flüssig-
keiten infundirt worden sind, gestorben sind, daran zn zweifeln,
fallt mir gleichfalls nicht bei. Ob sie aber wegen der Alkalescenz
der InfusioDsflüssigkeit gestorben sind, daran wage ich zn zweifeln.
Ich habe nämlich in diesem Sinne auch einige Versnche angestellt,
und diese Versuche sprechen durchaus gegen die Ergebnisse des
Herrn Kronecker und im Sinne der oben citirten Angaben von
Znntz. Sogar die Steigerung des Gehaltes an kohlensanrem
Natron bis zu 4 Grm. pro mille hat eich nicht als lebens-
gefährlich erwiesen.
Um aussagen zu können, daBS die Alkalescenz der Infusions-
fliissigkeit das Thier getödtet habe, muss man die Versuche zu-
<) Zqd tz, üeber Blatgsse, in Herrmann's Handbuch der Physiologie,
paß. 65.
Ued, JithrbücliGr. tSH7. ^g dtl]
1
184 May dl. üeber den therapetitisclieii Werth der Salzwasserinfasion.
nächst 80 anstellen, dass sieh die Thiere nicht auf's Aensserste,
d. h. nicht bis zum Eintreten des Scheintodes verbluten.
Denn wird bis zum Scheintode entbluteten Thieren eine
alkalische Solution infundirt und gehen die Thiere zu Grunde, so
bleibt die Frage offen, ob die Todesursache in der Anämie oder
in der Alkalescenz der Infusionsflttssigkeit gelegen habe.
Die Verblutung darf bei solchen Thieren nur eben so weit
getrieben werden, dass der Puls schwindet oder nur eben fühl-
bar wird, die Athmung hingegen, wenn auch mit geringer
Fi-equenz, andauert. In solchen Fällen wird, wie meine Versuche
lehren, das Sterblichkeitsprocent nach der Infusion der Sehr am m-
schen Flüssigkeit nicht grösser, als wenn man neutrale Lösungen
einspritzt.
-m^
Draek von Oottlieb Qiitel ä Comp, in Wien.
(20)
WeiuTiiH'aiiüi..laliHni.hi'i\.1uiirtiiiis IK81.
VeKag 101 Alfred Hglder k.k UH ^ainnilats-fuclihiniHa! in
IX.
Ueber Lupus des Kehlkopfes, des harten und
weichen Gaumens und des Pharynx.
Von
Dr. Michael Grossmann in Wien.
(Am 24. Februar 1887 yon der Bedaction übemommen.)
(Hierzn Taf. n und m.)
Es ist noch immer unentschieden, ob die lupöse Erkrankung
im Kehlkopfe zu den häufigeren pathologischen Erscheinungen
gehöre, oder nicht. Türck% der Erste, der diese Erankheits-
form im Larynx gesehen und beschrieben hatte, meint , dass der
Lupus im Kehlkopfe ein häufigeres Yorkommniss sei; allein mit
dieser Behauptung steht die Thatsache in einem unaufgeklärten
Widerspruche, dass T ü r c k bei seinem so reichen Beobachtungs-
materiale im Ganzen nur fünf Fälle zu Gesichte bekam.
Ziemssen-"), Kaposi') und Andere theilen die Anschauung
>) Klinik der Krankheiten des Kehlkopfes. 1866, pag. 425.
') Ziemssen's Handbnch. Bd. IV, I.Hälfte.
") Kaposi, Pathologie nnd Therapie der Hantkrankheiten in Yorlesmigen.
ürban & Schwarzenberg, 1879, 2. Hälfte, pag. 651.
Med. Jahrbücher. 1887. X6 ^^^
Xgg GroBsmann.
Türck's bezüglich der Häufigkeit des Lupus laryngis. Es sind
zwar immer nur einzelne Fälle, die diese Autoren selbst beobachtet
haben und sie stützen ihre Meinung zumeist auf die Yermuthung,
dass bei Lupösen im Allgemeinen der Kehlkopf viel häufiger in
Mitleidenschaft gezogen werde, als dies sonst geglaubt wird.
Thatsache ist, dass man noch vor wenigen Jahren die Zahl der
beobachteten und in der Literatur verzeichneten Fälle von Lupus
laryngis an den Fingern herzählen konnte, und Morell Mackenzie^)
wusste in seinem im Jahre 1880 erschienenen, von S e m o n über-
setzten Lehrbuche aus der Gesammtliteratur blos über zehn Fälle
zu berichten '), aus seiner eigenen so reichen Erfahrung hingegen
im Ganzen nur zwei Fälle hinzuzufügen.
Die so vage ausgesprochene Yermuthung, dass der Lupus
des Kehlkopfes bei Lupösen im Allgemeinen ein häufigeres Vor-
kommniss sei , ist in jüngster Zeit auf ihre Berechtigung etwas
genauer untersucht worden.
Die erste statistische Arbeit zur Lösung dieser Frage rührt
von Nicolai Holm 5) her. Wir entnehmen aus seiner sorgfältigen
Zusammenstellung, dass von neunzig Lupösen, die vom Jahre 1 866
bis 1877 im Commune-Hospital zu Kopenhagen zur Beobachtung
kamen und einer genaueren laryngoskopischen Untersuchung unter-
zogen wurden, eine gleichzeitige lupöse Erkrankung des Kehl-
kopfes nur in sechs, und wenn wir den einen, zweifelhaften Fall
abrechnen, nur in fünf Fällen, also in 5'5^!q constatirt werden
konnte.
Chiari uud Biehl^) haben nach einer Zusammenstellung
aus den Protokollen der dermatologischen Klinik in Wien, von
727 Lupösen, nur in sechs Fällen, also in 0*8°/o eine gleichzeitige
lupöse Erkrankung des Kehlkopfes verzeichnet gefunden.
Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass nur jene
^) Die Erankheiten des Halses and der Nase von MoreU Maokenzie.
Deutsch von Felix Semon. Berlin 1880, Aug. Hirschwald.
') In diesen zehn Fällen ist der von mir der k. k. Gresellschaft der Aerzte
in Wien im Jahre 1877 vorgestellte Fall bereits inbegriffen.
^) Holm, Lnpns affectionens Forhold die Scrophnlosen etc. EjÖbenhafn 1877.
*) Chiari nnd Riehl, Lnpns vulgaris laryngis. Vierteljahrschr. für
Dermat. nnd Syphil. Jahrg. 1882.
(2)
üeber Lupus d. Kehlkopfes, d. harten n. weichen Ganmens n. d. Pharjnx. \Q^
Kranken, welche an Kehlkopf beschwerden litten, einer genauen
laryngoskopischen Untersuchung unterzogen wurden.
Chiari und Biehl haben überdies 68 Lupöse der oben-
•erwähnten Klinik, ganz ohne Bücksicht, ob von Seite des Kehl-
kopfes irgendwelche Beschwerden vorlagen oder nicht, einer
genaueren laryngoskopischen Untersuchung unterzogen und dabei
gefunden, dass der Larynx sechsmal, also in 8*8^/0 der Fälle, von
der lupösen Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen war*
Die statistischen Besultate dieser beiden letzten Autoren
stimmen demnach so ziemlich mit jenen von Holm überein.
So verdienstvoll die beiden erwähnten Arbeiten auch sind,
so erscheinen sie doch nicht hinreichend genug, um die Frage
über die Häufigkeit des Lupus laryngis endgiltig zu entscheiden.
£s werden die diesbezüglichen statistischen Arbeiten noch lange
und sorgfältig fortgesetzt werden müssen und insbesondere müsste
darauf gesehen werden, dass man jeden Lupuskranken selbst
dann mit dem Kehlkopfspiegel untersuche, wenn von Seite des
Larynx gar keine Erscheinung dazu herausfordert. Die wenigen
bisher publicirten Fälle lehren ja zur Genüge, mit welchen ge-
ringen, von den Kranken kaum beachteten, subjectiven Empfin-
dungen die Initialstadien der lupösen Erkrankung des Kehlkopfs
sich einzuschleichen pflegen.
Ebensowenig wie die Frage über die Häufigkeit dieses
Leidens, ist es noch bisher entschieden, ob der Lupus im Kehl-
kopfe primär vorkommt oder nicht. Der von Ziemssen publi-
cirte Fall steht in der Literatur noch immer vereinzelt da.
Jedenfalls muss die Symptomatologie des Lupus im Kehl-
kopfe, in allen möglichen Stadien dieser Krankheit, und zwar in
jenen Fällen, wo die Diagnose durch die Erscheinungen an der
äusseren Haut sichergestellt ist, noch sorgfältig studirt werden,
um verlässliche charakteristische Symptome kennen zu lernen,
die uns befähigen sollen, den primären Lupus des Larynx, wenn
ein solcher überhaupt vorkommt, mit aller Bestimmtheit zu dia-
gnosticiren.
Chiari und Biehl haben in ihrer erwähnten Arbeit nach
dieser Bichtung zweifellos werthvoUe dilferential-diagnostische
Anhaltspunkte geboten. Findet man, so meinen diese beiden
16 ♦ (8>
Igg Grossmann.
Autoren, papilläre Exerescenzen neben nlcerösen, oder einge-
sunkenen, narbigen Partien, so können diese, verschiedene Phasen
des Verlaufs repräsentirenden Symptome kaum auf einen anderen
Erankheitsprocess bezogen werden. „Eine ganz sicher
stehende Diagnose ermöglicht dagegen der Befund
einer mit braunrothen, eingesprengten Lupus-
knötchen versehenen Narbe/
Obgleich ich nun in den von mir beobachteten und hier in
Wort und Abbildung zur Publication gelangenden zwei Fällen
die von Chiari und Riehl geschilderten Symptome ganz zweifel-
los gesehen habe, und obgleich ich deren differential-diagnosti-
schen Werth vollinhaltlich anerkenne und endlich, obgleich ich
weiter unten einen ferneren und wie mir scheint nicht werthlosen
Beitrag zu dieser Differentialdiagnostik zu liefern in der Lage
zu sein glaube, so würde ich es dennoch nicht wagen, mit aller
Bestimmtheit auszusprechen, dass ich im gegebenen Falle, bei
dem derzeitigen Stand unseres diesbezüglichen Wissens, den pri-
mären Lupus des Kehlkopfs, mit einer jeden Zweifel aus-
schliessenden Sicherheit, erkennen würde.
Ich habe es zweifellos nur einem glücklichen Zufalle zu ver-
danken, dass ich in meinem bescheidenen Wirkungskreise nunmehr
zwei Fälle von Kehlkopflupus zu beobachten Gelegenheit hatte.
Ich will nun zuerst meinen zweiten, der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Wien am 8. October 1886 vorgestellten Fall
schildern und den bereits im Jahre 1877 derselben Gesellschaft
demonstrirten Fall, der noch bis zur Stunde in meiner Beobachtung
steht, kurz anfügen.
Johann Wicher ist zehn Jahre alt und das Kind einer armen
Arbeiterfamilie. In seinem sechsten Lebensjahre wurde er in die
Schule geschickt, die er auch ein volles Jahr hindurch, bei unge-
trübter Gesundheit, ununterbrochen frequentirte. In dieser Zeit
wohnten seine Eltern in einer dumpfen feuchten Wohnung^), am
Ufer des Wiener-Neustädter Canales. In welchem desolaten Zu-
stande diese Wohnung sich befunden haben mochte, lässt sich
daraus schliessen, dass dieselbe, aus hygienischen Rücksichten,
*) III., Obere Bahngasse Nr. 6.
(4)
üeber Lupus d. Kehlkopfes, d. liarten u. weichen Ganmens n. d. Pharynx. Ig9
anf behördliche Veranlassung geräumt und das ganze Object
demolirt werden musste.
Der siebenjährige Knabe verliess diese Wohnung mit einer
massigen Anschwellung einiger Drüsen in seiner linksseitigen
Submaxillargegend. Die Schwellung nahm nur allmälig zu, ver-
ursachte keine weiteren Beschwerden und erst nach Verlauf von
drei Monaten hat eine Drüse nach der anderen zu vereitern be-
gonnen. Die Eltern wollten es durchaus nicht zugeben, dass der
Drflsenabscess durch das Messer geöfihet werde, und verwendeten
verschiedene Einreibungen und Salben, um den gefttrchteten opera-
tiven Eingriff zu umgehen. Als auf diese Weise dem Eiter aus
zwei Drüsen der freie Abfluss geschafft war, sah ich nach einigen
Tagen die Haut an den Rändern der Abscessmündungen stark
geröthet, geschwellt und mit zahlreichen dunkelrothen Knötchen
besetzt. Diese Erscheinung nahm von Tag zu Tag zu, bald war
die ganze Haut der linken Submaxillargegend von solchen Knöt-
chen übersäet und das Bild eines Lupus vulgaris in zweifelloser
Weise etablirt.
Zwei Monate nach dem ersten Auftreten der lupösen Er-
krankung an der Haut wurde das Kind, ohne jedwede weitere
Veranlassung, aber auch ohne die geringsten Beschwerden zu
haben, über Nacht heiser. Bei der damals vorgenommenen laryngo-
skopischen Untersuchung fiel mir das Missverhältniss zwischen
der Heiserkeit und dem objectiven Befunde auf. Die Beweglich-
keit der wahren Stimmbänder und der Glottisverschluss waren
in kaum merklichem Grade beeinträchtigt und es war ausser einer
Hyperämie sämmtlicher Kehlkopftheile nichts Krankhaftes nach-
zuweisen.
Ich habe von dieser Zeit ab das Kind Anfangs wöchentlich
2— 3mal, später, mit seltenen Ausnahmen, fast täglich zu sehen
und laryngoskopisch zu untersuchen Gelegenheit gehabt.
Nahezu zwei Monate habe ich absolut nichts Anderes als
die bereits erwähnte Hyperämie, bei täglich zunehmender, bis zur
Aphonie sich steigernder Stimmlosigkeit beobachten können. Der
Kranke selbst hatte bis dahin gar keine Beschwerden von Seite
des Kehlkopfes und ich beschränkte mich demnach blos auf Ein-
blasungen von Alaun, dem ich erst dann etwas Morphin beigefugt
(5)
190 Grossmann.
habe, als in der fünften Woche znr Heiserkeit ein heftiger, krampf-
artiger Hnsten, namentlich Nachts, sich gesellte.
Von da ab änderte sich das laryngoskopische Bild, ich kann
wohl sagen, von Tag zu Tag.
Ich vermag den damaligen Befand nicht treffender zn schildern,
als wenn ich sage, dass die intensiv hyperämischen Theile des
Kehlkopfes, namentlich aber die Schleimhaut der Epiglottis in
ihrer ganzen Ausdehnung, auf ihrer vorderen und laryngealen
Fläche, sowie die über den Aryknorpeln und aryepiglottischen
Falten das Bild einer hochgradigen trachomatosen
Conjunctiva darboten.
Die stark geröthete Schleimhaut hat von ihrer Durchsichtigkeit
bedeutend eingebtisst und ihre Oberfläche ist von kleinen, mohn-
bis hirsekorngrossen , dicht aneinandersitzenden Granulationen
übersäet. 1)
Schon nach wenigen Tagen, nachdem ich die oben geschilderte
^) Anmerkung. Der oben geschilderte, mit dem Trachom der Conjunctiva
verglichene Kehlkopfbeftind hat mit dem bekannten, bei Miliartuberculose des
Larynx vorkommenden Bilde nicht die entfernteste Aehnlichkeit, und kann daher
mit diesem Erankheitszustande nie verwechselt werden. Bei der Miliartuberculose
des Larynx schimmern diese gelblichen oder graugelblichen Miliarknötchen durch
die zumeist anämische und im Beginne noch glatte Schleimhaut hindurch, und
erst bei zunehmender Infiltration wird diese immer unebener, bis es endlich zum
Zerfall der oberflächlichen Gebilde, zu einem grösstentheils rasch um sich greifenden
Geschwtlre kommt. Die Basis und die Umrandung dieses GeschwtLres zeigen erst
recht die Anwesenheit von Miliarknötchen, die erwiesenermassen selbst die tiefsten
Schichten, und ab und zu auch das knorpelige Gerüste durchsetzen. Die er-
krankten Theile sind starr infiltrirt, oft bis auf das Zwei- und Dreifache verdickt
und in ihrer Beweglichkeit in hohem Grade beeinträchtigt. Bei Berührung mit
der S<)nde fühlen sie sich steinhart an und verursachen, insbesondere wenn der
Kehldeckel oder die Aryknorpel der Sitz der Krankheit sind, die peinlichsten
Schlingbeschwerden.
Beim lupösen Processe sind die zarten, schon von vorneherein viel dichter
aneinander und an der Oberfläche sitzenden Knötchen lebhaft roth, verleihen
der Schleimhaut eine zart granulirende Fläche und unterscheiden sich demnach
schon durch die Farbe und Anordnung von den übrigens allbekannten und gar
nicht zu verwechselnden Bildern bei Miliartuberculose. Ueberdies scheinen die
Theile beim Lupus im Gegensatze zur Tuberculose an Beweglichkeit nur wenig
einzubüssen und selbst am Höhepunkt des Processes keine Schlingbeschwerden
zu verursachen.
(6)
üeber Lupus cL Kehlkopfes, d. liarten u. weichen Gaumens n. d. Pharynx. 191
Beobachtung im Kehlkopfe gemacht habe, konnte ich ganz dieselben
Erscheinnngen am weichen und harten Gaumen wahrnehmen, und
es war mir nun ganz klar, dass ich es hier mit einem ernsteren
Leiden des Larynx, des harten und weichen Gaumens, zu thun
habe, und dass diese eigenthümliche , bei gar keinem anderen
pathologischen Processe beobachteten Erscheinungen, bei dem
Umstände, dass an der allgemeinen Decke Lupus vorhanden
war, nur einzig und allein auf eine lupöse Infection zurück-
zuführen sei.
Ich muss hier gleich bemerken, dass ich von da ab, um
mir die weitere Entwicklung des klinischen Bildes nicht zu trüben,
eine jede fernere, locale Behandlung unterlassen habe.
Der oben geschilderte Zustand bestand 2 — 3 Wochen hindurch,
. ohne dass mir irgend welche Veränderung aufgefallen wäre.
Nach beiläufig vier Wochen merkte ich, wie der freie Band
der Epiglottis immer unebener, dicker, plumper wurde, und dass
anstatt der ursprünglichen, zart granulirten Oberfläche, an einzelnen
Stellen eine grössere Confluenz dieser Granulationen stattfindet.
Ich sah, wie auf diese Weise an mehreren Stellen des Kehl-
deckels stärker prominirende und intensiv iqjicirte Knötchen ent-
standen. Am harten und weichen Gaumen, wo durch die etwas
blassere Schleimhaut wie Sagokömer aussehende Granulationen
durchschimmerten, konnten ganz dieselben Erscheinungen wie im
Kehlkopfe beobachtet werden, und ich sah hier wie dort an
einzelnen Stellen die immer zunehmende Confluenz der Granula-
tionen, die Bildung der bereits geschilderten Knötchen, bis nach
einigen Tagen an der Spitze einer solchen prominirenden Stelle
ein Epithelial- und wieder nach einigen Tagen ein tiefer Substanz-
verlust, ein effectives Geschwür sich etablirt hat.
Während an einzelnen Stellen des Gaumens und des Kehlkopfes
diese Substanzverluste ohne weiteres Hinzuthun spontan vernarbten
(im Gegensatze zu den tuberculösen Geschwüren), tauchten an
verschiedenen anderen Stellen neue Geschwürsbildungen in der
geschilderten Weise auf.
Oft ereignete es sich, dass zwei und mehrere solcher Geschwüre
sich nebeneinander entwickelten, und schliesslich zu einer einzigen
grösseren Ulcerationsfläehe sich vereinigten.
(7)
\
192 OrossmaniL
Dieser Process der Gfeschwürsbildang und Vemarbang spielte
sich an den verscliiedensten Stellen des Kehlkopfes, des harten
nnd weichen Gkinmens ab, ohne den Kranken beim Schlacken oder
sonstwie irgendwelche Beschwerden zm verorsachen.
Nach nngefähr einem Jahre, nachdem sämmtliche Theile des
Kehlkopfes, zumeist aber die Epiglottis zum wiederholtenmale und
an den verschiedensten Stellen der Sitz von diesen Ulcerationen
gewesen sind, den vorausgegangenen Process theils Narbenreste,
theils unregelmässige an einzelnen Stellen, wie am freien Bande der
wahren Stimmbänder, zackig hervorragende Granulationen mar-
kirten, bekam der Kranke an der vorderen Fläche der hinteren
Larynxwand eine von Tag zu Tag zunehmende Schwellung, die
nach Verlauf von 5 — 6 Wochen wie ein Tumor in das Kehl-
kopfinnere hineinragte und über zwei Drittel der Glottis deckte.
Die dadurch bedingten Atbembeschwerden des Kranken waren,
namentlich während des Schlafes, ziemlich bedeutend, weit weniger
im wachen Zustande.
Ich glaubte nun, dass ich meine observative Methode nicht
werde weiter fortsetzen dürfen, und hatte die Absicht, wenn
die Atbembeschwerden noch fernere Fortschritte machen sollten,
dieselben dadurch zu beseitigen, dass ich nach vorausgegangener
Einpinselung des Kehlkopfes mit einer 20procentigen GocaYnlösung,
das Larynxinnere mit einer 50-, dann SOprocentigen Milchsäure-
lösung ganz energisch cauterisire. Ich habe in diesem Falle
deshalb an dieses Causticum gedacht, da ich bei diesem Kranken
den Lupus an der Haut, u. zw. ebenfalls mit Zuhilfenahme der
schmerzstillenden Wirkung des CocaXtis, mit der Milchsäure bereits
erfolgreich behandelt habe.
Diese hochgradige Schwellung und die dadurch bedingten
Athembeschwerden ereigneten sich in den Sommermonaten des
vorigen Jahres, und ich zögerte deshalb mit dem Eingriffe, da ich
die Absicht hatte, den Kranken im Herbste der k. k. Gesellschaft
der Aerzte in Wien vorzustellen.
Ich verschob nun die Cauterisation von einem Tage auf den
anderen und hatte dabei die unerwartete Genugthuung, dass die
Schwellung etwas geringer und die Athembeschwerden sich in
auffallender Weise spontan besserten, und ich konnte den Kranken
(8)
üeber Lupus d. Kehlkopfes, d. luurten u. weichen Gaiiinens n. d. Pharynx. 1 93
am 8. October 1886 in dem Zustande vorstellen, der hier in den
Abbildungen (Tafel n und m, Fig. 1, 2 nnd 3) möglichst natur-
getreu wiedergegeben ist.
Fig. 1 zeigt die lupöse Erkrankung der Haut an der linken
Wange und in der Submaxillargegend derselben Seite.
Taf. m, Fig. 3 zeigt die Erkrankung des harten und weichen
Gaumens. Man sieht hier noch am vorderen Abschnitte des harten
Gaumens, namentlich am Processus alveolaris der vorderen Schneide-
zahne ausgebreitete Substanzverluste, die sich zwischen den beiden
vorderen Schneidezähnen bis auf die Oberlippe erstrecken. An der
linken Ganmenhälfte sind zwei neue in Zerfall begriffene Eruptionen
sichtbar und genau in der Mitte des weichen Gaumens, in der
Gegend der Uvula befindet sich eine weissgelbliche, kreuzförmige,
glatte Narbe, in welcher ein Nachschub von zwei neuen Knötchen
deutlich sichtbar ist (charakteristisch fbr Lupus nach C h i a r i und
R i e h 1). Ueberdies ist in der ganzen Schleimhaut des harten und
weichen Gaumens jene Sagokömem ähnliche Granulation zu
bemerken, deren ich bereits, oben erwähnt habe.
In Fig. 2, Taf. II, sehen wir, dass an der Epiglottis Narben-
gebilde und Substanzverluste vorhanden sind. Die beiden wahren
Stimmbänder, die gerötbet, uneben und gewnistet sind, tragen an
ihren freien Rändern in die Glottis hineinragende, im Athmungs-
strome frei flottirende Granulationen. Die an der vorderen Fläche
der hinteren Larynxwand aufsitzende Geschwulst deckt mehr als
die Hälfte des hinteren Abschnittes der Stimmbänder. Die Ary-
knorpel, sowie die aryepiglottische Falte stark intumescirt.
Ich will hier nur noch ergänzend kurz hinzufügen, dass ich
seit der Vorstellung des Kranken sämmtliche Ulcerationen am
Gaumen, wie im Kehlkopfe, nach vorhergehender CocaKtiisirung
mit einer 80procentigen Milchsäurelösung behandle und mit dem
Erfolge ganz zufrieden bin. Die krankhaften Erscheinungen
schwinden doch viel rascher, als wenn sie der Naturheilung über-
lassen sind.
Das Ausfallen der Zähne, das Kaposi^) bei solchen Kranken
hervorhebt, habe ich bei diesem Patienten, bisher wenigstens, obwohl
*) 1. c.
9)
194 GroBsmann.
der Process in der Gegend der Alveolarfortsätze nnd an der
Gingiya (vid. Tafel III, Fig. 3) in intensiver Weise sich abwickelte,
nicht beobachten können. Ebensowenig konnte ich bisher ein
Weiterschreiten des Processes gegen die Trachea constatiren, wie
dies VirchowO iind Idelsohn*) gesehen haben.
Der Inpöse Process hat bei diesem Kranken anter Erschei-
nungen nnd in Folge eines Anlasses begonnen, die unwillkttrlich
an Scrophulose erinnern. Es müsste sonst angenommen werden,
dass die Intumescenz und die Vereiterung einer ganzen Reihe von
Drüsen in der linken Submaxillargegend von vorneherein durch
das Lupusgift veranlasst wurde und dass demnach in diesem
Falle die Drüsen zweifellos der primäre Sitz dieser Krankheit
gewesen sind.
Es ist ja allbekannt , dass die Ansicht , die Genese des
Lupus hänge mit der Scrophulose irgendwie zusammen , eine
weite Verbreitung fand. So führt z. B. Fuchs den Lupus unter
den Scrophulosen an; Wilson als Scrophuloderma ; Plumbe
als Strumous affection und die französischen Autoren als Affection
scrophuloes, Scrophelide tuberculeuse maligne. Allerdings haben sich
gegen diese Auffassung viele wichtige Stimmen, wie Virchow,
Klebs, Kaposi und noch Andere, ausgesprochen.*)
Einige Autoren, wie Veiel, Wilson, zum Theile sogar
H e b r a, bringen den Lupus mit hereditärer Syphilis in Zusammen-
hang. Diese Annahme, der übrigens allgemein widersprochen
wird, kann in dem von mir oben geschilderten Falle mit der
grössten Wahrscheinlichkeit, die man sich nur diesbezüglich über-
haupt verschaffen kann, ausgeschlossen werden.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so ist es der bacterio-
logischen Forschung vorbehalten, die Lupusfrage endgiltig zu
lösen. Bekanntlich hat Koch nicht blos bei Lepra, sondern auch
in den Lupusknoten den Tuberkelbacillus nachgewiesen. Es sind
allerdings schwer wiegende, klinische Bedenken, die, wenigstens
vorläufig, gegen die Identität von Lupus und Tuberculose sprechen
^) Virchow, Die krankhaften Geschwftlste. 1864—1865, II. Bd., pag. 491.
') Rosalie Idelsohn, lieber Lnpns der Schleimhänte. 1879, Hemer
Dissertation.
') Kaposi, 1. c.
(10)
lieber Lupus d. Kehlkopfes, d. harten u. weichen Gaumens u. d. Phar3mx. 195
und Schwimmer 0 markirte diese, übrigens Jedem geläufige
DifiFerenz, gelegentlich der vorjährigen Versammlung deutscher
Naturforscher und Aerzte in Berlin, indem er folgende Punkte
hervorhob: 1. Die relative Seltenheit der Hauttuberculose im
Vergleiche zur Häufigkeit des Lupus; der verschiedenartige Ent-
wicklungsgang beider Processe. 2. Das fast ausschliesslich pri-
märe Auftreten der Tuberculose in den Schleimhäuten mit nach-
folgendem Uebergreifen auf die benachbarten Hautpartien —
während der Ausbruch des Lupus in umgekehrter Richtung er-
folgt. 3. Die verschiedenartige Einwirkung des tuberculösen und
lupösen Hautprocesses auf den Gesammtorganismus, — ersterer
hat fast immer allgemeine Tuberculose zur Folge, bei letzterem
ist eine derartige Coincidenz nicht leicht zu beweisen.
Es wird nun Sache der weiteren Forschung sein, zu prüfen,
ob und in welcher Beziehung der beim Lupus nachweisbare Spalt-
pilz zum Tuberkelbacillus stehe und durch welche Momente die
Verschiedenheit der klinischen Bilder, der differente Effect des
scheinbar gleichartigen Virus bedingt sei.
Ich will nun hier einige Worte über meinen ersten Fall
hinzufügen. Die Art und Weise, wie derselbe in meine Beobachtung
kam, ist nicht uninteressant und ftir diesen Erankheitsprocess
geradezu charakteristisch ; — ich entdeckte ihn in der k. k. Gesell-
schaft der Arzte selbst.
Professor Isidor Neumann stellte nämlich das damals
— 1877 — 22jährige Mädchen mit primärem Lupus der linken
Conjunctiva und des linken Bulbus vor. Die Nasenflügel und die
Oberlippe waren zu dieser Zeit bereits in ausgedehntem Maasse
lupös erkrankt und es kam bei dieser Gelegenheit zu einer
Polemik zwischen Professor Neumann und weiland Professor
H e b r a , da letzterer nicht zugeben wollte, dass der primäre Sitz
des Lupus in der Conjunctiva, respective am Auge gewesen sein
soll, während Neumann mit aller Entschiedenheit die Behauptung
aufrecht hielt, dass das Auge schon lange Zeit hindurch die Spuren
dieser Krankheit an sich getragen hat, bevor man noch an der
^) Ernst Schwimmer, Tnbercnlose der Haut nnd Schleimhäute. 59.
Yersamml. deutsch. Natnrforsch. u. Aerzte in Berlin.
(11)
X96 GroBsmanii.
Nase and Oberlippe irgend eine pathologische Veränderung wahr-
nehmen konnte.
Als nun auch ich das lapös entartete Auge mir näher be-
trachtete, wechselte ich mit der Kranken einige Worte und es
fiel mir bei dieser Gelegenheit ihre heisere Stimme auf. Auf meine
Frage, wie lange die Patientin die Heiserkeit schon habe, er-
widerte sie mir ganz erstaunt, sie wisse gar nicht, dass sie über-
haupt heiser sei.
Nach Schluss der Sitzung untersuchte ich die Kranke noch
an Ort und Stelle mit dem Kehlkopfspiegel und fand das Bild,
welches Fig. 4, die ich noch seinerzeit durch Dr. J. Heitzmann
anfertigen liess, naturgetreu wiedergibt.
Ich konnte nun nicht genug staunen, dass so eingreifende^
krankhafte Veränderungen fast ohne subjective Erscheinungen,
vor sich gehen konnten. Aehnliches dürfte sich wohl kaum bei
einem anderen pathologischen Processe ereignen. Es war ein
grosser , herzförmiger Substanzverlust in der Mitte der Epiglottis,
die Stimm- und Taschenbäder uneben, höckerig, von einer
massigen Granulationsfläche bedeckt. Unterhalb der vorderen Com-
missur der Stimmbänder ragte ein Zapfen von ähnlichen Granu-
lationsgebilden wie an den Stimmbändern hervor. An der Schleim-
haut der Mund- und Rachenhöhle war damals ausser einer nar-
bigen Verziehung der Uvula keine weitere Abnormität nachzu-
weisen.
War es schon in diesem Falle ein Gegenstand der Contro-
verse, ob Conjunctiva oder Nase det primäre Ausgangspunkt der
Erkrankung gewesen ist, so war es unter den geschilderten Um-
ständen noch weit schwieriger zu entscheiden, in welcher Reihen-
folge der Larynx in den lupösen Process einbezogen wurde.
Als ich die Kranke seinerzeit der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vorgestellt und bezüglich dieses Falles einige differential-
diagnostische Momente hervorgehoben habe, machte ich darauf
aufmerksam, dass der Befund an den wahren und falschen Stimm-
bändern für sich allein an Carcinom erinnern könnte. Gegen diese
Diagnose würde jedoch, ganz abgesehen von dem narbigen De-
feete an der Epiglottis , der Umstand sprechen, dass beim Krebs
schon frühzeitig eine vollständige Lähmung der erkrankten Seite
a2)
üeber Lnpna d. KeUkopfes, d. harten n. weichen Ganmens jl d. Pharynx. ] 97
erfolgt, während in diesem Falle die Beweglichkeit der kranken
Theile nichts eingebüsst hat.
Taf. in, Fig. b, einen Fall von Carcinom der linken Glottis-
hälfte darstellend, soll blos znr lUastration der von mir hervor-
gehobenen AehnUchkeit and Differenz zwischen Krebs und Lnpns
dienen. Die Schiefstellnng der Glottis ist durch die Paralyse der
linken Hälfte bedingt.
Es sind nun nahezu zehn Jahre, dass dieser Fall von lupäser
Erkrankung des Kehlkopfes von mir diagnosticirt wurde. Der
Larynxbefund hat seit dieser geraumen Zeit kaum eine Ver-
änderung erlitten, dafür aber wurde der harte und weiche Gaumen,
namentlich aber der Pharynx im Laufe der Zeit in Mitleiden-
schaft gezogen. Es sind hier gegenwärtig dieselben Bilder nur
etwas massiger zu sehen, wie ich sie bei dem zehnjährigen
Knaben geschildert habe. Insbesondere ist der Pharynx von einer
geschwellten, sulzigen, dicht und gleichmässig granulirten Schleim-
haut ausgekleidet.
Auch dieser Fall wird gegenwärtig mit einer 80% Milch-
säurelösung und allem Anscheine nach mit gutem Erfolge be-
handelt.
•H»^
(IS)
X.
ßartholiüisclie Drüsen mit doppelten Aus
führungsgängen.
Von
Prof« Eduard Lang in Innsbruck.
(Am 8. März 1887 von der Eedaction übernommen.)
(Hierzu Tafel IV.)
Die in Rede stehenden Drüsen werden bald nach Dnver-
ney, Bartholinns oder Cowper, bald nach Tiedemann
benannt. Schon hieraas kann man entnehmen, dass sie bei den
Anatomen mannigfache Schicksale erfahren haben.
J. Guichard duVerney (Duverney 1648 — 1730), der
die Drüsen zuerst bei der Kuh gefunden, zeigte sie seinem Freunde,
dem dänischen Anatomen Caspar Bartholinus (1655— 1733)
was dieser in seiner „Diaphragmatis Structura nova^ ^) mit folgen-
den Worten dankend anerkennt: „Mihi primus mostravit amicus
Clarissimus Josephus du Verney, Regius Parisiensium Ana-
tomicns vere industrius.^ Es ist begreiflich, dass die Anatomen
jener Zeit bei dem Mangel an menschlichen Gadavem sich haupt-
sächlich auf Sectionen von Thieren beschränken mussten. Erst
später bekam GasparBarthoIinus Gelegenheit, bei Obduction
') Daniel Clericns et J. Jacob. Hangetns, Bibliotheca anatomica,
1699, T. I, pag. 828. Genevae.
(D
200 Lang.
eines weiblichen Cadayers im Erankenhanse S. Maria nuova zu
Florenz die gleichen Drüsen zu finden, welche von Manchen
wegen der analogen Organe beim Manne anch mit dem Namen
Cowper^s belegt wurden. Nun ist aber zu bemerken, dass der
Londoner Arzt und Anatom William Cowper (1666 — 1709)
die Drüsen beim Weibe sogar vergebens gesucht hatte. „It is re-
markable we d'ont find these Glands in Females like those in
Males" gesteht er selbst.^) Den nach ihm benannten Drüsen beim
Manne hat er zwar eingehende Untersuchungen gewidmet, die
erste Kenntniss derselben rührt aber beim Menschen von J. Mary
und bei Thieren von Malpighi her.*)
Der Sache nach blieben jedoch die Bartholinischen
Drüsen bei Zeitgenossen und Nachfolgern sehr wohl gekannt, bis
auf — den grossen AlbertHaller, der sie nicht finden konnte.
,,Ego vero glandnlas non vidi .... neque obscure dubito, an
omnino glandulae verae, certe constantes, adsint . . .^ erläutert
er in Note r) seiner Explicatio zur Tafel Uterus. *)
Die Anatomen vernachlässigten hierauf die Drüsen fast ganz,
so dass derselben in vielen verbreiteten anatomischen Lehrbüchern
der ersten Decennien unseres Jahrhunderts gar nicht oder nur
in der Auffassung H alleres gedacht wird.
Nicht so war es bei den Praktikern; diese schenkten den
Drüsen wegen mancher nicht zu übersehenden pathologischen Ver-
änderungen immer wieder ihre Aufmerksamkeit. In den Dreissiger-
Jahren unseres Säculums wurden sie klinischerseits von Guthrie
studirt und hieran anreihend demonstrirte Taylor ihre anato-
mischen Verhältnisse. Vollends restituirt wurden sie erst durch
eine den Gegenstand behandelnde Monographie Friedrich
Tiedemann's^), der auf ein eingehendes Studium derselben
gleichfalls erst durch die Beobachtung eines Praktikers, des
^) An Acconnt of two Glands etc. Philos. Transact. Tear 1699, Vol. 21.
— Citirt nach Tiedemann.
*) L. Hollstein, Lelirb. d. Anat. d. Menschen. Berlin 1860, 3. Anfl.,
pag. 607.
') Icon. anatom. part. corp. hnm. Göttingae 1745, Fascic. ü.
^) Von den Dnyerney'schen, Bartholin'schen oder Oowper'schen
Drüsen des Weibes etc. Heidelberg nnd Leipzig 1840.
(2)
Bartlioliuische Drüsen mit doppelten Ansfahrnngsgängen. 201
Hamburger Krankenhausdirectors Dr. Fr icke, hingeleitet wor-
den war.
Das ist in kurzen Zügen die wechselvolle Geschichte der
kleinen Drtisen, über welche seit jener Zeit wichtigere anatomische
Bemerkungen nicht verzeichnet wurden.
Die im Jahre 1862 gemachte Mittheilung von 0. A. Martin
und H. Leger über einen doppelten Ausführungsgang der Bar-
tholinischen Drüse ist nur in wenige Lehrbücher der Anatomie
übergegangen; nach dem Referate in Canstatt's Jahresb. 1862,
IV, pag. 278, sind die Mündungen beider Ausführungsgänge einen
halben Centimeter von einander entfernt. — Bei diesem Anlasse sei
mir jedoch darauf zu verweisen gestattet, dass schon der ge-
nannte Barth olinusAchnliches gesehen hat, wie aus seinem an
Gulielmus Riva, Anatomen in Rom, gerichteten Briefe „De
ovariis mulierum et generationis Historia** entnommen werden
muss. Bei Beschreibung der von ihm am weiblichen Cadaver ge-
fundenen Drüse lieisst es nämlich:^) „Presso glandoso hoc cor-
pore viscidus et pituitosus exiit humor, ex una parte unicum, ex
altera duo, forte in hoc subjecto, patuerunt ostia."
In einem Falle bin ich in die Lage gekommen, doppelte
Ausführungsgänge der Bartholinischen Drüsen beiderseits
wahrzunehmen , deren Ostien einige Centimeter weit auseinander
gerückt waren. Abgesehen von dem anatomischen Interesse hat
der Befund wegen des gleichzeitig bestandenen venerischen Catarrhs
auch für den Kliniker seine Bedeutung.
Am 11. August 1886 gelangte ein 30 Jahre altes, kleines,
massig gut genährtes Mädchen (aus Bayern) auf meine Klinik
wegen eitriger Vaginitis, Urethritis und Bartholinitis, über deren
Vorgeschichte sie ebenso wenig etwas zu erzählen wusste, wie
über die Herkunft einiger kleiner auf der Brust zerstreuter Narben.
Die Behandlung der venerischen Catarrhe dauerte bis zum 18. Sep-
tember 1886, an welchem Tage die Kranke entlassen wurde.
Diese Kranke bot folgenden bemerkenswerthen Genitalbefund
dar. Beim Anblick der äusseren Genitalien in der Steinschnittlage
schien es, als wenn ausser den grossen Labien beiderseits je zwei
^) Daniel Clericns et J. Jacob. Mangetns, 1. c. pag. 677.
Zlcd. Jahrbücher. 1887. j^y (s)
202 Lang.
kleine Labien vorlägen; es zog sich nämlich vom oberen Theile
des Praepntinm clitoridis nach unten gegen die Grenze zwischen
dem unteren und mittleren Drittel der Innenfläche des grossen
Labium eine Falte, die in ihrem unteren Abschnitte mit dem
medialwärts gelegenen kleinen Labium zusammenfloss und letzterem
fast vollkommen glich, die aber beim seitlichen Anspannen (wie
in der Zeichnung dargestellt) nahezu ganz verstrich ; auf der linken
Seite erschien diese Falte viel weniger deutlich ausgeprägt. An
der Innenfläche des rechten, grossen Labium, etwas unter der
Mitte, zwischen diesem und der geschilderten Falte sah man die
Haut gegen eine tiefer liegende Oeffnung trichterförmig eingezogen,
aber ohne jede narbige Veränderung. Spannte man die Haut an,
so sprang ein drehrunder, spagatdicker Wulst in die Augen, der
sich hart anfühlte und bis zur Bartholini sehen Drüse ver-
folgen Hess. Letztere tastete man an normaler Stelle als mandel-
grossen traubigen Körper. Wurde die Dräse zwischen zwei Fingern
gedrückt und der Druck gegen den Wulst und die beschriebene
Oeffnung streichend fortgesetzt, so entquoll letzterer ein trüber,
schleimigeitriger Tropfen; somit bestand kein Zweifel, dass hier
ein abnormer Aus führungs gang der Bartholinischen
Drüse vorlag. An normaler Stelle befand sich überdies der ge-
wöhnliche Ausführungsgang, durch den man Drüseninhalt gleich-
falls, aber nicht so regelmässig als durch den abnormen, entleeren
konnte; das Secret, mikroskopisch untersucht, bestand aus Eiter-
Zellen und verschieden geformten Epithelien mit 1 — 3 Kernen und
erwies sich gleich zusammengesetzt, wie das dem abnormen Aus-
führungsgange entstammende. Mit einer feinen Sonde drang man
in dem abnormen Gange 2^/2 —3, in dem normalen etwa ^U Cm.
weit vor; in beide Gänge eingeführte Sonden stiessen nicht auf-
einander, hingegen kam eine gefärbte Flüssigkeit
(Kali hypermanganicum) , die durch den abnormen Aus-
führungsgang eingespritzt wurde, bei dem nor-
malen Ausführungange zum Vorschein. Es muss somit
ein Hauptausführungsgang vorgelegen haben, der sich gabelte und
dann an normaler und an abnormaler Stelle mündete.
Während auf der rechten Seite der abnorme Ausführungs-
gang Jedem auffallen musste, konnte derselbe auf der linken Seite
(4)
Bartholinische Drfisen mit doppelten AneftUinmgsgängen. 203
sehr leicht überaehen werden. Hier fiel beim anfinerksamen
Sachen mit den Augen keine Andentnng eines abnormen Ganges,
noch einer Mündung auf. Die Bartholinische Drüse, welche
an gewöhnlicher Stelle zu fühlen war und etwas grösser zu sein
schien als rechts, liess bei Dmck dnrch die normal situirte Mün-
dung Secret entleeren; setzte man aber den Druck streichend
nach oben gegen das grosse Labium fort, so trat an analoger
Stelle wie rechts ein trüber Schleimtropfen zum Vorschein, wo-
durch man erst auf den abnormen AusfÜhrungsgang aufmerksam
wurde. Nun gelang es auch mit einer Sonde in den abnormen
Ansführungsgang dieser Seite einzudringen, der sich im Uebrigen
wie rechts verhielt, nur dass er enger erschien. Gleichzeitige
Sondimng beider Gänge liess ein Zusammenlaufen derselben nicht
erkennen, wohl aber war dies ebenso wie rechts
durch Injection einer gefärbten Flüssigkeit fest-
zustellen. Auch auf der linken Seite zeigte sich das Secret
aus beiden Mündungen gleich zusammengesetzt, nur enthielt es
weniger Eiterkörperchen als rechts.
-♦«h-
17* o)
lieber das Yerhalten der flüchtigen Fettsäuren
im Harn des gesunden und kranken Menschen.
Von
Professor Dr. Prokop Freih. y. Rokitansky.
(Au im Laboratoriim fOr anuBwanittB medic. Cbamis dar k. k. Univeraltit In loiskruek.)
(Am 18. März 1887 von der Bedactlon ftberaommen.)
Das Vorkommen von flüchtigen Fettsäuren im Harn gesunder
und kranker Menschen wurde schon seit Beginn dieses Jahrhunderts
von zaUreichen Forschem constatirt. In jüngster Zeit hat R.
T. J a k s c h ^) Untersuchungen über das qualitative und quantitative
Verhalten der flüchtigen Fettsäuren im Harn von einem neuen
Gresichtspunkte ausgeführt. B. v. Jak seh erhielt nämlich bei
Einwirkung oxydirender Substanzen (welcher, ist nicht angegeben)
anf Eiweiss eine nicht flüchtige stickstofffreie Säure (mit deren
^weiterer Untersuchung v. J a k s c h beschäftigt ist), die bei weiterer
Oxydation in A c e t o n und flüchtige Fettsäuren, vor Allem in Essig-
säure zerfällt. Auf Grund dieser Beobachtungen stellte v. Jak seh
die Hypothese auf, dass das bei mannigfachen pathologischen
Zuständen, am häufigsten aber beim Fieber im Harn vorkommende
') üeber das Vorkommen von flttcht. Fettsänren im Harn
unter physicl. nnd pathol. Verhältnissen. Tagbl. der 58. Ver-
sammlnng dentsch. Naturforscher and Aerzte in Strassbnrg. 1885i
pag. 233 nnd Ueber physiol. und pathol. Lipacidurie. Zeitschrift f.
phyaiol. Chemie. X., pag. 536.
(1)
206 Bokitansky.
Aceton yielleicht ein Prodact des EiweisBzerfalles ist. Diese
Hypothese wäre nun nach demselben gestützt, wenn bei Pro-
cessen, welche mit Vermehrung der Acetonausscheidung einher-
gehen, auch eine grössere Menge flüchtiger Fettsäuren im Harne
aufzufinden wäre; demnach sollte entsprechend der von ihm an-
genommenen physiologischen Acetonurie auch eine physiologische
Lipacidurie und entsprechend der pathologischen Aceto-
nurie eine pathologische Lipacidurie nachweisbar sein.
Da es aber möglich wäre, dass das stickstoffireie Oxydationsproduct
der Eiweisskörper, welches nach y. Jaksch, wie oben erwähnt,
in Aceton und flüchtige Fettsäuren zerlegt wird, im gesunden
Organismus als solches mit dem Harn ausgeschieden wird, so
sollen überdies im eiweissfreien Harn Substanzen vorkommen,
welche bei Einwirkung oxydirender Körper Fettsäuren liefern.
Die Untersuchungen von R. y. Jaksch ergaben nun, dass
der normale Harn nur Spuren yon Fettsäuren bis höchstens 0*008
in der Tagesmenge enthält, u. zw. Ameisensäure und Essigsäure ;
unter pathologischen Verhältnissen, zumal im Fieber, erfährt die
Menge der Fettsäuren im Harn eine Steigerung bis auf 006 Gramm
in der Tagesmenge; bei Affectionen der Leber, besonders bei
jenen, welche mit Destruction des Leberparenchyms einhergehen,
wurden in der Tagesmenge bis 0*6 Gramm Fettsäuren gefunden.
Demgemäss stellte y. Jaksch eine febrile und eine hepatogene
Lipacidurie auf.
Da nun der Nachweis einer Steigerung der Fettsäuren bei
bestimmten krankhaften Processen beitragen könnte, unsere Einsicht
über die Art und den Verlauf derselben zu yermehren, habe ich
es unternommen, nach den Bedingungen zu suchen, welche das
Auftreten der im Harne yorkommenden Fettsäuren in Bezug auf
ihre Menge und auf ihre Qualität beeinflussen.
Um jedoch diese Untersuchungen mit einigem Erfolg aus-
führen zu können, hielt ich es yor Allem wichtig, eine möglichst
yoUkommene Abscheidung der im Harn yorkommenden Fettsäuren
zu erzielen.
Vergleicht man nämlich die bisherigen Angaben über die
Menge der im 24stündigen natiyen Harn auftretenden Fettsäuren,
so findet man ganz erhebliche Unterschiede.
(2)
üeber das Verhalten der flüchtigen Fettsäuren im Harn etc. 207
So fand £. Salkowski^), indem er in 35 Liter Harn mit
Weinsäure destillirte, 0*2230 Oramm fettsaures Barytsalz mit
einem Gehalte von 49-07o/o Baryum, also 0*1136 Gramm freie
Fettsäure, d. i. ftir den Liter Harn 0*0032 Gramm.
Thudichum*) fand in einem Versuche, bei dem er den
während 14 aufeinanderfolgenden Tagen entleerten Harn eines
gesunden Mannes mit Schwefelsäure destillirte, eine tägliche Menge
von 0*288 Gramm Essigsäure und circa 0*05 Gramm Ameisen-
säure. V. Jak seh, der, wie später gezeigt wird, mit Phosphor-
säure destillirte, erhielt aus der Tagesmenge des normalen nativen
Harnes höchstens 0*008 Gramm, während ich nach dem später
zu schildernden Verfahren beim Destilliren mit Schwefelsäure im
Durchschnitt von zahlreichen Beobachtungen 0*0545 freie Fett-
säuren für 1500 Gem. Harn erhielt.
Die wenigen hier angeführten Daten lassen erkennen, dass
die Resultate der einzelnen Untersucher in Bezug auf die M e n g e
der im nativen Harne auftretenden Fettsäuren in hohem Grade
von einander abweichen. Da nun jeder der oben erwähnten Autoren
eine andere Methode der Abscheidang der Fettsäuren in Anwendung
nahm, so will ich zunächst das von mir zur Abscheidung der Fett-
säuren aus dem Harn, nach dem Vorschlag meines hochverehrten
CoUegen W. F.Loebisch, geübte Verfahren schildern und mo-
tiviren.
Bei organisch-chemischen Untersuchungen benützt man zur
Abscheidung der flüchtigen Fettsäuren das Destilliren mit Schwefel-
säure. Geuther^) versetzt das trockene Natriumsalz der Fettsäuren
mit soviel Schwefelsäure, als zur Bildung von Natriumbisulfat noth-
wendig ist. v. J a k s c h ^) destillirte den Harn mit einer Phosphor-
säure von 1*275 Dichte, von welcher er 5 Ccm. auf je 10 Ccm. Harn
zusetzte. Er vermied die vonSalkowski angewendete Weinsäure
mit der Angabe, dass dies eine Substanz sei, die relativ leicht und
unter den verschiedensten Bedingungen Essigsäure und Ameisensäure
0 Beiträge zar Chemie des Harnes. Pflüger's Archiv. Bd. 2, pag. 363.
') Ueber Essigsäure, Ameisensäure etc. ans Henschenham. Pfläger's Archiv.
Bd. 15, pag. 20
') Annalen d. Chemie n. Pharmac. Bd. 202, pag. 291.
*) 1. c. pag. 542.
(8)
208 Rokitansky.
liefern kann. (Mit Sicherheit ist die Entstehung von Essigsäure
und Ameisensäure aus Weinsäure nur bei der trockenen Destillation
derselben nachgewiesen, bei der Spaltpilzgährung von weinsaurem
Kalk wurden überdies Propionsäure und Buttersäure erhalten.)
Die Anwendung der Phosphorsäure zum Abjagen der
Fettsäuren aus dem Harn wurde von Neubauer i) mit der Mo-
tivirung empfohlen, dass im Harn bei der Behandlung mit Salzsäure
namentlich in der Kochhitze, möglicherweise „andere Zersetzungen^
stattfinden könnten. Damit wäre nach Neubauer auch die An-
wendung der Schwefelsäure ausgeschlossen.
Jedoch bei dem Stande unserer heutigen Kenntnisse von
den Bestandtheilen des Harns dürfen wir fragen, welche organische
Bestandtheile des Harnes sind es, die bei Behandlung mit con-
centrirter Schwefelsäure eine oder die andere der flüchtigen Fett-
säuren abspalten könnten?
Hierbei kämen nur die von E. Baumann^) als normale
Bestandtheile des Harnes nachgewiesenen aromatischen Oxysäuren,
die Paraoxyphenylessigsäure und die Paraoxyphenylpropionsäure
(Hydroparacumarsäure) in Betracht. Von diesen beiden Säuren
konnte E. Baumann aus 240 Liter Harn 4 Gramm imreine
Säure isoliren, also O'0 16 Gr. pro Liter. Berechnet man die Menge
der Essigsäure und Propionsäure, welche durch Zerlegung dieser
Säuren durch Kochen mit Schwefelsäure möglicherweise entstehen
könnte — eine derartige Spaltung aromatischer Oxysäuren ist bis
jetzt noch nicht beobachtet und ist entsprechend der Stabilität dieser
Verbindungen in sauren Lösungen auch nicht wahrscheinlich —
dann erhält man 0*007 Gramm der bezüglichen Fettsäuren pro
Liter Harn.
Da auch experimentell nicht erwiesen ist, dass auf die hier
in Betracht kommenden organischen Hambestandtheile Phosphor-
fiäure gelinder einwirkt als äquivalente Mengen von Schwefelsäure,
so wird es sich, um vergleichbare Resultate zu erlangen, weniger
um die Qualität der Säure, als um die Menge derselben handeln.
Es muss nämlich in Rücksicht auf die durch die Einwirkung
verdünnter Mineralsäuren bei höherer Temperatur auf Harnstoff
') Annalen d. Chemie n. Pharmac. 97 Bd., pag. 129.
«) Zeitschrift f. physiol. Chemie. 4, 304.
<4)
üeber das Verhalten der flüchtigen Fettsäuren im Harn etc. 209
bewirkte Zerlegung desselben in Kohlensänre und Ammoniak,
bebufs vollständigen Abjagens der flüchtigen Fettsäuren soviel
Schwefelsäure, resp. Phospborsäure, zugesetzt werden (Salzsäure
wendet mau aus bekannten Gründen für diese Zwecke nicht gern
an), dass selbst, wenn ein Theil der Säure durch das aus dem
Harnstoff sich abscheidende Ammoniak gesättigt wird, immer noch
freie Mineralsäure zur Wirkung kommen kann.
Wie nämlich schon Lehmann und nach ihm viele andere
Beobachter constatirt haben, wird schon beim Abdampfen des
normalen sauren Harnes der Harnstoflf in Kohlensäure und Am-
moniak zerlegt, diese Zersetzung bewirkt nach Lehmann das
saure phosphorsaure Natron. Hierbei entsteht phosphorsaures
ONa
Natron- Amraon PO ONa, welches jedoch schon bei 100<^ Ammoniak
ONH;
ONa
abgibt und wieder Dinatriumphosphat PO 0 Na bildet. Durch
OH
diese Umsetzung ist die bekannte Erscheinung erklärt, dass beim
Destilliren des nativen Harnes das Destillat ammoniakalisch reagirt,
während der Rückstand sauer ist. Setzt man nun dem Harn mehr
Phosphorsäure oder Schwefelsäure hinzu, dann wird sich wohl kein
phosphorsaures Natron-Ammon bilden, sondern das Ammon bleibt
an Säuren gebunden als primäres oder secundäres Ammonium-
phosphat, respective Sulfat. In einem solchen Falle geht kein
Ammoniak in's Destillat über, sondern es entweicht nur die
Kohlensäure, wie ich mich bei den Vorversuchen zu überzeugen
die Gelegenheit hatte. Wird also einem Harn behufs Destillation
der flüchtigen Fettsäuren nicht mehr Schwefel- oder Phosphor-
saure zugesetzt, als gerade hinreicht, das sich aus der Zerlegung
des HamstofiB entwickelnde Ammoniak zu binden, dann tritt, wie
ich mich überzeugt habe, folgende Erscheinung auf: Im Anfange
erhält man ein Destillat von freien Fettsäuren, nach kurzer Zeit
jedoch geht nur Kohlensäure über.
Beendet man schon jetzt, wo das Lackmuspapier vom Destillate
nur vorübergehend roth wird — die Erscheinung kann mehrere
Stunden dauern — die Operation, so hat man noch lange nicht
sämmtliche flüchtige Fettsäuren aus dem Harne abgeschieden, man
(5)
210 Bokitansky.
erhält diese erst, wenn man dem Harn von Neuem Schwefelsaure
oder Phosphorsäure zusetzt.
Hieraus folgt aber, dass es zur Abscheidung der flüchtigen
Fettsäuren aus dem Harne nicht genügt, nur so viel Schwefel-
oder Phosphorsäure zuzusetzen, welche hinreichen würde, die im
nativen Harn vorkommenden Basen in saure Salze umzuwandeln,
sondern es muss das aus der Zerlegung des Harnstoffs entstehende
Ammoniak ebenfalls als Base (Ammoniumhydroxyd) berechnet und
im Harn vorhanden angenommen werden und der Säurezusatz,
auf Grund der in dieser Weise enthaltenen Summe der Basen
zur Ueberftihrung derselben in saure Salze, erfolgen.
Eine Angabe über die Menge der dem Harn behufs De-
stillation der flüchtigen Fettsäuren zugesetzten Säure finde ich in
der reichen Literatur dieses Gegenstandes nur bei v. Jaks eh.
Dieser setzt auf je 100 Ccm. Harn, wie schon oben erwähnt, 6 Ccm.
einer Phosphorsäure vom spec. (Gewichte 1*276 (41*8procentige
Fhosphorsäure) zu.
Berechnet man aber nach dem oben Ausgeführten die Summe
der Basen im Harn, mit Einschluss des aus dem Harnstoff sich
abspaltenden Ammoniaks, so erhält man im 24stündigen Harn
1500 Ccm. von 1*020 spec. Gewicht nach der Annahme von
30*0 Gramm Harnstoff entsprechend 35*0 Gramm NH* OH
3-5 „ KjO „ 417 » KOH
6-5 „ NaaO „ 8-38 „ Na OH
0-2 „ CaO „ 0-26 „ Ca (OH),
0-3 „ MgO „ 0-43 , Mg (OH),
auf NH4OH berechnet 458 Gramm, demnach für 1 00 Ccm . 305 Gramm
NH4 OH. Nachdem 1 Molekül Phosphorsäure (98 Gramm) 3 Mo-
leküle Ammoniumhydroxyd (105 Gramm) sättigt, so bedarf es allein
zur Sättigung von 3-05 Gramm NH^ OH 2*8 PO4 H3. In 5 Ccm. der
Phosphorsäure vom spec. Gewicht 1*275 sind jedoch nur 2'05 Gramm
PO4H3 enthalten, also nicht einmal eine genügende Menge, um
sämmtliches aus der Zerlegung des Harnstoffes sich entwickelnde
NHs zu binden. Man wird wohl einwenden, dass sich das Ammonium-
dinatrinmphosphat bei der Kochhitze dissociirt und das Ammoniak
ja in das Destillat übergeht. Aber gerade der letztere Umstand
soll ja vermieden werden, weil sonst das Destillat zu einer
(6)
üeber das Yerhalten der fiflchtigen Fettsäuren im Harn etc. 211
Zeit nicht mehr sauer reagirt, wo im Rückstände
noch flüchtige Fettsäuren vorhanden sind. In Folge
dieses Umstandes wird die Destillation zu frühe abgebrochen und
man erhält nicht alle flüchtigen Fettsäuren, welche im Harn an
Alkalien gebunden auftreten.
Dieser Uebelstand kann nur vermieden werden, wenn man
dem Harn von vorneherein so viel Phosphorsäure oder Schwefel-
säure zusetzt, dass das aus der Zersetzung des Harnstoffs sich
entwickelnde Ammoniak im Rückstande als Diammoniumphosphat,
beziehungsweise als Ammoniumbisulfat in LQsung bleibt.
Demgemäss sind 100 Ccm. Harn vor dem Destilliren entweder
rund 10 Ccm. einer Phosphorsäure vom spec. .Gewicht 1*275 zu-
zusetzen, oder 8*5 Gramm SO* Hj gleich 17-3 Ccm. einer Schwefel-
säure vom spec. Gewicht 1*386.
Aus einem nach diesen Grundsätzen angesäuerten Reactions-
gemiseh werden die flüchtigen Fettsäuren sehr bald abgetrieben
sein. Ich destillirte so lange, bis im Destillate das Auftreten von
Salzsäure nachweisbar wurde, auch habe ich mich überzeugt,
dass die quantitative Ausbeute an flüchtigen Fettsäuren die gleiche
blieb, ob der Harn direct destillirt oder die Destillation mit Hilfe
von Wasserdampf ausgeführt wurde.
Zum Nachweis und zur Bestimmung der Fettsäuren wurde
das Destillat mit Natriumcarbonat neutralisirt auf dem Wasserbade
zur Trockne verdampft und der Rückstand mit absolutem Alkohol
vollständig erschöpft. Nach dem Verjagen des Alkohols bleibt
ein weissgelblicher Rückstand, bestehend aus den Natronsalzen
der flüchtigen Fettsäuren und der Benzoesäure, femer aus Spuren
von Pfuracresol — möglicherweise auch Phenolnatrium. Von den
flüchtigen Fettsäuren Hessen sich Ameisensäure, Essigsäure und
Buttersäure in bekannter Weise nachweisen.
Zur Bestimmung der Menge der flüchtigen Fettsäuren ist
zunächst eine Trennung derselben von der Benzoesäure nothwendig.
Während in den Destillaten, die ich erhielt, Benzoesäure
niemals fehlte, scheint diese bei v. Jak seh nicht immer erhalten
worden zu sein. Ich schliesse dies daraus, weil v. Jaksch zur
Gewinnung der fettsauren Salze in zur analytischen Bestimmung
genügend reiner Form verschiedene Verfahren angibt, je nachdem
(7)
212 Rokitansky.
in das Destillat Benzoesäure übergegangen war oder nicht. In
letzterem Falle wurde die concentrirte alkoholische Lösung der
Natronsalze noch heiss mit Aether gefällt und der sich hierbei
ausscheidende krystallinische Niederschlag, eventuell nach wieder-
holtem Lösen und Fällen, ergab die Natronsalze der Fettsäuren.
War beim Destilliren Benzoesäure übergegangen, dann ver-
setzte V. J a k 8 c h die concentrirte Lösung des Natronsalzgemisches
mit Phosphorsäure, filtrirte von dem aus Benzoesäure bestehenden
Niederschlag ab, aus dem Filtrate wurden nun nach Neutralisation
mit Natriumcarbonat und Extrahiren des getrockneten Rückstandes
mit absolutem Alkohol die Natronsalze der flüchtigen Fettsäuren
erhalten.
Ich überzeugte mich durch quantitative Versuche, dass die
Abscheidung der Benzoesäure aus dem fraglichen Salzgemenge
eine möglichst vollkommene ist. Ich versetzte die auf 0^ abge-
kühlte concentrirte Lösung des Salzgemenges mit verdünnter
Schwefelsäure so lange^ als bei tropfenweisem Zusatz noch ein
Niederschlag entstand. Hierauf wurde von der abgeschiedenen
Benzoesäure abfiltrirt, mit eiskaltem Wasser nachgewaschen und
das Filtrat wieder in die Kälte gestellt, wobei wegen der Schwer-
löslichkeit der Benzoösäure in kaltem Wasser dieselbe sich bis
auf Spuren ausscheidet. Die durch Schwefelsäure abgeschiedene
unlösliche Säure in das Natronsalz übergeführt, ergab ein Salz,
welches, bei 110® C. bis zum constanten Gewicht getrocknet,
IG'S^lo Natrium enthielt, während benzoesaures Natrium (C7 Hg Na Oj
wasserfrei) 15'95 Na verlangt.
O'UO Orm. des fraglichen Sabses ergab 0*058 Katriumsnlfat, entsprechend
0-0187 Natrium = 16 37o Na.
Die in Lösung gebliebenen Fettsäuren ergaben, in das
Natronsalz übergeführt, ein fettsaures Salz mit 28'0®/o Natrium
(essigsaures Natron verlangt 28*04% Natrium).
1*365 Crrm. fettsanres Katron lieferte 1'182 Katrinmanlfat, entsprechend
0-3828 Natrinm = 2807o.
Um nun die Menge der im normalen nativen Harn aus-
geschiedenen Fettsäuren zu bestimmen, destiUirte ich 9 Liter
Harn von Individuen meiner Klinik, welche bei ganzer Kost und
gemischter Nahrung völlig fieberfrei waren. Diesen wurde drei
Tage vor Entnahme des Versuehshams auch der Wein entzogen.
(8)
üeber das Yerhalten der flüditigen Fettsänren im Harn etc. 213
Aus dem Destillate des in der von mir angegebenen Weise an-
gesäuerten Harns erhielt ich 0*4548 Grm. fettsaures Natron. Zur
Bestimmung der Qualität der Fettsäuren aus dem Natriumgehalt
wurde das Salz in neutrales Natriumsulfat tibergeführt. Ich erhielt
0-3986 Grm. SO4 Na, entsprechend 0-1292 Na = :?8-4*/o Natrium.
Auf die tägliche Hammenge von 1500 Ccm. berechnet sich hieraus
fettsaures Natronsalz 00760 Gr. mit 28-4®/o Natrium, entsprechend
0'0545 Gr. freie Fettsäuren in der l?48tlindigen Harnmenge, demnach
beinahe eine siebenmal so grosse Menge, als v. Jak seh , welcher,
wie schon oben erwähnt, im 24stündigen nativen Harn nur Spuren
von Fettsäure 0'008 Gr. fand. Nach den obigen Ausführungen,
s. pag. 5, möchte ich die bedeutende Differenz in unserem Resultate
darauf zurückfiihren, dass der Znsatz von 5 Ccm. Phosphorsäure
vom spec. Gew. 1*275 für 100 Ccm. Harn vor dem Distilliren
des Harns, wie ihn v. J a k s c h übte, nicht hinreicht, um sämmt-
liche flüchtige Fettsäuren desselben abzutreiben. Die Zusammen-
setzung des von mir gewonnenen fettsauren Salzes mit 28*4°;o
Natrium zeigt, dass dasselbe hauptsächlich aus Essigsäure neben
minimalen Spuren von Ameisensäure bestand, während v. Jaksch
in einem Falle ein fettsaures Salz mit 30'Ö4°/o Na hatte, welches
demgemäss hauptsächlich aus Ameisensäure bestand (Ameisensäure
verlangt 33'82®/o Na) und ein anderes Mal ein fettsaures Salz mit
27'73®/o Na, welches möglicherweise nur ein essigsaures Salz war.
Noch mit der Fortführung der Untersuchung beschäftigt,
möchte ich ftlr diesmal nur über einige bisherige Ergebnisse der-
selben berichten. Als das wichtigste Resultat der bezüglichen
Untersuchungen v. Jaksch's muss wohl das Constatiren einer
febrilen Lipacidurie angesehen werden.
V. Jaksch findet bei Fiebernden die relativ bedeutende
Menge von 0*06— 0*1 Grm. Fettsäuren im 24sttindigen Harn. Da
diese Menge immerhin grösser ist als diejenige, welche ich in
der Tagesmenge des normalen Harns fand, so habe ich zunächst
bei mehreren fiebernden Kranken die Menge der im Harn auf-
tretenden Fettsäuren bestimmt. In allen Fällen wurde der Harn
der fiebernden Kranken, denen der Wein, wie oben erwähnt,
entzogen war, von drei Tagen gesammelt, um grössere Ham-
mengen in Arbeit nehmen zu können.
(9)
214
Rokitansky..
S.S
1 ^
SS
3 IS
I
n
S&3
I
lll
1. Plithisis pnlm. chron. 25jähr.
Mann. Process seit angeblich 6 Mo-
naten. Ganze Portion
2.Plitliisi8 pnlm. chron. 23jähr.
Mann. Seit beiläufig 5 Wochen Ab-
magenmg nnd zeitweilige Schweisse.
Appetit wechselnd
3. Pnenmopyothorax. 4Qjähriger
Mann. Angeblich seit mehreren Jahren
kränklich, öfters Blothnsten. Seit
4 Wochen rapide Abmagerung. Man-
gelhafte Appetenz
4.Cronpöse Pneumonie links
unten. 21jähr. Mann. Seit 3 Tagen
krank. Massige Continua .....
5. Croupöse Pneumonie. 20jähr.
Mann. Seit 2 Tagen krank. Aus-
gedehntes Infiltrat
e.Typh. ab dorn. 23Jähr. Mädchen.
21.— 23. Tag der Erkrankung. Febr.
remittens
37-6- 38-4
37-39
387— 39-4
38-7--39-6
39-5-40
38-5— 39-6
2750
1022
0-4272
4200
1022
0-2536
2780
1019
0-2608
1815
1023
0-512
2180
1030
2-1088
2060
1020
0-2728
01424
00S45
0-0869
0-1707
0.7029
00909
Die obenstehende Tabelle gibt eine Uebersicht der
Resultate. So gering anch die Anzahl der Fälle ist, welche ich
zn Grande legen konnte, so sind doch andererseits gerade in Be-
ziehung auf das Verhältniss der Menge, in welcher die Fettsäuren
beim Fieber auftreten, die Ergebnisse so eindeutig, dass eine Ver-
werthung derselben wohl zulässig ist.
Es zeigt sich nämlich, dass thatsächlich im Falle 5, croupöse
Pneumonie, in welchem das Fieber die beträchtlichsten Grade
erreichte, die Menge der Fettsäureausscheidung die höchsten
Werthe erreichte, nämlich 0*7029 Gr. fettsaures Natron pr o di e, bei
Annahme eines Natriumgehaltes von rund 28% (siehe später)
entsprechend, 0*506 1 freie Fettsäure, also eine tagliche
Menge, wie sie v. J a k s c h nur bei der hepatogenen Lipacidurie 0
') 1. c. pag. 555.
(10)
Ueber das Yerlialten der flüchtigen Fettsäuren im Harn etc. 215
gefunden hat. Es ist daher nicht überflüssig, hervorzuheben, dass
in diesem Falle von Pneumonie eine Affection der Leber nicht
bestand. In einem Falle von croupöser Pneumonie (4), bei welchem
das Fieber geringer war, war auch die Zunahme der Fettsäure-
ausscheidung gegenüber der normalen eine geringere. Sie betrug
jedoch mit 0*1228 6r. freie Fettsäure für den Tag mehr als in allen
jenen Fällen der Tabelle, in denen das Fieber keinen so hohen
Grad erreicht hat.
Von den Fällen 1, 2, 3 sehen wir wieder bei dem stärker
Fiebernden, also bei Fall 1, Phthisis pulm., eine grössere Menge
der fettsauren Salze. Andererseits im Falle 6 bei einem Fall von
Typhus vom 21. — 23. Tage der Krankheit ebenfalls nicht mehr
fettsaure Salze als in den Fällen 2, 3 (Phthisis pulm. u. Pneumo-
pyothorax).
Zwei Bestimmungen des Natriumgehaltes des aus dem Harn
von Fiebernden gewonnenen Natronsalzes der flüchtigen Fett-
säuren ergaben mir in dem ersten Falle 28*2% Na, in dem
anderen Falle 28-35o/o Na.
a) 0*326 örm. fettsaures Natron ergaben 0-2337 Grm. SO» Na, = 0*09193 Na
= 28*2Vo (Essigsaares Natron verlangt 28-047o Na).
b) 0*2535 Grm. fettsaures Natron ergaben 022 18 Grm. SO^ Na = 0-07186 Na
= 28-35Vo.
Da nun, wie bekannt, das Aceton sehr leicht zu Essigsäure
und Ameisensäure, beziehungsweise letztere wieder zu GO2 oxydirt
wird, auch die qualitative Analyse der aus dem Fieberharn ge-
wonnenen Salze der flüchtigen Fettsäuren hauptsächlich Essigsäure
neben Spuren von Ameisensäure erkennen liess, so könnte man
wohl annehmen, dass auch die Qualität der während des Fiebers
in grösserer Menge auftretenden flüchtigen Fettsäuren für die An-
nahme von Jak seh spricht, dass eine febrile Lipacidurie eine
Folge der febrilen Acetonurie sein könnte. Nichtsdestoweniger ist
der Zusammenhang beider Erscheinungen noch nicht sicher fest-
gestellt.
Es bilden sich, wie bekannt, Essigsäure und Ameisensäure
neben Buttersäure und Milchsäure bei den Fäulnissprocessen der
Kohlehydrate im Dünndarm und Dickdarm, von diesen Säuren
werden die Milchsäure und Ameisensäure sehr leicht weiter zer-
legt, die Buttersäure zerfällt in Essigsäure und 00^, von der
(u)
216 Rokitansky.
Essigsäare ist es bekannt, dass die Spaltung derselben
in CO2 nnd CH4 sehr langsam stattfindet. 1) Wenn wir
daher bei Fiebernden eine grossere Menge von Essigsäure im
Harn vorfinden, so ist noch immer nicht damit bewiesen, dass
sie ein Zerfallsproduct des Acetons und damit nach v. J a k s c h
des Eiweisszerfalles ist, sie könnte auch als Zerfallsproduct der
Kohlehydrate im Darmcanal zur Resorption und mit dem Harn
zur Ansscheidung gelangen. Man könnte sich ja vorstellen, dass
während des Fiebers durch das längere Liegenbleiben der Darm-
contenta Gelegenheit zur Resorption der Fettsäuren geboten wird.
Die grössere Menge der Fettsäuren bei hohen Fiebertemperaturen
könnte man damit in Zusammenhang bringen, dass diese hohen
Temperaturen zu einer Zeit auftreten, wo noch Darmcontenta
aus der präfebrilen Periode vorhanden sind.
(Ein Gegenbeweis für diese Ansicht wäre erst dann geliefert,
wenn es gelänge, bei Solchen, die längere Zeit gefiebert haben,
oder nach vorheriger Entleerung des Darmes bei hungernden
Fiebernden ebenfalls eine bedeutende Steigerung der Fettsäure-
ausscheidung nachzuweisen. Einen Versuch in dieser Richtung
werde ich, sobald sich hierzu Gelegenheit bietet, ausführen.)
Hat man ja auch früher das vermehrte Auftreten der indigo-
bildenden Substanz im Harn bei Fieber und bei vielen anderen
Krankheiten auf den vermehrten Zerfall von Eiweiss zurückführen
wollen, bis Jaff^^) zeigte, dass deren Ausscheidungsmenge mit
der Durchgängigkeit des Darmrohres und der Möglichkeit der
Fortbewegung der Contenta in denselben zusammenhänge. Dass
selbst V. Jak seh den Einfiuss der Resorption im Darmcanal auf
die Menge der im Harn auftretenden Fettsauren anerkennt, ergibt
sich aus der Angabe desselben 8), dass „die Ausscheidung der Fett-
säuren unter physiologischen Verhältnissen sehr wesentlichen Schwan-
kungen unterliegt und, wie es scheint, abhängig ist von der Nahrung".
Wie schon oben ei'wähnt, bildet eine Quelle der Entstehung der
Fettsäuren im Darme die nach Einfuhr von Kohlehydraten da-
selbst verlaufende Buttersäuregährung.
*) Hoppe-Seyler, Physiolog. Chemie. I. Th. Allg. Biologie, pag. 125.
') Berichte der deutschen ehem. Gesellschaft. 12, pag. 1ü98 n. 119^.
') Zeitschrift f. phys. Chemie. 10 Bd., pag. 547.
(12)
Ueber das Verhalten der flüchtigen FettBilnren im Harn etc. 217
Es war daher von Interesse, nachzaseben , wie sieb naeb
Einführ einer Kost (bei Entziehung von Wein), die ansser Suppe
ausschliesslich aus Mehlspeisen besteht, die Menge der Fettsäuren
in dem in der dieser Nahrungsweise entsprechenden Zeit aus-
geschiedenen Harn verhält. Ich habe für den Versuch zwei völlig
normale Individuen im Alter von 25 und 26 Jahren, die in
landesüblicher Weise an Meblnahrung gewöhnt waren, ausgewählt
und erhielt dabei folgendes Resultat :
Dreitägifce
Hammenge
Speo. Gew.
Oeaammt-
menge des fett-
sauren Natron
Fettsanres
Natron inro Tag
*
PaU I
, "
5700
6400
1017
1017
1-252
1-217
0417
0-406
Hieraus ergibt sich zunächst, dass auch durch eine Ver-
abreichung von Amylaceis die Menge der ausgeschiedenen Fett-
säuren gesteigert wird, was ja mit der obigen Bemerkung
v. Jaksch's keineswegs in Widerspruch ist. Viel interessanter
scheint mir aber die Zusanmiensetzung der dabei erhaltenen fett-
sauren Salze. Es zeigte nämlich schon die qualitative Analyse
derselben auf einen grösseren Gehalt an Buttersäure hin. Beim
Versetzen der concentrirten wässerigen Lösung des Natronsalzes
mit englischer Schwefelsäure war der Geruch nach Buttersäure
deutlich ; nachdem das Reactionsgemisch einige Zeit lang gestanden
war, schieden sich ölige Tropfen ab, die, mit Filtrirpapier auf-
gesaugt, nach Buttersäure rochen, auch beim Trocknen des Salzes
für die nachstehende Natronbestimmung im Luftbade war der
Geruch nach Buttersäure deutlich. (Bekanntlich gibt buttersaures
Natron schon im Vacuum über Schwefelsäure Spuren von Butter-
säure ab.)
Die Bestimmung des Natriumgehaltes der fettsauren Salze
ergab denn auch diesmal Zahlen, welche auf das Vorhandensein
grosser Mengen von Buttersäure neben Essigsäure in diesen
Salzen hindeuten. Ein Gemenge von 1 Molekül buttersaurem
Natron und 1 Molekül essigsaurem Natron enthält 24*1% Na.
Fall I. 0*3083 Grm. fettsanres Natron ergaben 0*2352 SO^Ka,, ent-
sprechend 0*07619 Na = 24*7% Na.
Fall II. 0-2790 Grm. fettsanres Natron ergaben 0*2084 SO^Na,, ent-
sprechend 0*06752 Na = 24'27o Na.
Med. Jahrbücher. 1887. 2g ..^v
218 Bokitansky. lieber das Veriialten der flächtigen Fettsäuren etc.
Das Ergebniss dieser beiden Versuche führt nun dahin,
bei der Annahme einer febrilen Lipaeidurie nicht nur die Menge
der im Harn erscheinenden Fettsäuren zu berücksichtigen, sondern
auch die Qualität derselben. Ich werde demgemäss bei den
weiteren Untersuchungen über diesen Gegenstand mein Augen-
merk darauf richten, ob in allen Fällen der febrilen Lipaeidurie
nur allein oder hauptsächlich die Ausscheidung der Essigsäure
gesteigert ist. Sollte sich dieses Resultat ergeben, so wäre da-
durch ftir das Auftreten einer febrilen Lipaeidurie eine neue
Stütze gewonnen, wobei jedoch das von mir oben hervorgehobene
Moment, den Urin von Fiebernden nach vorheriger Entleerung
des Darmes zu sammeln^ nicht ausser Acht gelassen werden darf.
Nur in Kürze möchte ich noch erwähnen, dass auch bei
zahlreichen Versuchen, in denen ich die Ausscheidung der Fett-
säuren bei Individuen mit pleuritischen Ergüssen, bei denen ich
zur Resorption des Exsudates Chlornatrium in der Tagesmenge
von 5 — 6 Grm. und Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr ver-
ordnete, mit der vermehrten Harnausscheidung auch eine Zunahme
der fettsauren Salze bis auf 0*505 in der täglichen Menge von
2750 Ccm. Harn beobachtete. Bei diesen Individuen, welche
übrigens gemischte Kost genossen, ergab die Analyse des fett-
sauren Salzes einen Natriumgehalt von 22-95'>/o, wonach das Salz
in diesem Falle, wo man eine künstliche gesteigerte Resorption
auch aus dem Darme annehmen dari, allerdings noch mehr
Buttersäure enthielt, als das aus dem Harn der mit Amylaceis
genährten Individuen gewonnene Salz.
Ich glaubte diese Ergebnisse aus der Untersuchung von
mehr als 50 Hamen verschiedener Individuen mittheilen zu sollen.
Weitere Untersuchungen mögen dann beitragen, die bisherigen
Befunde zu bestätigen oder neue Gesichtspunkte in dieser Frage
zu eröffnen.
>m^
Drnck Ton QotUieb Oistel k Comp, in Wien.
(14)
Ifienn-mediiiJi.Jälirbudwr.JahriaiiS 1881
Itrlsj m Alfred Holder k V f..i-';'i!-f^ir:ii; fci:c^-ä^i^:l^ *'^f.
lerlsgvin Alfred Holder k kUcf-a l)^m^sll^!J■S^;c^h3^Jl
ffinuTinrduiiLJahrtMclirT.Jahi^^ IW
Üig: b(1li«lin'sd>c OrÜien. Li^ Af« i t r^' m .
Ytriig tgi Alfrtd Holder k.k.llDf-a.Uninrsilili-BuchtijidbiiiliM.
XII.
Die embryonale Anlage des Mittelohres: die mor-
phologische Bedeutung der Gehörknöchelchen.
Von
Dr. 0. Oradenlgo aas Padna.
(Fortsetzniig.)
(Aus dem Laboratorium des Fror. Schenk In Wien.)
(Im October 1886 von der Redaction übernommen.)
(Hiezn Tafel V Ua IX.)
II. Abtheilung.
Die Lehre der Entwioklniig des Ifittelohres.
Die Entwickluiig der Skeletelemente des Olires im AUgemeinen
betrachtet.
Wenn wir auf Grand des Stadinms der histologischen Vor-
gänge, die sich an die Entwicklang der einzelnen Elemente des
Mittelohres knüpfen , Folgerangen allgemeiner Natar anzastellen
versachen, sind wir in der Lage einige Lücken anszufdllen and
einige Fragen zu lösen, denen man noch in der Lehre über die
Entwicklang des primordialen Skeletes begegnet. Die Wichtigkeit
der Schlüsse, welche wir daraas ziehen können, steht zar Thatsache
derart in Beziehang, dass die Skeletelemente des Mittelohres ans
ein Material bieten, welches in seltener Weise sich zu dieser
Art Stadiam eignet. Die geringen Dimensionen erleichtern die
genane mikroskopische Beobachtung der einzelnen Theile; die
Gomplication der topographischen Verhältnisse, die Mannigfaltig-
Med. Jahrbüolier. 1887. 19 (61)
220 Gradenigo.
keit der dazu gehörigen Gebilde (Gelenke, Muskeln) gestatten, in
vollkommenster Weise die nebensächlichen Vorgänge in ihren
Details zu studiren; die morphologische Bedeutung, welche den
proximalen Enden zweier Eiemenbogen und einer Sinneskapsel
gebührt, setzt uns endlich in die Lage, auch bei höheren Säuge-
thieren und bei Menschen die Veränderungen zu verfolgen, welche
allmälig der primordiale Skelettypus, um sich der höheren Orga-
nisation der Säugethiere anzupassen, eingeht.
Ich halte es für geeignet, zu besserer Klarheit der Darstel-
lung, zwei Hauptperioden in der Entwicklung der Skeletelemente
zu unterscheiden, nämlich:
I. Die vorknorpeligen Skeletelemente (entspricht dem I. und
II. Stadium: Eatzenembryonen 12 und 15 Mm. Länge).
II. Die knorpeligen Skeletelemente (entspricht dem III. und
rV. Stadium : Katzenembryonen 2 Cm. und menschliche Embryonen
4 Cm. Länge).
Ich will gleich ausdrücklich betonen, dass einer solchen Unter-
scheidung nur eine theoretische Bedeutung zukommt : in der That
gehen die zwei Perioden allmälig in einander über, und es ist
oft kaum möglich zu bestimmen, ob ein gewisses Gewebe als
Knorpel oder nicht angesehen werden darf.
A. Vorknorpelige Skeletelemente.
Die meisten Autoren , welche die embryonale Entwicklung
des primordialen Skelettes beschrieben haben, erwähnen aus-
drücklich eine, von einfachen Zellenanhäufungen dargestellte, vor-
knorpelige Anlage.
Was das Mittelohr betrifft, hatte schon Reichert^) diese An-
lage genau beschriebeu (pag. 167):
„Zur Zeit, als die Kiemenspalten scheu geschlossen sind, kann
man eine knorpelartige, ziemb'ch consistente Masse herauspräpariren,
welche in den runden Knochen als der Vorgänger der Knorpeibildung
zu betrachten ist. Sie ist von den Umgebungen noch nicht bestimmt
abgegrenzt, und so noch zu kleineren Formveränderungen geeignet.
Man verfolgt diese härtere , knorpelartige Substanz in der Richtung
und Lage der Visceralbogen selbst, und nur in der vorderen und
oberen Abtheilung der ersteren geht sie in einer Bildungsmasse über,
die noch keine Sonderung vorgenommen hat. So ist der Zusammen-
hang der zweiten Kiemenbogen mit der Basis des Schädels durch die
(62)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 22 1
ElntwickloDg des Ohrlabyrinthes unsicher und oft; zweifelhaft. Unten
in der Mittellinie sind diese knorpelartigen Streifen getrennt, so dass
ihr Halbgürtel hier unterbrochen ist. Nirgends ist eine Spnr von be-
ginnender Abscheidung in einzelnen Theilen/^
Für die Bezeichnung der erwähnten Anlage benützen einige
Autoren specielle Ausdrücke. Reichert^) braucht, wie oben ersicht-
lich, das Wort knorpelartig; Eöliiker^^^) bezeichnet eine fthn-
liehe Anlage mit — „häutig'^, — „weich ^^ Die englischen Autoren wenden
die Bezeichnungen kOrniges Oewebe, verdicktes Qewebe,
(Condensed tissue, Huxley) an, die der histologischen That-
sache nicht Yollkommen entsprechen.
Die Mehrzahl der Autoren spricht auch in diesem Stadium von
Enorpelgewebe, obwohl die genannten Zellenanhäufangen das Aussehen
von Knorpeln noch nicht darbieten. Parker und Bettany heben
in ihrer Morphologie des Schädels^^) ausdrücklich hervor
(pag. 13 und 14) :
„Ein grosser Theil des Mesoblastes, welcher das Oehim umhüllt
und die Visceralfalten und andere zum Kopfe gehörige Fortsätze
bildet, erfährt eine allmälige, aber sehr frühzeitige ümwandlang in
Knorpelsubstanz, welche bestimmte Skelettheile darstellt, bevor noch
Intercellularsubstanz aufgetreten ist.^^
Aus Mangel an eine richtige Bezeichnung ist dieses Stadium
von den nachfolgenden nicht gehörig unterschieden, wo nämlich
das eigentliche Knorpelgewebe sich zu zeigen beginnt.
Es ist nämlich nicht zu leugnen, dass diese Zellenanhäu-
fungen die Anlage des künftigen Knorpels darstellen, und dass
das Knorpelgewebe bei seinem ersten Auftreten ein neues histo-
logisches Element nicht bedeutet, aber nur, wie wir weiter unten
sehen werden, einem bestimmten Reifegrade der genannten Zellen-
anhäufungen entspricht. Nichtsdestoweniger erachte ich es, zur
grösseren Klarheit der Darstellung der embryonalen Vorgänge, als
nothwendig, eine scharfe Unterscheidung zwischen diesen beiden
Arten von Geweben festzuhalten. Zur Bezeichnung der Skelett-
elemente vor dem Auftreten des Knorpels wende ich in der vor-
liegenden Arbeit den Ausdruck „vorknorpelige Anlage^
an. Vom histologischen Gesichtspunkte aus finde ich als das Beste
die Bezeichnungen: Zellenanhäufungen und Zellenstränge
zu wählen.
Das Wort Knorpel wende ich nur zur Bezeichnung eines Ge-
webes an, wo die Intercellularsubstanz schon dentlich aufgetreten ist.
19 ♦ (68)
^222 Oradenigo.
Da die histologische Beschaffenheit , die Modalitäten des
Auftretens und des Wachsthums, die Anordnung der allerersten
Anlage der zwei eraten Eiemenbogen nnd der periotischen Kapsel
nicht ganz für die Säugethiere festgesetzt erscheinen, werde ich
die Resultate meiner eigenen diesbezüglichen Beobachtungen kurz
mittheilen (vergl. im I. Abschnitte, I. und II. Entwicklungsstadium).
Histologisches Verhalten. Die erste Andeutung einer
Anlage der Skeletelemente beim Embryo ist von Zellen darge-
stellt, die, in Anhäufungen und Strängen zusammentretend, sich all-
mälig von den gewöhnlichen Zellen des embryonalen Mesoblastes
differenziren. Diese Zellen sind rundlich, weisen einen yerhältniss-
massig grossen Kern oder kömigen Inhalt auf, besitzen keine
Fortsätze und färben sich intensiv mit Hämatoxylin und Garmin ;
während die Zellen des indifferenten Gewebes nicht so dicht an-
einander gedrängt, und meist von ovaler Form sind und zahlreiche
Processe besitzen.
Es ist jedoch zu bemerken , dass die Skeletanlage besser
als durch die Form und die Grösse der einzelnen Zellen, durch
die Anhäufhngsart und den Färbungsgrad von ähnlichen Zellen-
anhäufungen zu unterscheiden sind. Derartige Zellenanhäufungen
treten in der That, wenn sie mit schwacher Vergrösserung (30 bis
öOmal) angesehen werden, auf dem mikroskopischen Felde, ihrer
lebhaften Färbung wegen, ziemlich scharf hervor; indess, wenn
man die einzelnen Zellen mit starker Vergrösserung betrachtet,
kann man constatiren, dass die Zellen allmälig in der Randzone
ihre charakteristische Beschaffenheit verlieren, und in die Zellen
des neugebildeten Gewebes tibergehen.
Das Verhalten der Skeletelemente wird daher in diesem
Stadium besser mit schwächerer als mit stärkerer Vergrösserung
studirt.
S t ö h r 77) bemerkt auf Grund einer Reihe von Beobachtungen
über die embryonale Entwicklungsweise des Kopfes von Fischen
(Teleostier), dass das Gewebe ans dichtgedrängten rundlichen oder
ovalen Kernen, welche in einer gemeinsamen sich färbenden
Grundsubstanz zu liegen scheinen, zweifellos in vielen Fällen der
Vorläufer des Knorpels ist; trotzdem ist eine Deutung desselben
als frühere Skeletanlage unmöglich, u. zw. aus folgenden Gründen :
(64)
Die embryonale Anlage des Mittelofares : die morphologische Bedentnng etc. 223
1 . Zu einer gewissen Zeit wird die ganze Masse der Visceral-
bogen nur von solchem Gewebe dargestellt, das demnach von
Epithel zu Epithel reicht. Im weiteren Verlaufe der embryonalen
Entwicklung bilden sich die axialen Partien des genannten Ge-
webes zu Knorpel um , die peripheren Theile dagegen geben
Muskeln , sowie dem indifferenten Gewebe , welches zwischen
Knorpel und Epithel der Kiemenspalten gelegen ist, den Ursprung.
Somit ist das fragliche Gewebe der Vorläufer nicht nur des Knor-
pels, sondern auch anderer dem Knorpel fernstehender Gewebe.
2. Auch an Stellen, in denen es niemals zu Knorpelbildung
kommt, treten Anhäufungen des gleichen Gewebes auf, z. B. im
Oberkieferfortsatz, wo es das Muttergewebe fQr das knöcherne
Maxillare superius abgibt.
3. Endlich, ist die häufig vollkommen fehlende Abgrenzung
ein weiteres Hindemiss, das fragliche Gewebe genauen Beschrei-
bungen zu Grunde zu legen. ^
Ich kann diese Ansichten von Stöhr nicht theilen, weil es
mir scheint, dass den von ihm erwähnten Thatsachen eine andere
Bedeutung zuzuschreiben ist.
Allerdings darf nicht eine jede Zellhäuiung bei den ersten
embryonalen Stadien als der Vorläufer des Knorpelgewebes ange-
sehen werden; aus meinen Wahrnehmungen geht jedoch hervor,
dass von ihrem ersten Deutlichwerden an die Zellenanhäufungen,
welche die Skeletelemente darsteUen, von den anderen Zellen-
anhäufungen gut unterschieden werden können. Es ist wohl wahr,
wie Stöhr hervorhebt (Satz I}, dass in einem der allerersten
Stadien der Entwicklung die ganze Masse der Visceralbogen von
einem Gewebe aus dicht gedrängten rundlichen Zellen dargestellt
erscheint; zu dieser Zeit stellt jedoch dieses Gewebe nur das
embryonale Mesoblast und nicht irgend eine Anlage von Skelet-
theilen dar, welche noch nicht im Embryo angedeutet sind. Es ist
wohl wahr, dass auch an Stellen, in denen es niemals zu Knorpel-
bildung kommt, Anhäufungen des gleichen Gewebes auftreten ; aber
der Färbungsgrad und die vollkommen fehlende Abgrenzung
lassen, wenigstens in den meisten Fällen, diese Anhäufungen,
welche in Beziehung zur Entwicklung von Muskeln, Bändern und
Deckknochen wahrscheinlich gebracht werden dürften, von der
(65)
224 Gradenigo.
Skeletanlage unterBcheideD. Nar bezüglich der Ganglien habe ich
im ersten Abschnitte bemerkt, dass die lebhafte Färbung der sie
zusammensetzenden Zellen and die ziemlich scharfe Begrenzung
eine Verwechslung der betreffenden Zellenanhäufdngen mit der
vorknorpeligen Anlage der Skeletelemente leicht verursachen
könnten, im Falle nicht die Ganglien durch das innige Verhalten,
in welchen sie zu den Nervenfasern oder Epithelien stehen,
charakterisirt wären.
Die vollkommen fehlende Abgrenzung ist nur ein fernerer
Beweis, dass ein solches Gewebe von der eigentlichen Anlage der
Skelettheile genau unterschieden werden muss. Als Anlage der
Skelettheile sind, meines Erachtens, nur die Anhäufungen zu be-
trachten, welche mit schwacher Vergrösserung ziemlich deutlich
in ihren Umrissen begrenzt erscheinen. Falls ein scharf begrenzter
Zellenstrang allmälig in eine Zellenmasse mit vollkommen feh-
lender Abgrenzung übergeht, (in ähnlicher Weise wie die distalen
Enden der zweiten Eiemenbogen bei Eatzenembryonen 15 Mm.
Seh. St. L.) darf diese Zellenmasse, wenn auch in Fortsetzung
einem deutlich angelegten Skeletelemente, noch nicht als eigent-
liche Anlage der Skelettheile angesehen werden; ich stimme
daher mit Stöhr vollkommen überein, dass aus dieser Masse
nicht nur Knorpel, sondern auch andere Gewebe hervorgehen
können. (Siehe: Schenk, Embryologie. 1874 Wien.)
Meiner Ansicht nach ist nur eine intensiv gefärbte und
mit deutlichen Grenzen versehene Zelenanhäufnng als Skelet-
anlage zu betrachten.
DasAuftreten und dieAnordnung der primordialen
Skeletelemente im Mittelohre.
Die Kiemenbogen und die periotische Kapsel erscheinen
nicht zu derselben Zeit in ihrer ganzen Ausdehnung.
Beim Katzenembryo, 12 Mm. Länge, sind nur zu sehen:
€t) ein proximaler Abschnitt des 1. Kiemenbogens ; b) eine, der
lateralen unteren Wand der Läbyrinthblase entsprechende, An-
deutung der periotischen Kapsel.
In einem späteren Stadium (Katzenembryo 15 Mm.) , doch
immer vor dem Auftreten des Knorpelgewebes, kommt der ganze
(»'>6)
Die embryonale Anlage des Mittelolires : die morphologische Bedeutung etc. 226
Mittelabschnitt des mandibularen Bogens zum Vorschein; die
distalen Enden reichen jedoch noch nicht bis zar Mittellinie,
und die proximalen Enden gehen in das umgebende indifferente
Gewebe über, ohne mit der Schädelbasis in Beziehung zu treten.
Der Hjoidbogen indess ist schon mit seinem scharf be-
grenzten proximalem Ende zu der periotischen Kapsel in Be-
ziehung getreten : die distalen Enden hören auf, gegen die Mittel-
linie gut begrenzt zu sein.
Die periotische Kapsel bietet ihre laterale Wand
schon gut angelegt dar, ist jedoch an*ihrer medialen Wand kaum
angedeutet, und zeigt keine Spur von Labyrinthfenstem.
Die vollständige vorknorpelige Anlage dieser Elemente ist
erst dann zu treffen, wenn das Knorpelgewebe in manchen Ab-
schnitten schon aufgetreten ist.
Es geht aus diesen Beobachtungen hervor, dass ebenso die
periotische Kapsel wie der erste Kiemenbogen in Form isolirter
Zellenanhäufungen inmitten des indifferenten mesoblastischen Ge-
webes beim Embryo aufzutreten beginnt. Es ist sehr wahrschein-
lich, dass auch der Hyoidbogen in einer Entwicklnngsperiode,
welche den zwei von mir beobachteten intermediär ist, noch nicht
in Beziehung zu der periotischen Kapsel proximal eingetreten sei.
Die Art und Weise des successiven Auftretens der Skelett-
elemente beim Embryo sollte, meines Erachtens, zu deren respecti-
ven morphologischen Bedeutung in Beziehung gebracht werden.
In der That entspricht die embryonale Anordnung der vorknorpe-
ligen Anlage bei den Embryonen von Säugethieren vollkommen
der Anordnung, welche bei den Embryonen von anderen Wirbel-
thierklassen anzutreffen ist. Das primordiale Skelett der am besten
specialisirten Thiere ist so einfach als dasjenige der niedersten
Wirbelthiere.
Nach Parker's Beobachtungen bei Fischen (Elasmobran-
chien, Teleostei) bleiben die zwei ersten Kiemenbogen in der ersten
Entwicklangsperiode ungegliedert, und in Form zweier gut be-
grenzter und isolirter Cylinder. Stöhr^^), welcher die Entwick-
lungsgeschichte des Kopfskelettes der Teleostier^) studirt hat,
^) Beobachtungen über die Embryonen der Salmo salar und Salmo
trata.
(67)
226 Gradenigo.
beschreibt die primitive Anordnang der zwei ersten Eiemenbogen
bei den Embryonen solcher Thiere in folgender Weise : „Der erste
Visceralbogen (Eieferbogen) besteht jederseits aas einer ab- und
medialwärts gekrümmten Enorpelspange, welche dorsal, seitlich
von der Chordaspitze nnter dem vorderen Ende der Ohrblase
frei endet, während das ventrale Ende gleichfalls frei, ohne sein
Gegenüber zu berühren, aoslänft. Der Hyoidbogen erscheint in
Qestalt eines vorknorpeligen Streifens/
Die Embryonen der Amphibien (Frosch von zwei bis drei
Linien Länge, ungefähr zur Zeit ihres Ausschlüpfens) bieten ein
ausserordentlich einfaches Aussehen der primitiven Elemente des
Schädels dar. Die zwei ersten Eiemenbogen erscheinen in Gestalt
von Gylindem, welche proximal stumpf enden, und sind distal in
der Mittellinie getrennt (Parker).
Bei niederen Wirbelthieren erscheint auch die vorknorpelige
periotische Eapsel in Form einer isolirten, der lateralen Wand
der Gehörblase entsprechenden Lamelle (Bathke, Parker ^^),
S t ö h r ^^). Diese primitive Anlage ist eine unvollständige : bei dem
Frosche z. B. fällt der obere äussere Theil der Eapsel aus (P a r k e r^^).
Das Verhalten der zwei ersten Eiemenbogen und der perio-
tischen Eapsel bei den allerersten Entwicklungsperioden erscheint
leider bei Sauropsiden und Säugethieren nicht entsprechend ver-
folgt worden zu sein. Die Geschwindigkeit, mit welcher dieses
primordiale Skelett bei höheren Wirbelthieren in seiner Anord-
nung sich verändert, und partielle Involutionsvorgänge eingeht,
erklärt hinreichend, wie das Studium dieses ersten Entwicklungs-
stadiums bei diesen Thieren nicht unbedeutende Schwierigkeiten
bietet.
Es wäre in der That die genaue Beobachtung dieser ersten
Periode bei Säugethieren diejenige gewesen, welche unzweifelhaft
eine Menge Voraussetzungen und Fragen über das Verhalten der
proximalen Enden der zwei ersten Eiemenbogen und die Ent-
stehungsweise der periotischen Eapsel aufgehoben hätte.
Auf Grund meiner eigenen Beobachtungen bin ich im Stande,
diese Lücke zu füllen und zu beweisen , dass auch bei höheren
Säugethieren (Eatze) das primordiale Skelet im Ohre genau wie
das primordiale Skelet der niederen Wirbelthiere sich verhält.
(68)
I
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 227
Bezüglich der vorknorpeligen Skeletanlage scheint es mir
angezeigt , hier noch einige Fragen allgemeiner Natur kurz za
besprechen.
Die Yorknorpelige embryonale Anlage des Skelets wurde
zumeist auf Grund von Beobachtungen über die Entwicklungs-
weise der Extremitäten erforscht, und zahlreiche Autoren erwähnen
einen einheitlichen Körper, welcher in den allerersten
Stadien die Anlage der einzelnen Enorpe labschnitte vertritt.
Eölliker^") spricht sich folgender Weise darüber aus:
„Das ganze Extremitätenskelet entsteht als eine von Anfange
an zusammenhängende Blastemmasse , in der vom Rumpf gegen die
Peripherie zu Knorpel um Knorpel, Gelenkanlage nach Gelenkanlage
dentlieh wird.^
Henke und R e y h e r ^^) können nicht enteoheiden, ob die ein-
zelnen Knorpelabfichnitte aus Zergliederung eines einzigen Primitiv-
I Stuckes hervorgehen, oder ob selbe primitiv getrennt angelegt sind.
Schulin 7*) bemerkt, dass in einem der allerersten Stadien die
Skdetelemente von Anhaufungen runder , embryonaler Zellen ver-
treten siud. Doch meint er die Zellenanhäufungen nicht als eine zu-
sammenhangende Masse ansehen zu dürfen.
Auf Grund meiner Beobachtungen und gestützt auf die ana-
logen Resultate der vergleichenden Anatomie (Parker *i) glaube
ich diesbezüglich folgende Sätze aufstellen zu können:
L Die Skeletelemente, welchen eine specielle morphologische
Bedeutung zukommt, sind von vornherein getrennt angelegt. Die
Kiemenbogen , die periotische Kapsel treten durch directe Um-
wandlung des mesoblastischen Gewebes als isolirte Gebilde auf.
Ich stimme daher vollkommen mit Parker und Stöhl
überein ; ich soll indess N o o r d e n's ^^) Behauptung, nach welcher
die vorknorpelige Anlage der Skelettheile von vorneherein in Ver-
bindung mit der Chorda dorsalis sich befindet, entschieden
ablehnen.
n. Jedes einzelne, von Zellensträngen und ZeUenanhäufungen
dargestellte, morphologische Element kann andererseits als ein
einheitlicher Körper angesehen werden, weil er keine Andeutung
der verschiedenen Knorpelstücke, in welche er sich später zer-
gliedert, zeigt.
Das Skeletelement eines Kiemenbogens stellt sich daher
ähnlich wie die Anlage einer Extremität, in dem vorknorpeligen
(69)
228 Oradenigo.
Zustand als eine zusammenhängende Blastemmasse, in der
später die einzelnen Enorpelstttcke deutlich werden, (Eölliker,
Schenk) dar.
Noch genauer wäre es zusagen, im Sinne Schulin's, dass
die künftigen Skeletabschnitte den Gelenken entsprechend noch
nicht differenzirt sind, da die Skelettheile und die Gelenke noch
von einem, dieselben anatomischen Charaktere darbietenden, Ge-
webe vertreten sind.
Die einzelnen Elemente des primitiven Skeletts
treten isolirt, ungegliedert inmitten des mesoder-
matischen Gewebes auf.
Das vorknorpelige Skelet der Kiemenbogen und der perio-
tischen Kapsel geht sehr frühzeitig eine Reihe von Veränderungen
ein, um die complicirte Gestaltung der Skeletttheile des Mittelohres
anzunehmen. Die einzelnen morphologischen Elemente , welche
die primordiale Anlage darstellen, verfertigen ihre Form, treten
zu den Nachbartheilen in Beziehung und einige Abschnitte gehen
sogar eigentliche Involutionsvorgänge ein. Der mandibulare Bogen
dehnt sich in ventraler Richtung aus , die distalen Enden ver-
einigen sich in der Mittellinie; das proximale Ende schwillt an,
und streckt sich allmälig nach hinten zu. Der Hjoidbogen ver-
einigt sich distal mit dem Basihyale (os hyoideum); sein
proximales Ende umgibt die Arteria stapedialis, und gelangt in
immer inniger Beziehung zu der periotischen Kapsel.
Die periotische Kapsel entwickelt sich um die Labyrinth-
blase ; sie bietet jedoch keine Labyrinthfenster dar, und zeigt au
der dem Gehirn zugewendeten Fläche eine grosse Lücke.
Was die histologischen Vorgänge der Vergrösserung und der
Ergänzung solcher^vorknorpeligen Anlagen anbelangt, müssen wir
eine doppelte Wachsthumsart annehmen: interstitielles und
appositionelles Wachsthum.
Die Voraussetzung eines interstitiellen Wachsthums,
welches schon a priori sehr wahrscheinlich vorkommt, beruht
auf der Thatsache, dass die Zellen, welche die in Rede stehenden
Anhäufungen zusammensetzen, bis zu einer gewissen Periode klein,
lebhaft gefärbt, nut kömigem Inhalt und dicht aneinandergednlngt
bleiben; lauter Charaktere, welche als zu einer raschen Zellen«
(70)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentang etc. 229
wucherang in Beziehung stehend allgemein anerkannt sind« Pas
appositioneile Wachsthum stellt gewissermassen nnr die
Fortsetzung des primitiven Entwicklungsvorganges der vorknor-
peligen Anlage dar. Wenn wir constatirt haben, dass in einem
der allerersten Stadien der mandibulare Bogen nur auf einer kurzen
Strecke deutlich begrenzt ist, und dass später derselbe gegen die
Mittellinie zuwächst, dürften wir mit Recht annehmen, dass solch
eine Entwicklung der fortschreitenden Umwandlung des meso-
blastischen Gewebes in Skeletelementen zuzuschreiben sei.
Diese Ansicht wird auch histologisch von der Thatsache
bestätigt, dass wir um die vorknorpelige Anlage herum einen
allmäligen Uebergang der sie zusammensetzenden Zellen in die
Zellen des indifferenten Gewebes constatiren können.
Wenn wir die hauptsächlichen Ergebnisse, welche aus dem
Studium der vorknorpeligen Anlage der Skeletelemente im Mittelohre
zu entnehmen sind, kurz resumiren, so ist Folgendes zu bemerken:
I. Das vorknorpelige primordiale Skelet der Eiemenbogen und
der periotischen Kapsel bei Säugethieren ist ganz dem primordialen
embryonalen Skelet der niederen Wirbelthiere (Fische und Amphibien)
ähnlich; das primordiale Typus der periotischen Kapsel ohne laby-
rinthische Fenster entspricht dem Typus, den die Fische durch das
ganze Leb^ beibehalten.
n. Die einzelnen morphologischen Elemente, welche das primitive
Skelet darstellen, treten zuerst in Gestalt von isolirten Zellenanhäufnngen
auf, welche später, durch interstitielle Zellen Vermehrung und durch
Apposition wachsend, zu einander und zu der Schädelbasis in Beziehung
treten.
III. Die einzelnen Elemente, welche das primitive Skelet dar-
stellen, bieten keine Spur von Zergliederung dar.
B. Die knorpeligen Skeletelemente.
In einem späteren Stadium lassen die Zellen, welche die
vorknorpelige Skeletanlage zusammensetzen, deutlich um sie herum
einen lichteren Saum erkennen. Eine homogene, durchsichtige
Intercellularsubstanz wird jetzt deutlich sichtbar; wir haben schon
vor uns die charakteristischen Elemente des Knorpelgewebes. —
In demselben Stadium zeigt das embryonale Bindegewebe in seiner
InterceUularsubstanz eine sehr feine faserige Beschaffenheit.
Obwohl die Umwandlung des primitiv angelegten in das de-
finitive Skelet des Mittelohres sehr wichtige Merkmale aufvveist, sind
(71)
230 Gradenigo.
in der Literatur die Angaben über die Art und Weise der Ver-
knorpelung des Mittelohres sehr spärlich vorhanden.
Eölliker^^) bemerkt, dass das Enorpelgewebe der Schädel-
basis wie aus einem Ousse entsteht: Hammer und Ambos
seien zur Zeit des Auftretens des Knorpelgewebes von einander ge-
trennt.
Sälen sky^^) hebt hervor, dass die untere vordere Partie der
periotischen Kapsel ein jOngeres Knorpelgewebe als die hintere dar-
bietet. Ausserdem hätte er beobachtet, dass die Trennung des Am-
bosses vom Hammer allmälig von unten nach oben vor sich geht.
ürbantschitsch^^) hebt in einer werthvoUen Arbeit über
die embryonale Bildung des Hammer- Ambos-Oelenkes , den Ansichten
Kölliker's gegenüber, hervor, dass bei einem 3 Gm. langen Schweins-
embryo Hammer und Ambos gut erkennbar erschienen, während der
Hammer-Ambos-Körper noch eine knorpelige Verschmelzung aufwies.
Ich werde nun die Resultate meiner Untersuchungen über
die Entwicklungsart des Knorpelgewebes der Kiemenbogen und
der periotischen Kapsel kurz darstellen, und dieselbe in Beziehung
zu der allgemeinen Lehre über die Entwicklung der Skelettheile
des Schädels und der Extremitäten bringen.
Bei den Katzenembryonen, 2 Cm. lang (HI. Stadium, lieber-
gangsstadium), sind die Skeletelemente entweder durch Knorpel-
gewebe — welches durch seine Charaktere dem Knorpelgewebe
des erwachsenen Thieres näher tritt (reifer Knorpel) — oder
durch Knorpelgewebe, welches durch seine histologischen Charaktere
an die vorknorpelige Anlage, aus welcher es hervorgegangen ist,
erinnert (unreifer Knorpel), oder auch durch die Zellenan-
häufungen, welche bei den zwei vorhergehenden Stadien einzig
vorhanden waren (vorknorpelige Anlage), vertreten.
Demgemäss darf die Behauptung Kölliker's, dass die
Verknorpelung aUer Theile des primordialen Craniums zu gleicher
Zeit vor sich gehe, wenigstens mit Rücksicht auf die Gebilde des
Ohres nicht im absoluten Sinne acceptirt werden.
Die Thatsacbe der Nichtgleichzeitigkeit der Verknorpelung
der genannten Gebilde findet übrigens ein Aehnliches in noch
ausgedehnterem Maasse in der successiven Entwicklungsweise der
Extremitäten, wie dies auch von KöUiker angenommen wird.
Wenn man von einigen, von mir im ersten Abschnitte dieser
Arbeit ausführlich dargestellten Einzelheiten absieht, kann man
(72)
Die embryonale Anlage des Mittelobres : die morphologische Bedeutung etc. 231
festsetzen, dass der grössere Theil des mandibularen Bogens mit
dem Hammer - Ambos - Körper and die Partie der periotiseben
Kapsel, welcbe die Bogengänge aufnimmt, vom reifen Knorpel
repräsentirt sind; der grössere Theil des Hyoidbogens und der
Hammer-Ambos-Fortsätze — der Stapedialring — die Partie der
Kapsel, welche die Cochlea aufnimmt, in Form unreifer
Knorpel vorhanden sind; das Stück des Hyoidbogens, welches
unmitttelbar unterhalb des Annulus stapedialis liegt — die
Enden der Fortsätze des Hammers und des Ambosses — die
Partie der periotiseben Kapsel, welche den Sacculus und das
Anfangsstttck des Ductus cochlearis aufnimmt (Pars vesti-
bularis), noch von einfachen Zellenanhäufungen vertreten sind.
Wenn wir zur Aufklärung der verschiedenen, von den Skelet-
elementen des Mittelohres dargebotenen Entwicklungsgrade, nur
das Kriterium des Alters, d. h. der Zeit des allerersten Auftretens
der respectiven vorbiorpeligen Anlage anzuwenden versuchen,
sind wir im Stande, nur eine geringe Zahl von Thatsachen,
welche die Entwicklung der einzelnen Theile des Hammers und
des Ambosses betreffen, gentlgend zu erklären. In der That,
sind die Körper der zwei Knöchelchen diejenigen, die zuerst an-
gelegt sind, und erst später entwickeln sich der Hammergriff und
der lange Ambosschenkel. Demgemäss ist zu erwarten, dass in
einer späteren Periode die Körper der Knöchelchen echten Knorpel
aufweisen, während ihr Gewebe allmälig ein stets jüngeres Aus-
sehen — bis zum Verlieren der Charaktere des Knorpels — je
mehr wir uns den letzten angelegten Enden der Fortsätze nähern,
darbietet.
Das Kriterium des Alters allein ist aber nicht genügend,
das Verhalten der übrigen Skelettheile verständlich zu machen.
Der Hjoidbogen, und insbesondere sein proximales Ende —
welches, sammt dem Annulus stapedialis, zur Zeit wo das
proximale Ende des mandibularen Bogens in eine Zellenmasse
mit fehlender Abgrenzung überging, schon vollkommen begrenzt
war — ist indessen dem mandibularen Bogen bei der Entwicklung
weit zurückgeblieben: er bietet noch das Aussehen des unreifen
Knorpelgewebes (während hingegen der mandibulare Bogen echt
knorpelig geworden ist), und ist im Durchmesser nur halb so breit
(78)
232 Gradenigo.
als dieser. Ein Abschnitt des Hyoidbogens ist sogar nicht einmal
knorpelig geworden.
Was die periotische Kapsel anbelangt, ist jetzt die zuerst
angedeutete untere vordere Partie viel weniger entwickelt als
die hintere.
Es ist eben dem morphologischen Kriterium, dem wir uns
zuwenden müssen, um diese Thatsachen ins Klare zu legen; die
Verschiedenheiten in dem Entwicklungsgrad stehen nicht nur im
Zusammenhang mit dem normalen Wachsthum des Gewebes, sondern
hängen hauptsächlich von dem yerschiedenen morphologischen
Werth der einzelnen Skeletelemente ab. Die Phylogenie, welche
dem Auftreten beim Embryo des primordialen Skelettypus vor-
waltet, leitet jetzt die Umwandlung dieses letzteren in dem hoch
specialisirten Skelettypus der Säugethiere.
Wir können thatsächlich bemerken, dass es genau die Theile
sind, welche wesentliche Veränderungen erfahren müssen, die-
jenigen, die entweder gar nicht knorpelig werden, oder das Aus-
sehen von unreifem Knorpel darbieten.
Die vestibuläre Wand der Kapsel, an welcher die zwei
Labyrinthfenster — welche die periotische Kapsel der Säuge-
thiere von jener der Fische unterscheiden — erscheinen sollen,
ist noch nicht knorpelig geworden. Die vordere Partie der Kapsel,
welche die Windungen des Ductus cochlearis, des vervoll-
kommneten Vertreters der Lagena der niederen Wirbelthiere,
aufnimmt, bietet das Aussehen eines noch jungen Knorpels dar.
Die Partie der Kapsel indess, welche die Bogengänge aufnimmt,
die bei Säugethieren im Vergleiche zu denjenigen der Fische ver-
hältnissmässig wenig verändert sind, ist schon echt knorpelig.
Das unmittelbar unterhalb des Stapedialringes liegende Stück des
Hyoidbogens, welches später in dem Skelettypus der höheren
Wirbelthiere verschwindet, ist nicht einmal knorpelig geworden.
Der ganze Hyoidbogen, welcher bei höheren Wirbelthieren all-
mälig an seiner functionellen Bedeutung verliert, ist in der Ent-
wicklung weit zurückgeblieben.
Die von den einzelnen Skelettheilen dargebotenen histolo-
gischen Charaktere können demnach in diesem Entwicklungsstadium
ganz entgegengesetzte embryologische Bedeutung besitzen. Das
(74)
Die embryonale Anlage des Mittelohres ; die morphologische Bedentang etc. 233
Stadium der späteren Stadien zeigt ans in der That, dass von
den Skeletelementen , die in diesem Uebergangsstadium vor-
knorpelige Gewebe oder anreifen Knorpel darbieten, einige erst
seit karzer Zeit entstandene, im Begriff sieb weiter zu entwickeln
sieb befinden, andere, zom Verscbwinden bestimmte, bei Beginnen
ihrer Involation getroffen werden.
Aaf Grand dieser Wahmehmangen kann die Bebaaptang
Noorden'8(^0 ^i<^b^ ^^ absolutem Sinne aufrecht gehalten werden,
nach welcher die Yerknorpelung immer da zuerst aaftritt, wo die
Zellen der vorknorpeligen Anlage zuerst entstanden sind. Das
Verhalten der Skeletelemente des Mittelohres zeigt, dass vor-
wiegend der morphologische Werth der betreffenden Skeletelemente
auf die Zeit des Auftretens des Knorpelgewebes bei der primor-
dialen Anlage einen Einfluss übt. ^)
Die Umwandlungen, welche der primordiale Skelettypus er-
fahrt, finden bei den hohen Wirbelthieren in einer so kurzen
Zeitperiode statt, dass die meisten Veränderungen schon zur Zeit
des Auftretens des Knorpelgewebes als vollendet angesehen
werden können.
Diese Umwandlungen können bezüglich den Elementen des
Mittelohres
a) von Involutionsvorgängen,
ß) von Gliederungsvorgängen,
Y) von Verschmelzungsvorgängen
repräsentirt werden.
a) Involutionsvorgänge (Resorption, Atrophie). Re-
sorptionen von Abschnitten der Elemente des primordialen Skeletes
finden ebenso vor, als nach dem Auftreten des Knorpelgewebes statt.
Die Resorption eines Theiles der vorknorpeligen Anlage der
Skeletelemente kommt dadurch zu Stande, dass die oft erwähnten
Zellenanhäuftmgen ihre Contouren verlieren; die Zellen wenig
^) Der morphologische Werth der einzelnen Skeletelemente des Ohres übt
auch auf die Zeit der Ve^knÖchenmg einen wesentlichen Einfluss aus. Bs gehen
nämlich diejenigen Thefle, welche, um den Skelettypus einer gewissen Familie
der S&ugethiere sich anzupassen, bestimmte Verinderungen erfahren müssen,
zuletzt die Yerknöcherang ein.
(76)
234 Gradenigo.
dicht eineinander gedrängt erscheinen, und die Charaktere des
Bindegewebes bekommen.
Auf diese Art wird ein dem mnden Fenster entsprechender
Theil der vorknorpeligen Wand der periotischen Kapsel resorbirt ;
auf diese Art verschwindet das proximale Stack des Hjoidbogens
unmittelbar unterhalb des Annulus stapedialis.
Die Resorption einiger schon vom Knorpel vertretener
Skeletabschnitte geht langsamer in einem späteren Entwicklungs-
stadium vor sich. Die Knorpelzellen scheinen sich weiter nicht
zu vermehren, werden gross, mit geschrumpften Kernen. — Diese
Zellen verschwinden theils durch eine Art Atrophie, theils scheinen
sich in faserigen Elementen des Bindegewebes umzuwandehi,
theils ferner erscheinen von den faserigen Elementen der Nach-
bargebilde verdrängt und zertrümmert. — Manchmal treten die
gegen das betreffende Knorpelelement zu verwachsenden Deck-
knochen mit diesem in Berührung, und scheinen eine eigentliche
Druckatrophie zu verursachen.
Die knorpelige Lamina stapedialis erfahrt einen von
mir ausführlich im ersten Abschnitte dieser Arbeit beschriebenen
partieUen Involutionsvorgang. Das Verschwinden des Hecke Fschen
Knorpels und des Stückes des Hyoidbogens unterhalb des künftigen
Proc. stjloideus findet grösstentheUs durch Atrophie und Um-
wandlung der Knorpelzellen in faseriges Gewebe statt.
Wenn man die Involutionsvorgänge der knorpeligen Skelet-
theile genau in ihren histologischen Details verfolgt, gewinnt man
die Ueberzengung , dass die innige Affinität, welche zwischen
der vorknorpeligen Anlage und dem übrigen mesoblastischen Ge-
webe zu treffen war, auch später zwischen den Knorpelzellen und
dem faserigen Gewebe bleibt.
ß) Gliederungsvorgänge. Die Gliederung der einzelnen
Elemente, welche das primordiale Skelet vertreten (vor knor-
pelige Anlage), findet gewöhnlich zur Zeit des Auftretens des
Knorpelgewebes statt : ich habe mich jedocl\ überzeugen können,
dass weitere Gliederungsvor^nge bei einem einzigen Knorpel-
stücke in manchen Fällen zu beobachten sind.
(7©
I ■
i'
r
Die embryonale Anlage des Mittelohrea : die morphologische Bedeatnng etc. 235
Die Autoren stimmen sämmtlich in der Annahme Uberein,
dass die einzelnen Enorpeltbeile den zukunftigen Gelenksver-
bindungen entspreebend von einander getrennt sind.
In der axialen Partie der vorknorpeligen Anlage tritt ein
Knorpelkem für ein jedes Enorpelstück auf; so dass der be-
treffende Kern in den allerersten Stadien von den Ueberresten
der Yorknorpeligen Anlage, aueb den ktlnftigen Gelenkober-
flächen entsprechend, getrennt bleibt. Die vorknorpelige Anlage
schreitet ihrerseits in dem Wachsthum fort, wie wir dies im
vorigen Capitel constatirt haben; die Yerknorpelung tri£Ft ge-
wissennassen einen Schritt später die zuletzt angelegten Skelet-
tbeile. — Auf diese Weise sind die einzelnen Enorpelkeme zur
Zeit ihres ersten Auftretens von einer ziemlich breiten Schichte
von vorknorpeliger Anlage (der sogenannten chondrogenen
Schichte, Bernaj's Grenzschichte) umgeben; diese
Schichte, die wir später näher besprechen werden, erstreckt sich,
indem sie schmäler wird, zwischen die Gelenkflächen zweier
danebenliegender Enorpelstücke.
Die Gliederungen, welche mit dem Auftreten des Enorpel-
gewebes im Mittelohre stattfinden, sind: die Trennung des
Stapedialringes von dem proximalen Endstücke des Hjoidbogens
und die partielle Gliederung des Hammers vom Ambos.
Ich habe jedoch wahrnehmen können, dass im Mittelohre
auch nach erfolgtem Auftreten des Enorpelgewebes Gliederungs-
vorgänge sich ereignen.
Ueberhaupt sind die Autoren nicht geneigt, eine Gliederung
eines einzigen Knorpelstückes anzunehmen.
Bruch*®-"") erkennt die zeitlich und räumlich getrennte
und successive Anlage der einzelnen Enorpelstücke an; nur aus-
nahmsweise nimmt er die Gliederung eines einzigen Enorpel-
stückes an. Als Beispiel dieser letzteren jedoch führt er die
Trennung des Hammers von dem M e c k e Fschen Knorpel und die
des Processus stjloideus von dem Os hjoideum an. Nun
sollen diese beiden Vorgänge, welche von Bruch als Beispiel
einer Trennung angegeben sind, nicht als eigentliche Gliederungs-
vor^nge, sondern als Involutionsvorgänge angesehen werden.
Med. Jahrbücher. 1837. 20 (^7>
236 Gradenigo.
Kölliker erwähnt, dass Hammer and Ambos zur Zeit
des Auftretens des Knorpels im Embryo schon getrennt sind. Was
die Skeletelemente der Extremitäten anbetrifft, hebt er hervor,
dass jeder Knorpel vom ersten Anfange an selbstständig und ohne
Zusammenhang mit den Nachbarknorpeln sich anlegt, zugleich
aber auch von seinem ersten Entstehen an mit seinen Nachbarn
durch die gleichzeitig mit ihm deutlich werdende Gelenkanlage
vereinigt ist.
Oliederungsvorgänge eines einzigen Knorpelabschnittes finden
meinen Wahrnehmungen gemäss an zwei Stellen, nämlich an der
Lamina stapedialis und an dem Hammer-Ambos-Gklenk statt.
Bei menschlichen Embryonen, 4 und 4V2 Cm. Länge, sind
die schon vollkommenen knorpeligen Hammer- und Amboskörper
noch auf einer kurzen Strecke den künftigen Gelenkoberflächen
entsprechend , miteinander vereinigt (Urbantschitsch^'),
Salensky^*), Gradenigo). Die Vollendung der Trennung geht
in einem späteren Stadium vor sich hin. ^)
Auch die knorpelige Wand der periotischen Kapsel bietet
nns einen wichtigen Gliederungsvorgang, welchen zuerst G r u b e r ®^)
bei den Säugethieren beobachtet hat. Die Lamina stapedialis
differenzirt sich rund herum bei menschlichen Embryonen von der
übrigen vestibulären Wand zur Zeit als diese Theile schon durch
echtes Knorpelgewebe dargestellt werden.
Auf Grund dieser Thatsachen und auf die Resultate des
Studiums der unteren Wirbelthiere gestützt, wo öfters die Gliederung
eines einzigen Knorpelstückes vorkommt (Huxley, Parke r)>
scheint es mir berechtigt zu sein, daraus zu schliessen, dass, ob-
wohl die einzelnen Knorpelstücke von ihrem Auftreten an schon
getrennt erscheinen, in besonderen Fällen eine nachträgliche
Gliederung eines Knorpelabschnittes stattfindet.
Y) y er schmelzungs Vorgänge. Verschmelzungsvorgänge
der Skeletelemente können vor und nach dem Auftreten des Knorpels
vorkommen.
Als vorknorpelig angelegte Skeletelemente vereinigen sich
*) Das Verbleiben einer partiellen malleo-innrdalen Synchondrose imrde
Yon mir bei Menachen auch in einem Entwicklnngsetadinm, wo schon die beiden
KnOcbelchen fast yollständig knöchern waren, mit Bestimmtheit nachgewiesen.
(78)
Die embryonale Anlage des Mittelohr«s : die morphologisclie Bedentnng etc. 23 7
die distalen Enden des ersten Kiemenbogens miteinander, die
distalen Enden des zweiten Kiemenbogens mit dem Basi hyale
(Os hyoideum), die proximalen Enden des zweiten Kiemenbogens
mit der Anlage der Kapsel, die Anlage der periotischen Kapsel
selbst mit den Skeletelementen der Schädelbasis.
Was die Verschmelzung von früheren getrennten Knorpel-
theilen anbelangt, sind die Autoren überhaupt geneigt, eine
solche anzunehmen.
Bruch ^*) drückt sich in folgendem Sinne aus: Das appo-
sitionelle Knorpelwachsthum führt öfters zur Verschmelzung zweier
Knorpelstücke, z. B. entwickeln sich die Domfortsätze durch
Verschmelzung zweier sich entgegenwachsenden Knorpelflächen.
Ebenso entsteht (pag. 16) das Brustbein durch Verschmelzung zweier
seitlicher Hälften zu einem Knorpelstücke, desgleichen der Schild-
knorpel (pag. 19)» Die Verschmelzung erfolgt durch Entgegenwachsen
unter Bildung einer bald verschwindenden Eaphe.
Und Schulin''*) fügt hinzu: Nicht sich trennen, sondern
vereinigen wollen sich die Primordialknorpeln. Sie erreichen ihr
Ziel aber nur in sehr verschiedenem Grade, vollkommen bei Men-
schen wenigstens fast nur an den von Bruch angegebenen SteUen.
Aus meinen Beobachtungen geht hervor, dass auch im
Mittelohre knorpelige Verschmelzungs Vorgänge normal vorkommen.
Die zwei Knorpelstücke wachsen einander entgegen, die Grenz-
schichten verschwinden allmälig, bis die eigentlichen Knorpel-
gewebe unter Bildung einer Raphe mit einander sich vereinigen.
Im Mittelohre sind die Verschmelzung des Stapedialringes mit der
Lamina stapedialis und die des übriggebliebenen proxi-
malen Stückes des Hyoidbogens (Reich er tischen Knorpels)
mit dem Processus perioticus posterior zu beobachten.
Bemerkenswerth ist es, dass die Lamina stapedialis keine eigent-
liche tympanale Grenzschichte besitzt, und da^s sie theilweise
einen Involutionsvorgang eingeht.
Ich kann daher Bruches und Schulin's Ansichten ver-
theidigen, nach welchen das Vorkommen von Verschmelzungen
zweier gesonderter Knorpelstücke angenommen wird.
Es geschieht also durch eine Reihe von Involutipns- , Glie-
derungs- und Verschmelzungsvorgängen, dass das einfache pri-
20* <^^>
238
Gradenigo.
mordiale Skelettypus des Embryos sich in das complicirte Typus
des erwachsenen Thieres umwandelt. Die meisten dieser Vorgänge
vollenden sich in einem vorknorpeligen Stadium, einige beginnen
jedoch im vorknorpeligen Stadium und vervollständigen sich erst
nach dem Auftreten des Enorpelgewebes ; nur ausnahmsweise be-
ginnen dieselben zur Zeit, wo die Verknorpelung schon ent-
standen ist.
Wir können kurz die obige Darstellung der Vorgänge, die
im Mittelohre stattfinden, in folgender Weise resumiren:
UmwandlnngsTorgänge des primordialen Skelettypus des
Mittelohres.
Art der um-
wandliuigsvor-
g&nge
Vorknorpelige Skeletelemente
Knorpelige Skeletelemente
a) Involntions-
Yorgftnge
Resorption :
a) Abschnitt der periotischen
Kapsel dem mnden Fenster
entsprechend.
b) Proximales Stftck des
Hyoidbogens (i n t e r-h j a 1 e).
Theile der Lamina stape-
dialis, des Hecke Tschen und
Reich er t'schen Knorpels
ß)Gliedenxng8"
vergangne
(Zur Zeit der Yerknorpelnng)
a) Trennung des stapedialen
Ringes.
b) Partielle Oliedening des
Hammers vom Ambos.
a) Differenzimng der Lamina
stapedialis.
b) YoUendnng der Trennung
des Hammers vom Ambos
•f) Verschmel-
snngsYorgänge
a) Distale Enden des ersten
Kiemenbogens miteinander.
b) Distale Enden des zweiten
Kiemenbogens mit dem
Basihyale.
c) Proximale Enden des
zweiten Kiemenbogens mit
der Anlage der Kapsel.
d) Kapsel mit der Schädel-
basis.
a) Annnlus mit Lamina
stapedialis.
b) Proximales Endstück des
Hyoidbogens mit dem Pro«
cessus perioticns po-
sterior
Wenn wir die erwähnten Umwandlungen berücksichtigen,
dürfen wir das Auftreten des eigentlichen Enorpelgewebes bei
<80)
Die embryonale Anlage des Mittelohree : die morphologische Bedeutung etc. 239
den embryonalen Skeletelementen nicht als einen Vorgang an-
sehen, welcher eine specielle, von den Vorhergehenden getrennte
Entwickinngsperiode auszeichnet, sondern blos als ein Kennzeichen,
dass die mehr axial gelegenen Zellen der vorknorpeligen Anlage
einen bestimmten Reifegrad geworben haben ; zwischen den ein-
fachen Zelleuanhäufnngen und dem eigentlichen Knorpel gibt es
einen aUmäligen und vollständigen Uebergang.
Sowohl vor als nach dem Auftreten des Knorpelgewebes
wächst und verändert sich die Skeletanlage, sowohl vor als nach
diesem Auftreten bleibt die Verwandtschaft der Zellen der Skelet-
anlage und denen des Bindegewebes eine innige.
WacbsthuiB des Knorpelgewabas. — Grenzschiohta und chandrogeRe Zaae.
Das Knorpelgewebe entsteht in den älteren axialen Ab-
schnitten der vorknorpeligen Anlage, welche keine Involutions-
vorgänge erfahren, als ob es einen bestimmten Reifegrad dieser
Abschnitte darstellt; die Knorpelzellen verlieren sich allmälig in
der Peripherie und gehen in die Zellen, welche die Ueberreste
der primitiven Anlage bilden, über. — Die vorknorpelige Anlage
selbst aber, welche in den allerersten Entwicklungsstufen durch
direete Differenzirung des mesoblastischen Gewebes selbst ent-
standen ist, wächst und vollendet sich fortwährend auch in späteren
Entwicklungsstadien, hauptsächlich durch Apposition neues, peri-
pherisches Oewebes, die Zellen des Bindesgewebes nehmen allmälig
die Anordnung und die Charaktere der Zellen, welche die vor-
knorpelige Anlage zusammenstellen, an. Wir treffen daher um die
einzelnen Knorpelkerne herum, zur Zeit ihres ersten Auftretens,
eine besser gefärbte peripherische Schichte, Grenzschichte;
und da einerseits die Zellen des Knorpels in die Zellen der vor-
knorpeligen Anlage und andererseits diese letztere in die Zellen
des anliegenden Bindegewebes allmälig übergehen, können wir
in der Grenzschichte einen Uebergang von den echten Knorpel-
zellen zu den Bindegewebszellen constatiren.
Im Allgemeinen stimmen die Autoren in der Annahme tiber-
ein, dass das Wachsthum des Knorpelgewebes in den ersten
embryonalen Perioden nicht nur durch interstitielle Vermehrung
der Zellen ; sondern auch durch eine Art Apposition stattfindet.
(81)
240 Gradenigo.
9
Brnch ^®) meint sogar, und ich kann seine diesbezüglichen An-
sichten nicht theilen, dass durch Intassusception sich ausschliess-
lich die Intercellolarsubstanz vermehrt, und dass die Vermehrung
der Zellen blos durch appositionelles Wachsthum statthat.
Je mehr in den späteren Entwicklungsstadien die Skelet-
elemente allmälig die Form, welche man beim Erwachsenen trifft,
gewinnen, vermindert sich die In- und Extensität des appositio-
neilen Wachsthums der Grenzschichte, und der echte Knorpel
dehnt sich immer mehr aus. Die Grenzschichte wird daher
schmäler, die sie zusammensetzenden Zellen werden länglich,
spindelförmig, und nehmen nach und nach eine specielle faserige
Beschaffenheit an, durch welche, sowie von den Knorpel-, als
auch von den Biudegewebszellen sie sich unterscheiden lassen.
Wir haben jetzt schon die faserige Schichte des Perichondriums
angedeutet, und können daher nicht mehr über ein appositionelles
Wachsthum Bede halten.
Kassowitz^'^) schreibt in seiner wichtigen Arbeit über die
Verknöcherung dem Knorpel nur bei den ersten embryonalen
Perioden ein appositionelles Wachsthum zu. — Sobald aber ein-
mal die definitive Form der Skelettheile annäherungsweise vor-
gebildet ist, erfolgt nach Kassowitz das Wachsthum des Skelet-
knorpels und auch jede weitere Formveränderung ganz allein
durch innere Vorgänge.
Wenn man in der oben besprochenen Weise die Wachs-
thumsvorgänge der embryonalen Knorpel auffasst, wird die B&-
deutung der Grenzschichte klar, über welche in der jüngsten
Zeit abweichende Behauptungen geäussert wurden.
Die Grenzschichte wurde zuerst von Henke und R e y h e r *®)
studirt, welche sie nicht als eine Wucherungsschichte ansahen.
Bernays*®) beschreibt genau in einer wichtigen Arbeit
über die Entwicklungsgeschichte des Kniegelenkes
des Menschen die Grenzschichte des embryonalen Knorpels
und bemerkt hierbei, wie die Carminreaction , insbesondere mit
schwacher Vergrösserung , diese Grenzschichte gut zu markiren
geeignet ist. In ihr findet er Entwicklungsstufen von Knorpel-
zellen, und hält deshalb diese sich unter Carmin stark roth
färbende perichondrale Schichte als eine Wucherungszone, auf
(82)
Die embryonale Anlage des Mittelohiei : die morpliologische Bedeutang etc. 241
deren Kosten der Knorpel wäclist. Er bezeichnet diese Grenz-
schichte als chondrogene Schichte und bemerkt, dass diese bis
znm spätesten embryonalen Leben sich behält.
N a g e 1 ^^) theilt diese Ansichten B e r n a 7 s\ Die allmäligen
Uebergänge der Knorpelzellen in die anliegenden indifferenten
Bindegewebszellen wurde auch von Stieda^^) als ein Zeichen
des noch immer fortwährenden Wachsthums des Knorpels ange-
nommen.
Nach Schulin^^) indess stellen die Orenzschichten kdne
chondrogene Zone im Sinne Bernays^ dar. Sie stellen vielmehr
den Endpunkt des appositionellen Knorpelwachsthums dar. — Man
findet sie auch im fertigen Knorpelgewebe, welches im Gegen-
satz zum embryonalen kein Carmin annimmt, aber von einer sich
lebhaft mit Carmin färbenden Grenzschichte umgeben ist, welche
längliche Körperchen enthält und den allmäligen Uebergang zu
benachbartem Bindegewebe bildet.
Die Erklärung solcher bedeutender Abweichungen der
Meinungen Bernays' und Schulin's dürfte meines Erachtens
im folgenden Satze S c h u 1 i n's zu ersehen sein (pag. 257) :
i,An solchen Stellen, wo die Knorpeln appositioneil wachsen,
findet man auch bei schwacher Yergrösserung nicht scharf abgesetzte
Zonen mit kleinen, rundlichen, sich lebhaft färbenden Zellen,
welche allmälig in sehr kemreiches Bundzellengewebe übergehen.
Wenn dann die Apposition aufhört, bildet sich als
Endproduct die beschriebene Grenzschichte."
Offenbar bezeichnet Sc hui in mit dem Wort Grenzschichte
eher als die Zonen „mit kleinen, rundlichen, sich leb-
haft färbenden Zellen" (die eigentliche chondrogene
Schichte Bernays"), das Endproduct von diesen, „welches
sich auch im fertigen Knorpelgewebe vorfindet."
Nach solcher Deutung entspricht die Behauptung Schul! n's,
dass die Grenzschichte keine chondrogene Schichte darstellt, voll-
kommen den Beobachtungsthatsachen. Diesen Thatsachen gemäss,
gehört der Grenzschichte nur bei den ersten embryonalen Stadien
die Bedeutung einer Wucherungszone, die zu dieser Zeit als die
Eeste der vorknorpeligen Anlage, welche fortwährend appositioneil
wächst, angesehen werden kann. In diesen Stadien ist in der
(83)
242 Gradenigo.
That ein allmäliger Uebergang zwischen den Knorpeln und des
Bindegewebszellen zu bemerken.
In einem späteren Stadium, wenn die Knorpelabschnitte
schon annähemngs weise die Form, welche beim Erwachsenen tn-
zntreffen ist, darbieten, verwandelt sich die chondrogene
Schichte zn einer dünnen faserigen Schichte, dentlich vom Knorpel
als anch von dem anliegenden Bindegewebe gesondert ; in diesem
Stadium besitzt sie kein chondrogenes Vermögen.
Die Anlagen dar fielanke.
Was die Entwicklung der Gelenke anbelangt, werde ich
nur auf einige Thatsachen hinweisen, welche sich zu der ersten
Gelenkanlage beziehen, da die Behandlung ihrer weiteren Aus-
bildung mit dem Studium yon embryonalen Stadien, wo die Ver-
knöcherung des primordialen Skelets schon aufgetreten ist, zu-
sammenhängt.
Im Mittelohre treffen wir drei in etwas verschiedener Weise
sich entwickelnde Gelenke, das Gelenk des langen Ambosschenkels
mit dem lateralen Band des Annulus stapedialis, das stapedio-
vestibuläre Gelenk und das Hammer- Ambosgelenk.
Zwischen dem Ende des langen Ambosschenkels ^) und dem
stapedialen Bing verlängern sich noch vor dem Auftreten des
Knorpels die respectiven Grenzschichten, welche später allmälig
dünner werden und faserige Beschaffenheit bekommen.
Die knorpelige Lamina stapedialis ist indess vom
Anfang an Eins mit der übrigen vestibulären Wand, und um ihre
Umrandung herum bildet sich das Ligamentum anulare, haupt-
sächlich durch Hineinbringen von faserigen Elementen der nach-
baren Grenzschichten.
Das Hammer- Ambosgelenk , bei welchem die Gelenkfläche
allmälig nach dem Auftreten des Knorpels durch die Verlängerung
der Grenzschichte getrennt werden, könnte, was seine Entwick-
lungsart betrifft, als intermediäre zwischen dem stapedio-incudalen
Gelenk (wo die Grenzschichten von Anfang an die noch vorknor-
') Ich wül eigentlich betonen, dass zn dieser Zeit keine Spnr eines ge-
trennten Enorpelabschnittes zn sehen ist, welcher dem Os sylviannm ent-
spricht
(84)
Die embryonale Anlage des Mittelolires : die morphologifiche Bedeutung etc. 243
peligen Skelettheile trennen) und dem stapedio-yestibnlaren Gelenk
(wo diese Trennung erst nach der Verknorpelung erfolgt), ange-
sehen werden.
Bei allen diesen Gelenken können wir jedoch constatiren,
dass es die Elemente der Orenzschichte sind, welche die Anlage
der Gelenkkapsel bilden.
Die Oelenkflächen des Hanmiers und des Ambosses, welche
beim Embryo annähernd die complicirte Oestalt, die man beim
erwachsenen Individuum trifft, darbieten, würden allein genügen
zu beweisen, dass die Lehre F i c k's, nach welcher die Form der
Gelenkflächen in Beziehung zu den Muskelwirkungen zu stellen
wäre, wenigstens fllr die früheren embryonalen Perioden, nicht
als anehmbar betrachtet werden kann.
Die primitive Form der Gelenkflächen soll ausschliesslich
in Beziehung zu den autogenetischen Vorgängen gebracht werden.
Wenn wir die hauptsächlichen Ergebnisse, welche aus dem
Studium der knorpeligen Skeletelemente im Mittelohre zu ent-
nehmen sind, kurz resumiren, so ist Folgendes zu bemerken:
I. Die Verknorpelung der einzeken primitiv angelegten
Skeletelemente erfolgt nicht zu gleicher Zeit.
n. Die Zeit des Auftretens des Knorpelgewebes hängt haupt-
sächlich von bestimmten ontogenetischen Vorgängen ab. — Die
Skeletelemente, welche in späteren Entwicklungsperioden keine
merklichen Veränderungen eingehen, werden zuerst knorpelig.
in. Das einfache primordiale Skelettypus erfährt eine Reihe
Umwandlungen, um die complicirte Gestalt des erwachsenen
Skelettypus anzunehmen. Die meisten dieser Umwandlungen voll*
enden sich in einem vorknorpeligen Stadium ; einige jedoch gehen
auch zur Zeit vor sich , wo das Enorpelgewebe schon aufge-
treten ist.
rV. Diese Umwandlungen des primordialen Skelettypus können
im allgemeinen:
a) von Involutions-,
ß) von Gliederungs-,
Y) von Verschmelzungsvorgängen
repräsentirt werden.
(85)
244 Gradenigo.
y. Das Auftreten des eigentlichen Knorpelgewebes stellt
keine specielle, getrennte Entwicklungsperiode dar : zwischen den
einfachen Zellenanhäufungen der vorknorpeligen Anlage und dem
echten Knorpel gibt es einen allmäligen Uebergang«
VI. Das Knorpelgewebe wächst, bei den ersten embryonalen
Stadien, nicht nur durch Vermehrung der ihn zusammensetzenden
Zellen , sondern auch wesentlich durch Apposition. — Die soge-
nannte Grenzschichte soll nur in diesen ersten Stadien als
eine Wucherungszone angesehen werden (chondrogene
Schichte).
Vn. Die Anlage der Gelenke wird yon den Elementen der
Grenzschichte dargestellt. Die primitive Form der (^elenkflächen
soll ausschliesslich in Beziehung zu ontogenetischen Vorgängen ge-
bracht werden.
n.
Die Lehre der Entwicklcing des Mittelohres und
der periotischen Kapsel.
Hammer und Ambos. — Deckknochen.
Zur Erklärung der Entwicklungsweise des Hammers und
des Ambosses werden in der Literatur die verschiedensten An-
sichten angestellt.
Valentin^—^) unterscheidet am proximalen Ende des mandi-
bularen Knorpels drei Abschnitte: das hintere Stück, welches mit
dem Schädel verschmilzt; das mittlere Stück, welches die Grundlage
für den Steigbügel und den langen Schenkel des Ambosses liefert,
dessen kurzer Fortsatz mit dem zweiten Eäemenbogen zusammenhängt ;
die übrige Enorpelmasse geht dann in den Hammer und den M eck ei-
schen Knorpel über.
Reichert^) hat in einer dassischen Arbeit über die Meta-
morphosen der Kiemenbogen der Wirbeltbiere eine wich-
tige Lehre aufgestellt. Nach derselben lässt der mandibulare Knorpel
drei Abschnitte an sich erkennen : der hinterste, mehr häutiger Natur
und noch in formeller Entwicklung begriffen, nimmt gar keinen Antheil
an der Bildung der Gehörknöchelchen ; der mittlere bildet die Anlage
fUr den Ambos ; der zuerst sich entwickelnde lange Ambosfortsatz legt
sich an die äussere Seite des knorpeligen Hyoidbogens ; - der kurze
(86)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentung etc. 245
Fortsatz entwickelt sich später. Der Hammer geht aus dem dritten
vordersten Abschnitte hervor.
Magitot und Robin ^^) nehmen an, dass der Hammer sich
aus dem ersten Eiemenbogen entwickelt. Sie betrachten jedoch den
Ambos als ein unabhängig entwickeltes Gebilde.
Huxley, welcher zuerst die Lehre Reichert's angenommen
hatte *<>), kam später von derselben ab ^^"2'), und, sich vorzugsweise
auf Ergebnisse des Studiums der vergleichenden Anatomie stützend,
stellte er eine neue Lehre auf. Nach Huxley bildet der Hammer
mit seinem gegen unten gekrümmten Handgriff das proximale Ende
des mandibularen Bogens. Der Ambos stellt hingegen das proximale
Ende des Hyoidalknorpels dar.
Parker 2»—«») bestätigt und erweitert die Lehre Huxley*s
auf Grund einer Reihe erschöpfender Arbeiten über die vergleichende
Embryologie, welche in Philosophical und Zoological Trans-
actio US veröffentlicht, und später in einem meisterhaftem Werke
über die Morphologie des Schädels der Wirbelthiere resumirt wurden.
Semmer*^) spricht sich bezüglich der Herkunft; des Hammers
und des Ambosses zu Gunsten der Reichert'schen Lehre aus.
Hunf^^^^^) ist geneigt fOr den Ambos eine gewisse Entwick-
Inngsunabhängigkeit von den Kiemenbogen anzunehmen.
Salensky^'^) nähert sich der Reichert'schen Ajischauung:
„Bei der Bildung des Hammers und des Ambosses nimmt allein der
erste Schlundbogen Theil ; der zweite Bogen, im Gegensatz zu der Be-
hauptung von Parker spielt hierbei gar keine Rolle. Schon in
ziemlich frühen Entwicklungsstadien trennt sich von dem ersten
Eiemenbogen ein hinterer Theil ab, und stellt die Anlage des Ambosses
dar, während der übriggebliebene vordere Theil zur Anlage des Ham-
mers nebst MeckeTschen Knorpels wird.^
Der Vorgang, nach welchem Hammer und Ambos sieh von dem
Mandibularbogen abgliedern, ist von Salensky folgendermassen be-
schrieben :
„Die Veränderungen im ersten Visceralbogen erweisen sich
erstens in der Verdickung und in der Krümmung des proximalen
Endes desselben, und zweitens in der Bildung von zwei Einschnitten,
welche die Grenze verschiedener Theile des künftigen Malleus und
Incus bezeichnen. Durch diese beiden Furchen theilt sich der proxi-
male Abschnitt des ersten Visceralbogens in drei Theile, von denen
der hintere durch eine Art Ligamentum mit dem entsprechenden Theil
des Reich er tischen Knorpels verbunden ist. Die^ vollständige Ab-
trennung lässt nicht lange auf sich warten. Die Theilung geht gerade
durch die hintere von den früher beschriebenen Furchen. Die Anlage
des Ambosses stellt somit in den früheren Stadien, da sie noch mit
dem M e c k e Tschen Ejiorpel continuirlich verbunden ist, eine dreieckige
(87)
246 Gradenigo.
Platte vor, in welcher wir nur den ProcessiiB longns und einen
Theil des Corpus incndis erkennen können. Nach der Abtrennung
hat sie aber schon die Anlage des Processus brevis, welche in
horizontaler Richtung vom Corpus abgeht, und an der Ohrkapsel sich
befestigt.
Der nach der Abtrennung des Ambosses noch gebliebene Theil
des Meokerschen Knorpels stellt die Anlage des Hammers und des
MeckeTschen Knorpels dar. Die mittlere Verdickung des M eck ei-
schen Knorpels wächst jetzt etwas nach unten zu, rundet sich ab und
stellt nun eigentlich die Anlage des Capitulum und des Manu-
brium mallei dar. Sie ist jetzt durch eine schmale und ziemlich
tiefe Furche von der vorderen Verdickung getrennt. Wie es scheint,
spielt diese letztere bei der Bildung des Hammers keine Rolle und
später wiri dieselbe vollkommen ausgeglichen. **
Fräser'^) vertheidigt, auf Grund embryologischer Untersuchung,
die Lehre Huzley's.
Wenn wir die Meinungen der verschiedenen Autoren über die
Derivation des Hanmiers und des Ambosses miteinander vergleichen,
so können wir im Allgemeinen zwei Lehren unterscheiden, die sich
noch heute das Terrain streitig machen.
Nach der Einen entwickeln sich aus dem ersten Kiemenbogen
HammerundAmbos (Valentin, Reichert, Semmer, Salensky);
nach der anderen geht der Hammer allein aus dem ersten Kiemen-
bogen hervor, und dessen Handgriff repräsentirt das proximale Ende
dieses letzteren ; der Ambos hingegen stammt ans dem zweiten Kiemen-
bogen und bildet das proximale Ende desselben (Huxley, Parker,
Fräser).
Ich gehe nun zu kurzer Schilderung der Resultate meiner
eigenen, in der ersten Abtheilung ausführlich dargestellten Unter-
suchungen, über.
Die erste Andeutung der Skeletgnmdlage der Kiemenbogen
erscheint in der Form einer isolirten Anhäufung kleiner, runder
Zellen, zur Zeit als im Embryo nur die ersten Andeutungen der
Wirbelkörper und der periotisehen Kapsel als Skelettheile vor-
handen sind. Die Lage dieser Zellenanhäufung lässt sie als den
Vertreter eines proximalen Stückes des ersten Kiemenbogens be-
trachten. In diesem Stadium sind absolut keine deutlichen Spuren
des zweiten Bogens bemerkbar.
Später, wenn der Mandibularzellenstrang (knorpelartiger
Visceralstreifen Reichert's, häutiger Bogen Kölli-
ker's) schon deutlich in dem ganzen mittleren Theil des betreffen-
(88)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeatang etc. 247
den Eiemenbogens gesondert erscheint, breitet sich sein proximales
Ende ans , ohne jedoch dentliche Umrisse zn zeigen. Zu dieser
Zeit ist der vorknorpelige Hyoidbogen in seinem ganzen Umfange
ziemlich scharf begrenzt und sein mit der Anlage der perio-
tischen Kapsel in Verbindung tretendes proximales Ende lässt
den Annnlus stapedialis erkennen.
Namentlich an den Frontalschnitten kann leicht beobachtet
werden, dass eine Schichte von embryonalem Gewebe die zwei
respectiven proximalen Enden yon einander trennt.
In einem späteren Stadium, wenn der Mandibularbogen in
seiner grössten Ausdehnung Charaktere eines reifen Knorpels
bietet, lassen sich in der Gewebsmasse, welche im yorigen Stadium
das proximale Ende des Mandibularbogens dargestellt hat, die
knorpeligen Körper des Hammers und des Ambosses erkennen.
Der Hammerkörper, welcher sich nach vorne in den M eck ei-
schen Knorpel verlängert, bietet wie jener, das Aussehen eines
reifen Knorpelgewebes dar.
Das Knorpelgewebe erscheint am Amboskopf weniger reif
als am Hammer.
Zwischen Hammer und Ambos ist auch in knorpeligem Zu-
stande eine partielle Vereinigung der Gelenkflächen zu sehen. —
Sowohl von dem Körper des Hammers als auch von jenem des
Ambosses gehen nach unten zwei Fortsätze ab: der Hammergriff
und der lange Ambosschenkel, die ein umsoweniger reifes Gewebe
zeigen, je weiter man unten gegen das Ende zu fortschreitet.
Nach hinten von dem Körper des Ambosses geht in ähnlicher
Weise der kurze Fortsatz ab. Der lange nach unten und medialwärts
gerichtete Ambosschenkel biegt sich stark an seinem Ende und tritt
in ein inniges Verhältniss mit dem lateralen Rand des aus dem
zweiten Kiemenbogen hervorgegangenen Annulusstapedialis.
In diesem Stadium ist keine Spur eines lenticularen
Abschnittes (Os. Sylvianum) zu sehen.
Aus den von mir gewonnenen Resultaten erhellt,
dass sowohl der Hammer wie der Ambos als Deri-
vate des ersten Kiemenbogens angesehen werden
dürfen. Der Körper des Ambosses stellt das proxi-
male Ende des mandibularen Bogens dar.
(89)
248 Gradenigo.
Ich kann daher die Lehren Yalentin'B, Reichert's nnd
Salensky's in ihren allgemeinen Zügen bestätigen; ich sehe
mich aber veranlasst, einige^ wichtige Details anders aufzufassen.
Ich konnte in keinem Eiftwicklnngsstadinm, weder vor noch
nach dem Auftreten des Enorpelgewebes , die Gegenwart jenes
proximalen Abschnittes des Eiemenbogens nachweisen, welcher
nach Valentin und Reichert einen Jnvolutionsvorgang ein-
geht, und an der Bildan^^^^«4er GehSrkoQi^eleheft keinen Antheil
nehmen soll. Meine Upitirsuchungen haben ergeben,^ fbuv. das pro-
ximale Ende des uMmdibularen Bogens seit seinem ersten 3|«f-
treten von der Anlage der periotischen Kapsel getrennt ist. Auch
kann von eineiia eigentlichen Zusammenhang zwischen dem Hyoid-
bogen und dem kurzen Fortsatze des Ambosses (Valentin) nicht
die Rede sein.
.ferner scheint die Erklärung Säle nsky's über die von
ihm beobachteten Thatsachen nicht ganz richtig zu sein. ^)
Auf Orund meiner Wahrnehmungen kann ich die Angabe
Salensky's, dass der mandibulare Zellenstrang sich an der
Anlage der periotischen Kapsel befestigt, nicht bestätigen. Eben-
falls konnte ich nicht constatiren, dass die proximalen Enden
der beiden Bogen miteinander durch embryonales Gewebe ver-
bunden sind. — Ein Blick auf die Fig. 5 und 6 zeigt, dass aller-
dings zwischen diesen Enden eine Schichte von embryonalem
Bindegewebe vorhanden ist ; dasselbe kann aber absolut nicht als
ein Verbindungselement angesehen werden, da es mit dem übrigen
mesodermatischen Gewebe identisch ist.
Femer habe V^h die Einzelheiten in der Trennung des
Hammers vojsi Ambos, wie diese von Salensky aufgefasst
wordeii sind nicht bemerken können.
Schon die einfache Prüfung der von Salensky") ange-
gebenen Figuren, zur Erklärung dieser £^ntwicklungsweise der
Gehörknöchelchen, lässt den Verdacht aufiommen, dass die von
ihm erlangten Resultate zum Theil der Von ihm angewendeten
Präparationsmethode zuzuschreiben seien. 'In seiner Fig. 4 z. B.
') Wenn man die Arbeü S a 1 e n s k y's dnrdmimmt, mnss man annehmen,
dass Salensky anck die yorknorpelige Anlage als Knorpel beseichnet.
(90)
Die embryonale Anlage dea Mittelohrea : die morphologische Bedeutung etc. 249
erscheint die ganze Anlage des Hammers kleiner als der kurze
Fortsatz des Ambosses ; der lange Ambosschenkel wird in Fig. 3
länger als in Fig. 4 abgebildet, welche letztere eine spätere Ent-
wicklungsperiode darstellt.
Abgesehen jedoch von einigen Missverhältnissen in den
Zeichnungen und von der allzu schematischen Darstellung der-
selben, ist andererseits nicht zu zweifehl, dass man durch die
anatomische Pnlparationsmethode, welche Salensky geübt hat,
ähnliche Bilder bekommen kann.
„Die anatomische Präparation stellt eine ziemlich schwierige
Manipulation dar^ , wie dies auch der erfahrene Forscher selbst
zugibt. In diesen ersten Entwicklungsstadien treten die Grenzen
des Knorpels nicht sehr scharf hervor; das den Knorpel umhül-
lende embryonale Bindegewebe kann nicht vollkommen entfernt
werden. Es kann in der That auch dem vorsichtigeren Anatomen
leicht passiren, dass sammt dem embryonalen Bindegewebe auch
die Ueberreste der vorknorpeligen Anlage um die Knorpelkeme
entfernt werden.
Es war, meines Erachtens, die anatomische Präparation,
welche den Autor zu einer mit meiner nicht übereinstimmenden
Ansicht ftlhrte.
Ich kann mit Bestimmtheit behaupten, dass auch bei dem
ersten Auftreten des Knorpels eine Verbindung zwischen beiden
Enden der Kiemenbogen mittelst eines Bandes, wie dies Sa-
lensky angibt und abbildet, nicht nachzuweisen ist. In diesem
Entwicklungsstadium ist der Reich er t'sche Fortsatz schon in
einem Involutionsvorgang begriffen. Von seinem oberen knorpeligen
Endstücke, welches tiefer als der Steigbügel liegt, geht nur ein
Zellenstrang ab, der mit dem lateralen Rand des Stapedialringes
in Verbindung tritt und sich zum Theil mit der nächstliegenden
vorknorpeligen Anlage des langen Ambosschenkels verbindet.
Dieser Strang soll, meiner Ansicht nach, nur als ein bald schwin-
dender Ueberrest des Hyoidbogens angesehen werden.
Ich behalte mir vor, in dem Capitel, welches von der Mor-
phologie der Gehörknöchelchen handelt, die namentlich auf Grund
der in der vergleichenden Anatomie aufgestellten Lehren Hux-
ley's*»-") und Parker's"®^'*) durchzuprüfen und zu discutiren.
(81)
250 Gradenigo.
Ich will nur hier zwei embryologische Argumente wider-
legen, welche in einem jüngsten, durch Reichthum des Materials
und Sorgfalt der Details ausgezeichneten Werke Fraser's^^) zur
Stütze der Huxley'schen Lehre angeführt sind.
Nachdem Fräser den directen Zusanmienhang zwischen
dem proximalen Ende des Hjoidbogens und dem langen Ambos-
schenkel nicht nachzuweisen im Stande war, so nimmt er nur
auf Grund der Thatsachen an, dass beide Skelettheile in der-
selben Richtung yerlaufen, und dass sie dieselbe knorpelige
Beschaffenheit aufweisen.
Diesbezüglich will ich nur hervorheben, dass es in ganz
anderer Weise zu erklären ist, warum der lange Ambosschenkel,
der mit dem lateralen Rande des Annulus stapediales zu-
sammenhängt, beiläufig in der Verlängerung der Richtung des
Hyoidbogens zu liegen kommt. In derThat hat sich dasselbe, in
dem unmittelbar vorhergehenden Stadium bis zum benannten
Rand des Ringes fortgesetzt.
Zu Gunsten der Lehre Huxlej's spricht auch die Thatsache
nicht, dass das obere Ende des Hyoidbogens ein, dem des langen
Ambosschenkels ähnliches, Enorpelgewebe darbietet ; die Beschaffen-
heit des Enorpelgewebes steht nicht nur in Beziehung zur Zeit des
Auftretens, sondern wesentlich zu der morphologischen Bedeutung
und der späteren Bestinmiung der einzelnen Enorpelabschnitte.
Deckknochen.
lieber die Art des ersten Auftretens der meisten Deckknochen
des Schädels sind noch unsere Kenntnisse sehr mangelhaft. Die
topographischen Verhältnisse der Deckknochen, welche zu dem
mandibularen Bogen in Beziehung gebracht werden können,
wurden von mir zur Zeit ihres ersten Auftretens bei menschlichen
Embryonen studirt. Die Beschreibung ihrer weiteren Entwicklung
soll nicht in vorliegender Arbeit, welche verhältnissmässig früh-
zeitige embryonale Stadien berücksichtigt, Platz finden.
Unterkiefer (vgl. Fig. 25). Der knöcherne Unterkiefer
wurde schon von einer Reihe hervorragender Forscher, unter
welchen ich EöUiker und Stieda nenne, zum Objecto ein-
gehenden Studiums gemacht.
im
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologiscbe Bedeutung etc. 251
Im GegenBatz zu St reiz off 8 Behauptung, nach welcher es
höchst wahrscheinlich wäre, dass der ganze Unterkiefer im Knorpel-
gewebe präformirt sei, kann ich, mit Stieda übereinstimmend,
die Unabhängigkeit des Knochengewebes von dem M e c k e Tschen
Knorpel hervorheben.
Der Unterkiefer erscheint im Embryo sehr frühzeitig. Dieser
ist in seinem vorderen Abschnitte (pars alveolaris) zuerst
durch eine lange Strecke von zwei knöchernen, unten vereinigten
Lamellen (mediale und laterale) vertreten, welche einen
nach oben geöffneten Winkel begrenzen. In diesem Winkel liegen
die Zahnkeime, die Arteria und Nervus alveolaris, und
erscheinen in einem Gewebe eingebettet, welches durch seine
Zartheit von dem umgebenden faserigen Bindegewebe sich differen-
zirt. Die mediale Lamelle ist bei Menschen mit ihrer Krümmung
concentrisch zu der äusseren convexen Fläche des M e c k e Fschen
Knorpels angeordnet und bleibt von dieser in einer fast constanten
Entfernung.
Sowohl dem distalen, als auch dem proximalen Ende des
MeekeTschen Knorpels entsprechend, verschwindet nach und nach
die mediale Lamelle; die Portio coronoidea und condy-
loidea des Unterkiefers wird ausschliesslich durch die laterale
Lamelle vertreten. Sehr frühzeitig tritt ein Yerknöcherungspunkt
in dem Meckel'schen Knorpel neben der Mittellinie ein. Zur
Bildung der knorpeligen Gelenkfläche hat der M e ck e Tsche Knorpel
gar keinen Antheii.
Os squamosum (vgl. Fig. 26). Das Os squamosum
kommt in einer frontalen Ebene gleich hinter der Pars condy-
loidea des Unterkiefers und hinter dem Os jugale zum Vor-
schein, welches letztere als isolirte knöcherne Lamelle erscheint
Das Os squamosum wird gegen vorne von zwei Lamellen
repräsentirt, die eine horizontal, concentrisch der oberen lateralen
Fläche des M e c k e Tschen Knorpels gelegen, die andere vertical,
sich mit der ersten unter Bildung eines fast rechten Winkels ver-
einigend, gestellt. Die horizontale Lamelle trägt später zur Bildung
des Temporo-maxill. Gelenkes bei. An der Stelle, wo der Man-
dibularbogen in den Körper des Hammers sich fortsetzt, vereinigen
sich die zwei Lamellen zu einer einzigen, welche mit ihrer Con-
Med. Jahrbücher. 1887. 21 (-'8)
252 Gradenigo.
cavität der äusseren oberen Fläche den Hammer- Amboskörp er
lateralwärts begrenzt.
Annulns tympanicus (vgl. Fig. 26). Der tympanale
Bing erscheint in Form eines Kreises, welcher, gegen oben und
hinten, den Körpern der zwei grösseren Knöchelchen entsprechend,
nnterbrochen erscheint. Dieser Bing ist in fast sagittaler Bichtong
zwischen dem nach hinten aufsteigenden oberen Stücke des
MeckeFschen Knorpels und dem oberen, nach vorne und oben
gekrümmten Abschnitte des Beichert'schen gelegen.
Wir können zur Klarheit folgender Darstellung drei Ab-
schnitte an der Umrandung des tympanalen Binges unterscheiden :
einen Abschnitt, welcher unmittelbar unterhalb des proximalen
Stttckes des M e c k e Fschen Knorpels zu liegen kommt (vorderer
oberer Bogenabschnitt); einen Abschnitt, welcher parallel
mit dem letzten Stücke des Beichert'schen Knorpels verläuft
(hinterer Bogenabschnitt), und einen dritten Abschnitt, welcher die
zwei erstgenannten vereinigt (vorderer unterer Bogen-
abschnitt).
Es scheint mir, dass bis jetzt nicht die entsprechende Auf-
merksamkeit der schon bekannten Thatsache (M a g n u s ^^),
Baraldi^^), Schwalbe) geschenkt wurde, dass gerade der
unmittelbar unterhalb des MeckeFschen Knorpels gelegene
Abschnitt des Annulus sich durch Grösse und Gestaltung deut-
lich von der übrigen Umrandung des Binges differenzirt. Dieser
Abschnitt erscheint thatsächlich in Form einer gekrümmten, mit
der Concavität der unteren Oberfläche des M e c k e Fschen Knorpels
gewendeten und in einer bestimmten Entfernung von dieser ge-
legenen Lamelle. Gegen hinten zu endet diese Lamelle unmittelbar
vor der Stelle, wo der MeckeFsche Knorpel in den Hanoumer
übergeht, frei; und vorne setzt sie sich iheils mit einer ziemlich
ausgesprochenen Wendung in den vorderen unteren, zwischen dem
mandibularen und hjoidalen Knorpel gelegenen Abschnitt des
Binges fort; theils begleitet sie noch auf kurze Strecke den
Mecke Fschen Knorpel. Die beschriebene Lamelle dürfte wegen
ihrer topographischen Lage in Beziehung zum mandibularen Bogen
gebracht werden.
(94)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentxmg etc. 253
Der dünne dazwischen liegende Abschnitt des Ringes ist
verhältnissmässig knrz, da die proximalen Enden der zwei Kiemen-
knorpel nnr wenig von einander entfernt sind.
Der Hyoidknorpel convergirt proximal nach oben und vorne
gegen den mandibularen. Der Abschnitt des Ringes, welcher vor
dem R ei eher tischen Knorpel nachläuft, führt zu diesem parallel
eine Krümmung gegen oben aus und endet selbst frei, ungefähr
in der Höhe, wo der Knorpel aufhört.
Dieser hintere Abschnitt des Ringes dürfte trotz seiner topo-
graphischen Lage nicht ohne weiteres in Beziehung zu dem
Reicher tischen Knorpel gebracht werden, weil :
a) Er sich nicht durch (restaltung und Durchmesser von
dem intermediären Abschnitt des Ringes unterscheidet und yorne
in diesen übergeht;
b) er nicht gegen die Oberfläche des Knorpels concay, wie
es bei den anderen Deckknochen der Fall ist, erscheint.
c) er bei manchen Thierembryonen (Hundeembryonen) in einer
ziemlich ansehnlichen Entfernung vom Reich er tischen Knorpel
bleibt.
Der Annulus tympanicus sollte, meines Erachtens, als
einziges Skeletelement angesehen, und ausschliesslich zu den
Meckel'schen Knorpel in Beziehung gebracht werden. In ähn-
licher Weise als der andere von uns bis jetzt beschriebene Deck-
knochen (Unterkiefer, Os squamosum), besteht er aus einer Lamelle
welche durch Gestaltung und topographische Lage sich in Be-
ziehung zu den MeckeTschen Knorpel bringen lässt, und aus
einem Theile, welcher in Fortsetzung mit dieser Lamelle sich
befindet. ^)
Processus folianus seu gracilis mallei (vergl.
Fig. 26). Der Processus folianus stellt ein noch wenig be-
kanntes Gebiet der Anatomie des Hammers dar.
Robin und Magitot^*) halten ihn als knorpelig präformirt.
') Gegen die Behanptaiig einiger Autoren (Hagenbach, Baraldi^')
bemerke ich, dass in keinem Entwicklnngsstadinm der Ann. tymp. in directe
Berfihmng mit dem Heck. Knorpel tritt nnd somit keinen Druck anf lets-
teren ans&ben kann.
21 • m
254 Gradenigo.
Hageobach bemerkt dass der lange Hammerfortsatz unab-
hängig entsteht, nnd dass das beträchtlichste Wachsthum desselben zu
einer Zeit erfolgt, wo der MeckeTsohe Knorpel zu verschwinden
beginnt.
Reichert*) scheint diesen Fortsatz als einen Theil des
MeckeTschen Elnorpels zu betrachten, er drückt sich in der That
in folgender Weise aus:
„J. F. Meckel, C. H. Weber, S. Valentin u. A. führen
an, dass der MeckeTsche Knorpel über den Processus folii liegend,
von ihm selbst ganz zu trennen sei. Doch kann ich mir diese Angabe
nicht anders erklären, als dass es in seltenenFällen wegen der
mangelhaften Ossification vorkommt, dass dieselbe von den verknöcherten
Anfange nur einseitig vorschreite und so Knochen und Knorpel von
einem und demselben Theile nebeneinander liegen.^
Magnus ^^) hebt hervor, dass der Processus gracilis inten-
siver als die Knöchelchen wächst und an dem unteren Umfange des
MeckeTschen Knorpels, jedoch ohne allen Zusammenhang mit dem-
selben, bleibt. Nach ihm liegt der Fortsatz in der Nähe des Annulus
tympanicus, jedoch nicht zusammenhängend, unter oben vorsprüng-
lichen Leistchen, welches den Hals des Hammers aufnimmt (dieses
Leistchen wird von mir als vorderer oberer Abschnitt des
Annulus tympan. bezeichnet).
Nach KöUiker^^) entwickelt sich unmittelbar vor dem
Annulus tympanicus von vorne nach hinten ein Stück von verknöchertem
Bindegewebe, welches, obwohl in einer gewissen Entfernung von dem
MeckeTschen Knorpel, in einer gemeinsamen faserigen Hülle mit
diesem umgeben ist.
Aus meinen Wahrnehmungen geht hervor, dass der Processus
gracilis bei seinem Auftreten im menschlichen Embryo vorne nicht
ganz bis zum vorderen Rand des Annulus reicht und hinten frei
in der Frontalebene des vordersten Theiles des Hammerkörper, ohne
mit dem Annulus tympanicus oder mit dem Hammer in Ver-
bindung zu treten, endet. Er ist in Form einer isolirten knöchernen
Leiste, leicht concav gegen die untere mediale Fläche des M eck ei-
schen Knorpels.
Hammer und Ambos entwickeln sich aus dem proximalen Ende
des mandibularen Rogens.
Unterkiefer, Os squamosum, Annulus tympanicus und Pro-
cessus gracilis mallei können als Deokknoohen in Beziehung zum
mandibularen Knorpel gebracht werden.
(M)
Die embryonale Anlage des Mittelohr es : die morphologische Bedeutung etc. 255
Steigbügel. — Periotische Kapsel.
SteigbQgel.
Wenn die Anschauungen schon über die Entwicklungsweise
des Hammers und des Ambosses so auseinandergehen, so lässt
sich erwarten, dass die Anschauungen über die Entstehungsart
des Steigbügels — welcher wegen seiner geringen Dimensionen
und seiner tiefen versteckten Lage der Untersuchung schwer
zugänglich ist — noch verschiedenartiger seien.
Valentin^'") bringt den Steigbügel mit dem ersten Eiemen-
bogen in Beziehung.
Nach Huschke^) sollen hingegen beide EDorpel der zwei
ersten Eiemenbogen mit der Verschmelzung ihrer proximalen Endeu
zur Bildung des Stapes führen.
Burdach ^) lässt den Stapes aus der Labyrinth wand entstehen.
Nach Reichert 1^) stammt dieses Element aus dem zweiten
Eiemenbogen und ist durch eine lockere Substanz von dem Zungen-
beinstück des zweiten Bogens getrennt. Diese lockere Substanz wandelt
sich spater in den Musculus stapedius um, während der hyoidale
Enorpel als Eminentia pyramidalis der PankenhOhle angehört.
Nach Gü n t h er ^^' ^') sollte der Steigbügel nicht aus dem zweiten,
sondern aus dem ersten Eiemenbogen entstehen.
M a g i 1 0 1 und R o b i n ^^) nehmen sowie für den Ambos, als auch
für den Stapes eine gewisse Entwicklungsunabbängigkeit an.
Nach Bruch^'" ^^) soll der Stapes aus dem oberen Ende des
Hyoidknorpels entstehen.
Parker""") vertritt die Ansicht, besonders auf Grund der
vergleichenden Anatomie, dass auch bei den höheren Säugethieren der
Steigbügel aus der knorpeligen periotischen Eapsel hervorgeht.
Nach Semmer**) erscheint der Stapes in Form eines Zellen-
haufens dem proximalen Ende des Hyoidbogens entsprechend. S e m m e r
hält es für wahrscheinlich, dass der Stapes aus dem zweiten Eiemen-
bogen sich herausbildet: er kann dieses jedoch nicht mit voller Be-
stimmtheit behaupten.
Hunt^'"*^) theilt nicht die Parker'scheu Ansichten und ist
geneigt, die Unabhängigkeit des Steigbügels, sowohl von den Eiemen-
bogen, als auch von der capsularen Wand anzunehmen.
Gruber ®0' *i) nimmt an, dass der Steigbügel, nicht aus dem
knorpeligen zweiten Eiemenbogen, sondern aus dem Eopfwirbel, und
(97)
256 Gradenigo.
zwar ans derselben Bildungsmasse entsteht, aus welcher sieh die
Labyrinthkapsel entwickelt.
Nach Salensky^^) entwickelt sich der Stapes unabhängig
Ton den anderen Gehörknöchelchen. Der Steigbflgel erscheint in Form
eines Zellhanfens um einen, von ihm als Arteria mandibularis
bezeichneten, arteriellen Ast, bekommt später die Form einer trapezoiden
Platte, welche sich hiemach in eine fünfeckige und endlich in eine
glockenförmige yerwandelt.
Die Arteria mandibularis biegt sich um eine rinnen-
f^rmige Aushöhlung des Torderen Stapesschenkels und durchlöchert den
Stapes. Nach Salensky trägt das proximale Ende des Hyoidbogens
zur Bildung des Stapes nicht bei, es ist indess mittelst eines Ligaments
mit den proximalen Ende des ersten Eiemenbogen verbunden.
Nach Fräser^*} erscheint der Stapes in Form eines gefärbten
ein Oefäss umgebenden Ringes, und ist somit von der Labyrinthwand
und Ton dem zweiten Eiemenbogens unabhängig.
Eölliker^^) spricht sich nicht zu Gunsten einer bestimmten
Theorie aus, wie aus dem folgenden Satze henrorgeht (pag. 478) : „In erster
Linie bemerke ich, dass ich nach meinen bisherigen Wahrnehmungen
Parker's und J. Oruber's Angaben, denen zufolge der Steigbflgel
mit dem knorpeligen Labyrinthe ursprünglich eins sein soll und erst
in zweiter Linie von derselben sich abgrenze, nicht zu stützen vermag.
Bei Kaninchen derselben Grösse, wie diejenigen, die Grub er unter-
suchte, und bei noch etwas jüngeren fand ich den Steigbügel
schon deutlich vom knorpeligen Labyrinthe abgegrenzt und habe ich
überhaupt bisher kein Stadium gefunden, in dem Labyrinth und Steig-
bügel im ELnorpelzustande eins gewesen wären. Dagegen ist allerdings
zugegeben, dass Labyrinth und Stapes vom Zeitpunkte des ersten
Deutlichwerdens beider Theile an, durch eine ganz dünne Faserlage
so miteinander verbunden sind, wie etwa die Anlage der knorpeligen
Hippen und Wirbel oder diejenigen von Hammer und Ambos, so dass,
wenn auch nicht im Enorpelzustande, so doch möglicherweise in der
ersten weichen Anlage beide Theile zusammenhängende Gebilde sind.
Auf der anderen Seite ist es mir bis anhin auch nicht geglückt, eine
Verbindung des Bteigbügels mit dem Reich er tischen ELnorpel zu
finden, vielmehr kann ich mit voller Bestimmtheit behaupten, dass
eine solche beim knorpeligen Zustande der Theile nicht einmal durch
Bandmasse statthat, wenn auch Steigbügel und oberes Ende des
Reich er t'schen E^norpels sich sehr nahe liegen/
Wenn wir die einzelnen Ansichten über die Entstehungsart
des Steigbügels zusammenfassen, so können wir sie In folgenden
Gruppen vereinigen:
<98)
Die embryonale Anlage des MittelohreB : die morphologische Bedentong etc. 257
I. Der Stapes entwickelt sich unabhängig von den Eiemen-
bogen und der Labyrinthkapsel (Hagitot et Bobin, Hunt,
Salensky, Fräser).
n. Der Stapes entwickelt sich aus dem Eiemenapparate,
und zwar:
a) Aus der Verschmelzung der proximalen Enden der beiden
Eiemenbogen (Huschke).
b) Aus dem ersten Eiemenbogen jCValentin, G-ünther).
o) Aus dem zweiten Eiemenbogen (R e i c h e r t, B r u c h, Semmer).
m. Der Stapes geht aus der Labyrinthwand hervor (B u r d a c h,
Parker, Gruber).
Inmitten so verschiedener Theorien sind es zwei Lehren,
diejenigen, welche wegen ihres speciellen Werthes um den Sieg
kämpfen, die Eine, die wir die Reicher f sehe Lehre bezeichnen
möchten und nach welcher der Steigbügel aus den zweiten Eiemen-
bogen hervorgeht; die Andere (Parker*s und Grub er's Lehre),
wonach der Steigbügel aus der Labyrinthwand sich entwickelt.
Die Ergebnisse meiner Untersuchungen zeigen, dass der
Entwicklungsvorgang des Steigbügels in Wirklichkeit viel com-
plicirter ist, als es die verschiedenen Autoren in ihren vieUfältigen
Hypothesen hatten ausdenken können, und dass die beiden er-
wähnten Lehren nur zum Theile den embryologischen Thatsachen
entsprechen und einer gegenseitigen Ergänzung bedürfen.
Wenn wir die im ersten Theile der vorliegenden Arbeit aus-
führlich beschriebenen Vorgänge resumiren, so gelangen wir dahin
festzustellen, dass der Steigbügel des Menschen und der höheren
Säugethiere aus zwei embryologisch und morphologisch ganz ver-
schiedenen Elementen hervorgeht, und zwar:
a) erstens aus dem von dem zweiten Eiemenbogen gebildeten
Annnlus stapedialis,
b) zweitens aus der von der Wand der Labyrinthkapsel sich
differenzirenden Lamina stapedialis.
Zur Zeit als im Embryo das eigentliche Enorpelgewebe noch
nicht vorhanden ist und die einzelnen Skelettheile durch Stränge
und Anhäufungen runder, dicht aneinanderliegender Zellen dar-
gestellt erscheinen, umgiebt das proximale Ende des mit der
Anlage der Gehörkapsel in Verbindung tretenden hyoidalen Zellen-
(99)
258 Gradenigo.
Stranges einen arteriellen Gefassast (Art. stapedialis) nnd bildet
somit einen vollständigen Zellenring (Annnlns stapedialis).
DieserBing istyon dem proximalen Ende desmandi-
bnlaren Zellenstranges dnreh eine Schichte von
indifferentem embryonalem Gewebe getrennt. Er
befindet sich an der Seite der Labyrinthblase nnd hängt medial-
wärts mit der Anlage der Labyrinthkapsel zusammen, liegt hinter
der Carotis, vor dem VIL (d. h. Facialis) und vor der Vena
jngnlaris. Die Vena jngnlaris, die in diesem Stadium
seitwärts von der Labyrinthblase vorüberzieht, trennt den Stapedial-
ring von der Anlage des äusseren Bogenganges.
In einer späteren Entwicklungsphase, in welcher sich schon
Enorpelgewebe vorfindet und die Jugularvenen beiläufig jene
Lage eingenommen, die sie beim Erwachsenen beibehält, differenzirt
sich die Stelle der Geht$rkapsel , an welcher der mediale Rand
des Kinges sich anlegt, allmälig von der übrigen capsularen
Wand, und bildet eine Knorpelplatte mit einer Concavität, die
dem medialen Bande des ihr anliegenden Ringes entspricht,
Lamina stapedialis. Die DilSerenzimng erfolgt zuerst durch
eine besondere Anordnung der Zellen und später auch durch das
Hineindringen von Bindegewebselementen von der tympanalen
Seite her in das capsulare Gewebe. Die Lamina stapedialis
füllt die künftige Fenestra ovalis aus, und um ihren Rand herum
bildet sich das Stapediovestibulargelenk aus.
Die sogenannte Platte des Steigbügels wird demnach durch
das Aneinanderlegen eines Theiles des stapedialen Ringes und
eines Theiles der periotischen Kapsel gebildet.
Die Zellen der Lamina stapedialis besitzen ganz und
gar nicht die cariokinetische Thätigkeit, welche die Zellen der
anliegenden Partie des Ringes auszeichnet. Der Ring vertieft sich
nach und nach in das Gewebe der Lamina; dieselbe erscheint
dadurch dünner, ihre Zellen werden gedrängt und zum Theil
atrophisch. Andererseits tragen die Bindegewebsfasern, welche,
entsprechend dem künftigen Ligamentum annulare, von
der tympanalen Seite her in das Gewebe eindringen, dazu bei,
einen Theil der Zellen zu verdrängen. Obwohl nun die beiden
anliegenden Knorpelstücke in directe Berührung treten, dürfte eine
Die embryonale Anlage des Mittelolires : die morphologische Bedeutung etc. 259
innige VerBchmelzang der entsprechenden Gewebe nor in be*
Bchränktem Maassstabe stattfinden ; die Lamina stapedialis scheint
sogar einen Involationsvorgang einzugehen.
Der Steigbügel geht also nicht ausschliesslich, wie Reichert
lehrt, ans dem zweiten Eiemenbogen und auch nicht ausschliess-
lich, wie Parker und Grub er behaupten, aus der Labyrinth-
wand hervor; der Steigbügel ist vielmehr das Resultat dieser
beiden Elemente, und die genannten Lehren müssen eben in diesem
Sinne abgeändert werden. Was nun jenen Theil betriflft, welcher
aus dem Eiemenbogen hervorgeht, kann ich mit voller Bestimmt-
heit behaupten, dass er von dem Zeitpunkte seines ersten Deutlich-
werdens in Form eines von der Arteria stapedialis durch-
löcherten Ringes erscheint.
Es ist wohl wahr, was Eölliker, Semmer u. A.
angeben, dass, nämlich beim knorpeligen Zustande der Theile
das proximale Ende des Hyoidbogens nicht bis zum Annulus
stapedialis verfolgt werden kann ; aber ich muss betonen, dass
in einem vorhergehenden Stadium, zur Zeit als sich Enorpel-
gewebe noch nicht vorfindet, der betreffende Zellenstrang bis zum
Annulus reicht. Ich habe mich davon überzeugen können bei
15 Mm. langen Eatzenembryonen, sowohl in horizontaler Schnitt-
serie (vergl. Fig. 1 bis 4^), als auch in sagittaler Schnittserie
(vergl. Fig. 5, öA, 6) und in frontalen Schnitten.
Bei den in Rede stehenden Embryonen sind die distalen
Enden des mandibularen Zellenstranges von einander ziemlich
weit abstehend. In der Gehörblase findet man nun die erste An-
deutung des Sacculus. Der mediale Rand des Ringes hängt
bei seinem vorknorpeligen Zustande mit der Anlage der Eapsel
zusammen, jedoch nicht durch faseriges Gewebe, welches zu dieser
Zeit noch nicht aufgetreten ist, sondern nur durch Verschmelzung
der betreffenden Zellenanhäufungen. Desgleichen kann auch in
diesem Stadium von einer Verbindung des Ringes mit dem ersten
Eiemenbogen gar nicht die Rede sein, erst in einem späteren
Stadium steigt der lange Ambosschenkel gegen den lateralen Rand
^)Die ausführliche Erklänmg dieser Abbildungen ist in der ersten Abtheilnng
zu sehen.
(101)
260 Gradenigo.
des Ringes herab, nnd yereinigen sieh die Grenzsehichton der
naheliegenden Theile.
Anlangend die Form des Ringes, habe ieh in Ueberein-
stimmnng mit Fräser constatiren können, dass sie, wenigstens
in den ersten Stadien, einem vollkommenen Kreise entspricht. Da
der Ring gegen die Horizontalebene von vorne nach hinten und
von innen nach aussen herabsteigt, so trifft; ihn ein horizontaler
Schnitt in schiefer Richtung. In den untersten geführten Schnitten,
bekommt man nur seinen hinteren und äusseren Rand zu sehen,
in den mittleren Schnitten kann man den ganzen Ring schief
getroffen erhalten (s. Fig. 7).
In den oberen Schnitten kommt nur der obere mediale Rand
zum Vorschein.
Nur durch Vergleich der aufeinander folgenden Schnitte ist
es möglich, eine richtige Idee über die Gestaltung des Ringes zu
gewinnen, und umso besser, wenn man die in verschiedenen Rich-
tungen geführten Schnitte miteinander vergleicht. So kommt es
vor, dass die unregelmässige Gestaltung des von Salensky in
seiner Fig. IIa abgebildeten Ringes, dem Umstände zugeschrieben
werden muss, dass der Ring schief getroffen wurde.
Auch in meiner Fig. 7 erscheint der Ring nicht vollkommen
kreisft^rmig ; die leichten Unregelmässigkeiten seiner Contouren
können jedoch mit der schiefen Richtung der Schnittebene in
Beziehung gebracht werden; der hintere äussere Rand erscheint
in seinem obersten Theile, der vordere mediale in seinem untersten
Theile getroffen.
Auch das Aussehen des Ringes bei den Frontalschnitten
kann zu Missdeutungen Anlass geben. Eine der häufigsten Erschei-
nungen, welche zu irrthttmlichen Auffassungen führen kann, ist
das Bild des undurchlöcherten Stapes, welches man erhält, wenn
der Schnitt auf den hinteren oder vorderen Schenkel fällt, ohne
das, in diesem Stadium relativ enge. Loch zu treffen. In späteren
Stadien behält der Ring eine ziemlich regelmässige Form. Bei
Menschen kann man die Ueberzeugung gewinnen, dass in einer
Phase, wo die Involution der Arteria stapedialis fast vollständig
ist, der Ring eine ziemlich gleiche Dicke an seinem lateralen
und medialen Rande aufweist.
(102)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 26 1
Das ist in Fig. 9 und 10 (Ann. st) deutlich za sehen, bei
welchen der Bing frontal geschnitten erscheint.
Vergleiche man hingegen Fig. 11 (Menschen) und Fig. 8
(Katze), so findet man, dass die Bänder , schief getroffen , eine
verschiedene Dicke aufweisen.
Bei seiner weiteren Ausbildung yertieft sich der Bing all-
mälig in die Lamina stapedialis, welche dünner wird und
verschmilzt bald mit den Besten desselben. Erst in diesem Stadium
fängt es an, die typische Form des Steigbügels der Erwachsenen
anzunehmen.
In Bezug auf den Verlauf der Gefässe bei dem ersten
embryonalen Stadium, vermag ich nicht, die Siwlensky'schen
Anschauungen zu bestätigen.
Jenes Gefäss, welches dorsal von dem stapedialen Bing und
von dem Facialis liegt, ist, nach Uebereinstimmung aller Autoren
(Fräser, Eölliker, Parker) nicht die Carotis, sondern
die Vena jugularis.
Wie aus meiner topographischen Darstellung hervorgeht,
verläuft die Carotis in diesem Stadium längs der hinteren Darm-
wand zu beiden Seiten der Mittellinie und entspricht dem Gefasse,
welches als Art. mandibularis in den Salensky'schen
Figuren dargestellt ist.
Die Carotis ist in meinen Figuren 1 bis 4 mit C a bezeichnet.
In der Höhe der Labjrrinthblase sendet die Carotis nach hinten
und lateralwärts ein kurzes Gefässästchen ab, welches unmittelbar
unterhalb des Annulus stapedialis sich in zwei Aeste ver-
zweigt: der eine wendet sich nach oben, geht durch den Bing
hindurch um dann nach vorne gegen das Ganglion Gasseri
und das Auge hin zu verlaufen (Art. stapedialis), der zweite
Ast begleitet gegen unten den Hyoidbogen und verläuft lateral-
wärts von dem Ganglion des neunten Nervens (Art. hyoidea).
Fast in der Höhe des gemeinsamen Astes der Arteria
stapedialis und der Arteria hyoidea, trennt sich von der
Carotis eine Arterie ab (Arteria mandibularis), die mit
einer Wendung um das hintere Ende des tubotympanalen Baumes,
die Chorda tympani begleitet, und mit derselben dann in das
Gewebe des ersten Eiemenbogens eintritt.
(108)
262 Gradenigo.
Indem der cochleare Abschnitt der Labyrinthblase sich nach
vorne entwickelt, wird der Stamm der Carotis von demselben
nach unten und vorne gedrängt. Zuerst ändern sich die vascu-
lären Verhältnisse in merklicher Weise. Die A. hyoidea und
mandibularis gehen sehr frühzeitig einen vollständigen In-
volutionsvorgang ein. Auf diese Art verschwindet der gemeinsame
Ast der Art. stapedialis und hyoidea, welcher früher fast
in der Höhe des Stapedialringes aus der Carotis entsprang, und
die länger gewordene Art. stapedialis entspringt jetzt isolirt
aus der Carotis unten und vorne von der Labyrinthkapsel.
Diese zweite Art des Verlaufes der Arteria stapedialis ent-
spricht der voo Fräser beschriebenen.
Auch Salensky schreibt einen derartigen Verlauf der von
ihm bezeichneten Arteria mandibularis zu, welche der
Arteria stapedialis entspricht; aber Salensky lässt sie
von einem Gefässe abstammen, welches, wie wir oben gesehen,
als Vena jugularis anzusehen ist.
Indem ich mir vorbehalte, später die Arteria stapedia-
lis vom morphologischen Standpunkte aus zu besprechen^), will
ich hier nur hervorheben, dass es nicht richtig ist zu sagen, dass
die Arteria s t a p e d i a 1 i s den Zellhaufen durchlöchert, welcher
die erste Anlage des Steigbügels darstellt. In der That ist das
proximale Ende des Hyoidbogens dasjenige, welches von seinem
ersten Deutlichwerden an sich um die Arteria herumwindet und
auf diese Art den Ring bildet ; und da es sich von hinten, unten
und aussen gegen vorne, oben und innen herumwindet, um mit
der Anlage der periotischen Kapsel in Verbindung zu treten, so
kommt damit die oben erwähnte schiefe Lage des Ringes zu Stande.
Die Arteria stapedialis erleidet, ähnlich wie die Ar-
teria mandibularis und die Vena jugularis, einen In-
volutionsvorgang.
Indessen habe ich bei den von mir untersuchten Embryonen
nicht constatiren können, dass das Ringloch Hand in Hand mit
dem Verschwinden der Arteria enger geworden wäre, wie dies
der glockenförmig abgebildete Stapes Salensky's vermuthen
*) Vergl. V. B. d.
(104)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentnng etc. 263
lässt. Ich habe vielmehr gefunden, dass die Involntion der Arteria
keinen Einfioss auf die Gestaltung des Steigbügels ausübt.
Die von mir constatirte Thatsache, dass die Ärteria sta-
pedialisin einem der ersten Entwicklungsstadien aus der Carotis
gemeinsam mit einer Arteria entspringt, welche längs des
zweiten Eiemenbogens herabsteigt (Arteria hjoidea), und dass
in einem späteren Stadium die Arteria stapedialis mit der
hyoidea einen und denselben Stamm bildet, berechtigt uns,
diese Gefässe als analog zu jenen des III. und IV. Eiemenbogens
und zu der rudimentären Arteria mandibularis des I. an-
zusehen. Demnach ist es die Arteria des zweiten Eiemenbogens
selbst, welche den Stapes durchgeht und das wäre ein weiterer
Grund, wenn es noch eines solchen bedürfen sollte, für den Be-
weis des innigen Zusammenhanges zwischen Stapediaking und
zweiten Eiemenbogen.
Lamina stapedialis. Die Lamina stapedialis ist
derjenige Theil des Stapes, welcher sich aus der Labyrinthwand
entwickelt.
Der histologische Vorgang der Differenzirung findet beim
menschliche Embryo zur Zeit statt, als der betreffende Abschnitt
der Enorpel schon das Aussehen eines ziemlich reifen Enorpel-
gewebes bietet ; die Differenzurung beginnt zuerst oben und hinten.
— Wir haben hierin das Beispiel der Trennung eines einzigen
Enorpelstückes während der embryonalen Entwicklung.
An der Peripherie der Lamina bildet sich später das Stapedio-
yestibulargelenk ; das Ligamentum annulare entsteht nicht
nur durch Hineindrängen von faserigem Gewebe in den Knorpel,
sondern auch, was besonders deutlich bei Eatzen- und Eaninchen-
embryonen zu sehen ist, durch directe Umwandlung der zunächst
liegenden Enorpelzellen in faseriges Gewebe.
In Betreff auf die Form und der Anordnung des Ligamen-
tum a n n u 1 a r e bei Menschen kann ich die Angabe Ey sei Fs und
Buck's bestätigen.
Reichert'scher Knorpel.
Das proximale Endstück des Hyoidbogens, unmittelbar unter-
halb des Annulus stapedialis wird nie knorpelig und ver-
(105)
264 Gradenigo.
schwindet in einem späteren Stadium ganz. Das übriggebliebene
proximale Stück des Hyoidbogens reicht kaum bis znr flöhe des
Promontoriums und wird alsBeicher f scher Knorpel bezeichnet,
da Reichert zuerst in exacter Weise diesen Knorpel beim
Embryo beschrieben hat. — Nach Reichert wandelt sich ein
proximaler Abschnitt des Hyoidknorpels in den Musculus sta-
pedius um, und der übrig gebliebene Theil gehört als Em i-
nentia pyramidalis der Paukenhöhle an.
Bei einer von Fräser angegebenen Figur verbindet sich
mittelst faserigen Oewebes das obere Ende des Bei eher tischen
Knorpels mit der unteren Fläche eines periotischen Fortsatzes.
Aus meinen Wahrnehmungen habe ich die Ueberzengung
gewonnen , dass das obere Ende des Reicher tischen Knorpels
nicht in allen Fällen ein gleiches Verhalten aufweist.
Bei einem 8 Cm. langen menschlichen Embryo endet der
Knorpel stumpf und frei, und es ist nicht seine Spitze, sondern
seine laterale Fläche, welche mittelst faserigen Gewebes mit dem
periotischen Fortsatze verbunden ist (vergl. die in Figur 14 — 18
dargestellte aufsteigende Schnittserie, wo man das plötzliche Auf-
hören des Knorpels constatiren kann).
Bei 4 und 4^/a Centimeter langen menschlichen Em-
bryonen, ebenso wie in einer Reihe von Kaninchenembryonen,
habe ich unzweifelhaft constatii-en können, dass der R e i c h e r t'sche
Knorpel mit dem periotischen Fortsatze knorpelig verschmilzt,
manchmal unter Bildung einer deutlichen Raphe. Dieses darf,
meines Erachtens, als der häufigste Fall angesehen werden.
Politzer^ ^) gebührt das Verdienst, das Verhalten und die
topographische Lage des Reicher fschen Ejiorpels bei neuge-
borenen und erwachsenen Menschen untersucht zu haben.
Es würde mich zu weit fuhren , alle von ihm gewonnenen
wichtigen Resultate auch blos zu resumiren. Ich will nur bemerken,
dass nach Politzers Untersuchungen sowohl bei Neugeborenen
als auch bei Erwachsenen die Existenz eines bis in die Trommel-
höhle reichenden oberen Abschnittes des Processus styloi-
deus nachgewiesen werden kann. Der Knorpel, welcher vom
Steigbügelmuskel und dem Facialis durch eine verschieden dicke
Knochenlamelle getrennt ist, wird von einer starken faserigen
(106)
Die embryonale Anlage des Mittelolires : die morphologische Bedeutung etc. 265
Bindegewebshülle nmgeben; das Gebilde lässt sich ans seiner
Hülle vollständig ansschälen. Der kolbige Kopf, welcher in einer
gmbigen Vertiefting unterhalb der Eminentia pyramidalis
lagert, geht in einen seitlich zusammengedrückten Hals über, von
welchem, jedoch nicht constant, nach vorne ein kurzer Fortsatz
abgeht, unter welchem das untere, stiftförmige, zugespitzte Ende
beginnt *)
Wie bekannt, hat Reichert und dann auch Huxley den
Musculus stapedius als den Vertreter des intermediären
Theiles des Hyoidbogens zwischen Annulus stapedialis und
Reich er tischen Knorpel angesehen.
Leider kann ich nicht auf Grund meiner Beobachtungen diese
Ansichten theilen.
Die Anlage des Musculus stapedius ist beim Embryo
schon zu der Zeit zu sehen, wo das erwähnte intermediäre Stück
des Hyoidbogens noch durch einen Zellenstrang repräsentirt er-
scheint. Auch später kommt der Musculus stapedius, was
seine Lage betrifft, nicht in der Richtung des Re ich er f sehen
Knorpels zu liegen, sondern, von der vorderen Fläche des perio-
tischen Fortsatzes entspringend, reicht er weiter unten als das
Ende des R e ich erfschen Knorpels und bleibt an dessen hinteren
medialen Seite (vergl. Fig. 14 — 18). Die Form des Muskels ist
auch nicht geeignet, eine solche Auffassung zu bestätigen.
Periotische Kapsel.
Was die Entwicklungsweise der periotischen Kapsel betrifft,
sind die Angaben in der Literatur sehr spärlich. Sie wurde in
') Bei Menschen steUt der von Politzer beschriebene Proc. styloidens
genetisch die knorpelige, resp. knöcherne Verscbmelznng zweier morphologisch
yerschiedener Skeletabschnitte dar. Es vereinigt sich nämlich beim Embryo nach
erfolgter Abtrennung des Ann. 8t ap ed. (hyo-mandibnlare) nnd Resorption
des daxwischenliegenden Abschnittes (inter ^hjale) der üeberrest des proxi-
malen Endes des II. Eiemenbogen8(stilo-h7ale) mit dem unteren Ende eines
Fortsatzes, welcher ans der hinteren Partie der periotischen Kapsel abgeht (Pro-
cessnsperiot. pos t.). Ans meinen diesbezfiglichen üntersnchnngen geht hervor,
dass der Theil des Processus styl. Politzer's, welcher die hintere Wand
der TnmuBeih5hle yorwAlbt, nicht wie Reichert behauptet, dem hyoidalen,
sondern dam periotischen AbBcbaitt desselben angehört.
(107)
266 Gradenigo.
der That bei der ErforschuDg der Entwicklung des inneren
Ohres gewöhnlich nicht genügend berücksichtigt, and auch wenig
beim Studium der Entstehungsweise der Skeletelemente des Mittel-
ohres.
Zur eingehenden Besprechung der Einzelheiten, welche die
periotische Kapsel in ihrem Entwicklungsgang aufweist, wäre es
nothwendig, im Voraus die Entstehungsweise der epithelialen
Labyrinthblase, auf welche die Kapsel sich modellirt, ausführlich
zu schildern. Diese Besprechung würde mich zu weit von dem
von mir vorgenommenen Thema führen. — In der vorliegenden
Arbeit will ich nur einige wichtige, mit der Entwicklung der
Skeletelemente des mittleren Ohres in Verbindung stehende That-
sachen hervorheben.
Ich habe mich bei Säugethieren, ähnlich wie Parker und
S t ö h r bei niederen Wirbelthieren, gegen die Behauptung P a r k e t's
überzeugen können, dass die sehr frühzeitig auftretende Anlage
der periot. Kapsel beim Embryo in Form einer ganz isolirten
Zellanhäufung an der unteren lateralen Wand der Gehörblase
erscheint. Erst in späteren Entwicklungsstadien erfolgt die Ver-
einigung der Kapsel mit den Skeletelementen der Schädelbasis.
Die periotische Kapsel lässt betreffs ihrer embryonalen
Entwicklungsweise drei Abschnitte an sich unterscheiden : nämlich
eine hintere obere Partie, welche die Bogengänge aufnimmt
(Pars canalium semicircularium); eine vordere untere,
welche den Sacculus, den Canalis reuniens inferior,
und das Anfangsstück der basilaren Windung des Ductus
cochlearis aufnimmt (Pars vestibularis), und eine vor-
dere obere, welche die eigentliche Cochlea einschliesst. Zur
Zeit, wenn die hintere Partie eine echte Knorpelmasse stellt, in
welcher die häutigen Bogengänge eingebettet sind, erscheint die
cochleare Partie als eine von unreifem Knorpelgewebe repräsen-
tirte dünne Lamelle, welche die Windungen des Ductus cochle-
aris und die cochlearen Ganglien und Nerven im embryo-
nalen Bindegewebe eingebettet, umgibt, und die vestibuläre Partie
von einer kaum knorpelig gewordenen Lamelle vertreten.
Die periotische Kapsel weist die Labyrinthfenster noch
nicht auf.
(108)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 26 7
Diese Abschnitte gehen ineinander über; eine deutliche
Eaphe kommt nur zor Bildung, dem hinteren unteren und lateralen
Theil der cochlearen Partie entsprechend. In der That^ setzt sich
die Lamelle, welche an der tympanalen Seite die häutige Cochlea
begrenzt, in die vestibuläre Lamelle nicht fort, sondern sie biegt
sich gegen das Gentrum der Cochlea, (d. h. nach vorne, medial-
wärts und oben), dem Baume zwischen Basal- und Mittelwindung
entsprechend. Zwischen dieser Lamelle und der vestibulären La-
melle entsteht auf diese Weise eine Raphe, welche oberhalb des
künftigen ovalen Fensters zu liegen kommt, und in späteren
Stadien mit dem differenzirten oberen Rand der Lamina sta-
pedialis verwechselt werden kann.
Was die Entstehungsweise der Labyrinthfenster anbelangt,
wäre es nicht genau im Sinne Eölliker^s, zu behaupten, dass
die zwei Fenster von Anfang an Stellen sind , wo das Knorpel-
gewebe fehlt.
Bei der Beschreibung der Entstehungsweise der Lamina
Stapedialis haben wir constatirt, dass bei keinem Entwicklungs-
stadium, dem ovalen Fenster entsprechend, die vorknofpelige
Anlage oder das Enorpelgewebe fehlt ; vielmehr setzt sich direct
die knorpelige Lamelle anfangs in die übrige vestibuläre Wand
weiter fort.
Vor dem Auftreten des Knorpelgewebes ist auch keine Spur
von runden Fenstern zu sehen; die vorknorpelige Anlage der
Kapsel erscheint auch dem Fenster entsprechend ununterbrochen.
Zur Zeit des Auftretens des Knorpels wird der entsprechende Ab-
schnitt der vestibulären Wand nicht knorpelig, und bald
treffen wir statt einer Anlage von Skeletelementen einfaches Binde-
gewebe, welches durchaus vom Gewebe der übrigen tympanalen
Höhle nicht differenzirt ht
Die Membrana tympani secundaria erscheint durch
ihre Lage fast als Fortsetzung des inneren Perichondriums der
vestibulären Lamelle, so dass dieselbe auf dem Boden eines kurzen
Canals, welcher an Länge ungefähr der Dicke der vestibulären
Wand gleich zu stehen kommt.
Der Stapes geht aus zweierlei morphologischen Elementen hervor
und zwar : 1. aus dem vom zweiten Kiemenbogen gebildeten Annu-
Med. Jahrbücher. 1887. 22 (^09)
268 Oradenigo.
Iu8 stapedialis und 2. aus der von der Wand der Labyrintli-
kapsel sich differenzirenden Lamina stapedialis.
Der Hyoidbogen verliert bald jede Beziehung zumAnnulus
stapedialis und tritt in ein inniges VerbältDiss zu einem
periotiscben Fortsatz, welcher von dem vestibulären Ab-
schnitt der Kapsel abgeht.
IV,
Der tubo-tympanale Raum.
Die Entstehungsweise des tubo-tympanalen Raumes wird von
den einzelnen Autoren in yerschiedener Weise erklärt.
V. Baer^) betrachtet diesen Raum als eine von Schleimhaut
ausgekleidete Ausstülpung der Rachenhöhle, welche dem Ohre ent-
gegenwächst. v. Baer hebt ausdrücklich hervor, dass diese Ausstül-
pung erst dann beginnt, sobald die erste Eiemenspalte sich geschlossen
hat, und zwar an derselben Stelle.
Hutschke«), Rathke«), Valentin^-») ^ Reichert»),
Bisch off, Günther^') nehmen hingegen an, dass der tubo-tym-
panale Raum aus einem Theile der ersten Eiemenspalte hervorgeht.
Reichert beschreibt den Entwicklungsvorgang folgendermassen :
„Es verlängert sich nämlich die innere Abtheilung derVisceral-
spalte, welche durch Zwischenlagerung von Substanz von der äusseren
getrennt ist, durch die Entwicklung der umliegenden Bildungsmasse
in einen Canal. Derselbe wird von der, zwischen dem zweiten und
dritten Visceralbogen entstehenden, dann aber nach vorne gegen den
ersten Visceralfortsatz verwachsenden Labyrinthanlage des Ohres in
der Nähe der verwachsenen Stelle eingeengt, und die ausserhalb der
Einengung des Canals gelegene Partie zur Paukenhöhle umgebildet,
während der übrig gebliebene Theil als Tuba Eustachii sich verlän-
gert. — Wobei jedoch zu bemerken ist, dass die letztere nicht, wie
Valentin anführt, in ihrem Umfange abnimmt, sondern wenn die
Yisceralspalte an ihrem unteren Ende etwas verwachsen, als innere
Oeffiiung der Eustachi'schen Trompete sich offenbart, wegen der ein-
facben Form des Theiles selbst an den Evolutionen der umliegenden
Bildungsmasse wenig theilnebmend, einer rückgängigen Bildung unter-
worfen scheint, während sie jedoch jedenfalls an dem allgemeinen
Wachsthum des Embryo Antheil hat. Die Richtung der Eustachi'schen
Trompete ist gleich anfangs etwas von aussen und vorn nach innen
und hinten geneigt, und verbleibt auch in dieser Lage.**
0 Carl Ernst v. Baer. üeber die Entwicklungsgeschichte der Thiere. 1828.
(110)
Die embryonale Anlage des Mittelobres : die morphologisclie Bedeutung etc. 269
Hunt^®) ist, nach seinen Untersuchungen über die Embryologie
des Schweines, der Ansicht, dass die Eustaohi'sche Röhre eine Aus-
stülpung der Schlundschleimhaut sei.
Nach Urbantschitsch ist die Anlage des Mittelohres keines-
wegs von den ersten Eiemenspalten abzuleiten, sondern ausschliesslich
in den beiden Seitenbuchten der gemeinschaftlichen Mund-Nasen-Rachen-
höhle zu suchen. Jener Abschnitt der Mundhöhle, welcher die beiden
Seitentheile derselben ausmacht , metamorphosirt sich in der Weise,
dass er nur durch einen schmalen Verbindungsspalt mit der Mund-
höhle in Conmiunication bleibt und auffällig erweitert wird. Die Aus-
kleidung sämmtlicher dieser Höhlen ist vom äusseren Keimblatte gebildet.
Moldenhauer^^) beschreibt auf eine andere Weise den Ent-
wicklungsvorgang der Tuba : Schon zu einer Zeit, wo die Eiemenspalten
noch geöffnet sind, erhebt sich an der inneren Seite des ersten Bogens,
nicht fem von seiner Insertion an die Schädelbasis beiderseits ein
Wulst, den Moldenhauer wegen seiner späteren Beziehungen zum
Oaumenapparat alsColliculus palatinus bezeichnet. Derselbe
nimmt die ganze Breite des Bogens ein, indem er vom Oberkiefer-
fortsatz beginnend, bis zur ersten Spalte hinabstreicht. Durch Entstehen
dieses Wulstes wird zwischen ihm und der hinteren Wand des Yorder-
darmes eine Rinne gebildet, deren unterer oder hinterer Theil, wie
die weitere Entwicklung lehrt, als erste Anlage des Mittelohres zu
betrachten ist, und der daher als Sulcus tubo-tympanicus
benannt werden kann. Denn, nachdem die beiden ersten Bögen mit-
einander verwachsen sind, wird die Rinne nicht etwa dadurch ver-
tieffc, dass zwischen dem Bogen der der Rinne benachbarte Abschnitt
der Spalte sich offen erhält, sondern dadurch, dass die Wülste mehr
und mehr nach dem Lumen des Darmes vordrängend, allmälig das
dorsalwärts vor ihnen gelegene Stück desselben von dem übrigen
Abschnitte trennen. Durch weitere Wachsthumvorgänge wird die früher
grosse spaltförmige Communication der Tuben-Paukenhöhlenanlage mit
dem Darm nach und nach verengt und zuletzt bis auf eine kleine
Oeffiiung — die vordere Tubenmündung — geschlossen. Dieselbe ist
zwar in der Oegend der früheren ersten Kiemenspalte gelegen; sie
aber als unverschlossene innere Mündung derselben auffassen zu wollen,
ist nach Moldenhauer nicht statthaft."
K ö 1 1 i k e r ^^) vertheidigt die R e i c h e r t'sche Lehre : Die Pauken-
höhle und die Tuba Eustachi! entwickeln sich unzweifelhaft aus dem
medialen Theil des hinteren Abschnittes der ersten Kiemenspalte,
welche jedoch nicht ohne weiteres und unmittelbar zu diesen Theilen
sich umbildet, sondern in einen nach aussen, oben und hinten gerich-
teten Fortsatz auswäehst, der wesentlich zur Paukenhöhle sich gestaltet,
und daher nach Analogie einer von Moldenhauer angewandten
Bezeichnung Canalis tubo-tympanicus genannt werden kann.*^
22* (111)
270 Gradenigo.
Und weiter unten: „Stimme ich darin mit Moldenhaner
überein, dass ich die Hohlräome des mittleren Ohres nicht einfach
aus den wenig veränderten inneren Resten der ersten Kiemenspalte
ableite, sondern eine Verlängerung derselben an der äusseren Seite der
Cartilago petrosa nach oben und hinten annehme.^
Wenn man die verschiedenen Ansichten über die Ent-
wicklungsweise des tubo-tympanalen Raumes durchprüft, so gewinnt
man nur mit Schwierigkeit eine richtige Idee über die eigentliche
Auffassung der Autoren.
Die hauptsächlichste Ursache hiervon ist, meines Erachtens,
eine unzureichende Terminologie.
Das was KöIIiker Ganalis tubo-tympanicus be-
zeichnet, hat absolut nichts zu schaffen mit dem Sulcus tubo-
tympanicus Moldenhauer^s; was Urbantschitsch eine
seitliche Ausstülpung der Mundrachenhöhle nennt, hat
eine ganz andere Bedeutung als die seitliche Ausstülpung
der hinteren Darmwand im Sinne v. Baer's und Molden-
h a u e r's.
Wenn man bei der Unbestimmtheit der gebrauchten Aus-
drücke Sorge trägt, die Ansichten der Autoren richtig aufzufassen,
80 gelangt man zur Aufstellung dreier verschiedener Lehren, die
die Entstehungsweise des tubo-tympanalen Raumes erklären sollen :
I. Der tubo-tympanale Raum geht aus einer gegen das Ohr
wachsenden Ausstülpung des Darmcanals hervor (v. Baer,
Hunt, Holdenhauer).
n. Der tubo-tympanale Raum bildet sich aus der offen ge-
•bliebenen inneren Hälfte der sogenannten Hyomandibularspalte
{erste Eiemenspalte) (Reichert, Kölliker).
ni. Der tubo-tympanale Raum entsteht aus dem Abschnitte
des Darmcanals, welcher zu den Seiten des Schädels an der
Basis des ersten Eiemenbogens zurückbleibt und vielleicht auch
zum Theile aus einem kleinen Abschnitte unterhalb derselben
(Urbantschitsch).
Um einen klaren Begriff über die Topographie des fraglichen
Raumes zu erlangen, halte ich es für nöthig, die Aufmerksamkeit
der Leser auf das Schema in Fig. 19 zu lenken. Dieses Schema
«teilt in frontaler Ansicht jenen Raum dar, welcher bei einem
<tl2)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentnng etc. 271
Eatzenembryo zu beiden Seiten des Schädels , medialwärts der zwei
ersten Eiemenbogen zurückbleibt, zur Zeit als der mittlere Theil
der ersten Eiemenspalte im Begriffe ist^ sich zu schliessen. a be-
zeichnet den Yereinigungspunkt der zwei gegeneinanderliegenden
Flächen der Eiemenbogen (vergl. auch Fig. 20 A), b und c ver-
anschaulichen die Insertionsstelle des ersten und zweiten Eiemen-
bogens an der Basis des Schädels; die Linie ah bezeichnet die
untere innere Fläche des ersten Eiemenbogens ; ac die innere
obere Fläche des zweiten ; bc die Wand der Schädelbasis.
Aus diesem, den natürlichen Verhältnissen vollkommen ent-
sprechenden Schema, ist zu entnehmen, dass die innere Hälfte
der ersten Eiemenspalte von dem zwischen den inneren Flächen
der Eiemenbogen und der Schädelbasis entstandenen Räume gar
nicht unterschieden werden kann ; die beiden Flächen, welche die
Eiemenspalte begrenzen, gehen durch eine Erümmung in die
innere Fläche der Eiemenbogen über.
Dessenungeachtet ist es geboten, eine Unterscheidung zum
besseren Verständniss der Verhältnisse festzustellen.
Der mit adf bezeichnete Baum kann als die innere Hälfte
der ersten Bronchialspalte angesehen werden, der zurückbleibende
grössere Raum dfcb wird von den inneren Flächen der Eiemen-
bogen und von der Schädelbasis begrenzt. In diesem Raum kann
das mit dem Mandibularbogen im Zusammenhang stehende Seg-
ment dbe als Mandibularspalte, und das zu dem zweiten
Eiemenbogen in Beziehung tretende Segment fce als Hyoidal-
spalte betrachtet werden. In dem in Fig. 19 abgebildeten drei-
eckigen Räume können wir neben der hyomandibularen
Spalte (eigentliche Eiemenspalte) die mandibulare und die
hyoidale Spalte unterscheiden.
Nach Reichert und Eölliker soll sich der Raum adf^
nach Urbantschitsch hingegen den Raum dbcf in die
Cavitas tympanica umwandeln. Hunt undMoldenhauer
sprechen indessen diesem ganzen Raumabschnitte jeden Werth an
der Bildung der Eustachi 'sehen Röhre und der tympanalen
Höhle ab.
Die Resultate meiner eigenen Untersuchungen führen
mich zur Unterscheidung von zwei Phasen in der embryonalen
(118)
272 Gradenigo.
Entwicklang des tabo tympanalen Raumes. In der ersten Phase,
zur Zeit als die Entwicklung der anliegenden Skelettheile erfolgt,
erleidet dieser durch das Wachsthum der genannten Theile ver-
engerte Raum einen partiellen Involationsgang. Sobald aber ein-
mal die definitive Form der Skelettheile annäherungsweise vor-
gebildet ist, schreitet erst in der zweiten Phase der tubo-tympanale
Raum in seiner Entwicklung fort, und breitet sich sein hinteres
Ende zu einer eigentlichen Höhle aus.
Der Einengungsvorgang des tubo-tympanalen Raumes findet
hauptsächlich nach zwei Richtungen statt, in der einen von Seite
zu Seite, d. i. nach der frontalen Richtung, und in der anderen
von hinten gegen vorne, d. i. in sagittaler Richtung hin.
Die Involutionsphase umfasst die Zeit von dem ersten Deut-
lichwerden der Anlage der Skelettheile bis zu ihrer annäherungs-
weisen Ausbildung, und kann in drei Stadien unterschieden werden :
Das erste Stadium, bei welchem nur die erste Andeutung
der Skelettheile anzutreffen ist (Fig. 20 und 20 A).
Das zweite, wo sich vorwiegend das proximale Ende des
zweiten Eiemenbogens ausbildet (Fig. 21 und 21 A).
Das dritte, bei welchem sich das proximale Ende des ersten
Eiemenbogens entwickelt und das Ende des Hyoidbogens einen
Involutionsvorgang eingeht (Fig. 22 und 22 A).
Bei dem ersten Stadium entsprechen die Form und die Be-
ziehungen des tubo-lympanalen Raumes der in dem Schema
(Fig. 19) mit vollen Contouren dargestellten und von mir schon
besprochenen Grenzen.
Bei dem zweiten Stadium erfolgt die Einengung von einer
zur anderen Seite, hauptsächlich dadurch, dass durch Wachsthum
der cochlearen Partie der Eapsel und ^es Promontoriums
die mediale Wand lec nach aussen vorgedrängt wird. Der
Punkt e geht in e^ über, und die früher dreieckige Form des Quer-
schnittes des tubo-tympanalen Raumes erhält das Aussehen zweier
in einander zusammenfliessender Spalten, abe^^ aee\ In der
Richtung von hinten nach vorne ist es das proximale Ende de^
Hyoidbogens, welcher durch seine Wendung nach vorne und innen
das hintere Ende der betreffenden Hyoidalspalte verschliesst. In
diesem Stadium ist die Tuba gegen hinten zu nur durch die
(114)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morplioIogiBclie Bedentnng etc. 273
mandibulare Spalte und einen Theil der ersten Eiemenspalte
repräsentirt (vergl. Fig. 21 und 21A).
Bei dem dri tt en Stadium gehen der Hammergriff und der
lange Ambosschenkel von dem proximalen Ende des mandibularen
Bogens (Hammer- und Amboskörper) nach abwärts, und indem
sie gegen das Labyrinth zu wachsen, üben sie einen beträchtlichen
Druck auf die Wand der mandibularen Spalte dem Punkte d ent-
sprechend aus. Der Punkt d räckt in Folge des weiteren Wachs-
thums der obgenannten Fortsätze in di ein, so dass die gegenüber-
liegenden Wände an dieser Stelle in Berührung kommen. Es
erfolgt hier ein eigentlicher Schluss des betreffenden Abschnittes
der mandibularen Spalte. Beim Menschen setzt sich diese
VerSchliessung nach unten gegen den oberen Theil der Hyoidal-
spalte fort, wo sie bedingt wird durch den Druck des Promon-
toriums auf den mittleren Abschnitt des Hyoidbogens. Ueberdies
Tenrollständigt sich der Verschluss des mittleren Abschnittes der
ersten Eiemenspalte, so dass der in a befindliche Winkel sich
abrundet, und der Punkt a mit a^ zusammenfällt. Was die Ein-
engung von hinten nach vorne in diesem Stadium betrifft, so
erhält sich nach hinten die von den beiden Fortsätzen oben-
erwähnte bedingte Verschliessung, während der Rückgangsprocess,
den das proximale Ende des zweiten Eiemenbogens erfährt,
neuerdings die Verlängerung des untersten Abschnittes der Hyoid-
spalte gestattet.
In diesem Stadium ist also der tubo-tympanale Baum durch
die Hyoidspalte und das unterste Segment der Mandibularspalte
vertreten. Das oberste Segment dieses letzteren und die erste
Eiemenspalte sind verschlossen.
Es ist in diesem Stadium bemerkenswerth, dass sowohl das
proximale Ende des mandibularen Enorpels, als auch das des
Hyoidknorpels zu Bildung zweier Wülste Anlass geben.
Die Anschwellung des proximalen Endes des Mandibular-
bogens, aus welcher Hammer und Ambos hervorgehen, liegt in
einem höheren Niveau als das obere Segment der mandibularen
Spalte und unmittelbar lateralwärts und hinten von der hinteren
Darmwand.
274 Oradenigo.
Dieses proximale Ende bedingt eine Einstülpang der Wand
in Form eines Wnistes (Collicnlns mandibnlaris^), der,
wie wir später sehen werden, dem Collicalns palato-pba-
ryngens Moldenbauer's entspricht. Das knorpelige Ende
des Hyoidbogens (resp. des Reicher tischen Knorpels) veran-
lasst eine ähnliche Ausstülpung an dem hintersten Abschnitt der
Hyoidspalte (Colliculus hyoidalis). Diese beiden Wülste
bestehen ans mesoblastischem Gewebe, da die betreffenden Enorpel-
abschnitte in einer gewissen Entfernung von den Epithelüberzng
der Höhlen bleiben.
Bezüglich der ersten Entwicklnngsphase können wir also
mit Recht behaupten, dass der tubo-tympanale Raum einen Rück-
gangsproeess erleidet, und wenn auch nicht im absoluten Sinne,
weil die Wände, die ihn begrenzen, sich an dem allgemeinen
Wachsthum des Embryo betheiligen, so geschieht dies doch in
relativem Masse.
In einer zweiten Entwicklungsphase, sobald einmal die
definitive Form der Skelettheile annäherungsweise vorgebildet ist,
beginnt der tubo-tympanale Raum sich auszubreiten« Um den
Hammergriff und um die reflexe Partie des Musculus tensor
dehnt sich zuerst die Trommelhöhle aus, verlängert sich dann
gegen hinten und aussen längs des künftigen Trommelfelles und
reicht bis zum hinteren Rand des Annulus tympanicus und
dem aufsteigenden Abschnitt des Reicher tischen Knorpels.
Das mesoblastische Gewebe um den langen Ambosschenkel,
um den Stapes und neben den beiden Labyrinthfenstem ver-
schwindet zuletzt.
Der Vorgang, durch welchen der Hammergriff die Ver-
SQhliessung des tubo-tympanalen Raumes bedingt, verdient wegen
seines constanten Auftretens hervorgehoben zu werden. So viel
mir bekannt, ist er bisher von Niemanden beschrieben worden.
Wenn wir genau bei starker Vergrösserung die histologischen
Einzelnheiten , welche an der Berührungsstelle der zwei gegen-
überliegenden Wände vor sich gehen, studiren, so finden wir,
^) Ich wende die Bezeidmong Collie, mandib., anstatt der Coli,
palato-phar. in Anbetracht des zweiten von mir als hyoidalis bezeich-
neten Collicnlns an.
(116)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeatnng etc. 275
dass die entsprechenden Epithelzellen anfangs zu einander in
innige Beziehung treten und später allmälig verschwinden, ohne
dass irgend welche Spur eines Epithelüberzuges an der betreffenden
Stelle zurückbleibt.
Bei der Besprechung eines analogen Vorganges, und zwar die
Verschliessung der Eiemenspalte betreffend, stellt Moldenhauer
Betrachtungen an, die auch für unseren Fall passen.
,Die Verwachsung zweier sich einander berührender Epithel-
flächen hat überhaupt im ersten Augenblick immer etwas Befremd-
liches, wenigstens fbr denjenigen, welcher mit fertigen, erwachsenen
Epithelien zu rechnen gewohnt ist, denn Epithel und Epithel
scheinen vorhanden zu sein, zwei Gewebemassen von einander
zu trennen. Im embryonalen Zustande aber hat dieses Verhältniss
keine durchgehende Geltung. Oefter, sogar in den wichtigsten
Fällen, sehen wir hier bekanntlich Verwachsung von Epithelplatten
(Verschliessung des Medullarrohres, der Labyrinthblase, der secun-
dären Augenblase u. s. w.).^
Die Physiopathologie des Mittelohres ist noch zu wenig
bekannt, um die embryonale Verwachsung dieser beiden Epithel-
schichten mit speciellen , bei den Erwachsenen vorkommenden
Vorgängen in Zusammenhang bringen zu können.
Meine Resultate bestätigen im Allgemeinen die Lehre von
Urbantschitsch. Das was er Seitenbuchten oder Seitenspalten
der gemeinschaftlichen Mund-Nasen-Rachenhöhle nennt, ist mit
den von mir als mandibulare und hyoidale bezeichneten
Spalten identisch; nur ist, nach meinen Untersuchungen, der die
künftige Tuba und Trommelhöhle repräsentirende Raum an der
Seite des Schädels erst umfangreicher als Urbantschitsch an-
nimmt; und umfasst den ganzen Raum an der inneren Seite der
xmteren Hälft» des Mandibularbogens und der oberen des Hyoid-
bogens. Auch die Umwandlungsart dieses Raumes in Ohrtrompete
und Trommelhöhle ist viel verwickelter als bis jetzt beschrieben
worden ist
Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass von einer gegen
das Ohr zu allmälig sich bildenden Ausstülpung in dem Sinne
Baer's und Moldenhauer's nicht die Rede sein kann.
(117)
276 Gradenigo.
Der tnbo-tympanale Raum ist von yorneberein von einem,
relativ viel ^össeren Raum repräsentirt , welcher später einen
partiellen Involationsvorgang eingeht.
Der CoUicnlus palato-pharyngeus s. mandibularis
steht, wenigstens bei den von mir nntersnchten höheren Sänge-
thieren, nicht in directer Beziehung zu der Tuba, Tielmehr mit
dem proximalen Ende des mandibularen Bogens, welches durch
seine Anschwellung die Einstülpung der naheliegenden hinteren
Wand der Mundbucht veranlasst.
Die Tubenspalte reicht nach oben hin nur bis zur Basis des
Colliculus und setzt sich nach unten auf eine gewisse Strecke
fort, wo der Colliculus nicht mehr vorhanden ist.
Ein Vordrängen des Wulstes mehr und mehr nach dem
Lumen des Darmes, im Sinne Moldenhauer's, konnte ich nicht
beobachten.
Der Colliculus mandibularis findet sein Analogen in
einem zweiten Colliculus, der von dem proximalen Ende des
zweiten Eiemenbogens bedingt vnrd (Coli, hyoidalis).
V.
Die morphologische Bedeutung der Gehör-
knöchelchen.
Durch die Ergebnisse der vorliegenden embryologisehen Unter-
suchongen wird festgestellt, dass bei Menschen und bei höheren Säuge-
thieren drei ganz verschiedene morphologische Elemente zur Bildung
der Gehörknöchelohenkette beitragen: das eme, mandibulares
Element, aus dem ersten Eiemenbogen abstammend, welches Hammer
und Ambos bildet; das zweite, hyoidales Element, ans dem
zweiten Kiemenbogen abstammend, welches den Annulus stape-
dialis bildet; das dritte, periotisches Element, aus der perio-
tischen Kapsel abstammend, welches der Lamina stapedialis
Ursprung gibt. Der Steigbügel geht aus der Verschmelzung dieser
zwei letzteren Elemente hervor.
Diese fundamentalen Thatsachen vorausgesetzt, ist es von höchster
Wichtigkeit, aus diesem neuen Standpunkte in der weiten und viel-
fiütigen Reihe der Wirbelthiere die complicirte Morphologie der proxi-
malen Enden der zwei ersten Eiemenbogen und der periotischen Kapsel
durchzuprüfen, und zu trachten , auf Grund der oben erwähnten
(118)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 27 7
Kriterien in das dunkle und verwickelte Feld der vergleichenden
Anatomie etwas mehr Licht zu bringen.
Ich halte für geeignet, zuerst zu untersuchen, welche Skelet-
elemente bei den niederen Wirbelthierclassen als Vertreter der Gehör-
knöchelchen der Säugethiere angesehen werden dürfen, und alsdann
die verschiedenen morphologischen von den einzelnen Säugethier-
gattungen dargebotenen Typen der Gehörknöchelchen durchzunehmen.
A. Morphologie der proximalen Enden der zwei ereten Klemen-
bogen und der periotischen Kapsel bei den WIrbeithieren.
Eriteritim der Homologie.
Der Begriff der Homologie der Skeletelemente beruht auf der
Thatsache, dass in einer bestimmten^ embryonalen Entwicklungsperiode
bei den verschiedenen Wirbelthieren ein primoMiales Skelet existirt,
welches in einem Zustande höchster Einfachheit bei diesen allen
gleiche Charaktere aufweist. Es ist erst bei der ferneren Entwicklung
des Embryos, dass das primordiale Skelet Veränderungen erf^lhrt,
durch welche dieses alhnälig die individuellen, dem erwachsenen Thiere
eigenen Charaktere annimmt. Ich habe so z. B. constatiren können,
dass das primordiale Skelet der Kiemenbogen und der periotischen
Kapsel bei höheren Säugethieren sich dem von Parker und St Öhr
bei den Fischen (Teleostiern) beschriebenen ganz ähnlich verhält.
Um zu bestimmen , ob ein gewisses Skeletelement bei Säuge-
thieren das Homologon eines anderen bei den übrigen Wirbelthieren
darstellt oder nicht, ist es nöthig, beide auf den primordialen Skelet-
typus zurückzuführen. Als wesentliches Kriterium, um die Homologie
festzustellen, sollte, meines Erachtens, die embryonale Derivation an-
gesehen werden.
Die Bedeutung, welche den embryologischen Studien zukommt,
um die Thatsachen der vergleichenden Anatomie zu bestimmen, war
schon im Jahre 1837 von Reichert^) hervorgehoben, als er in seiner
classischen Arbeit folgende Bemerkungen niederlegt hat:
„Ohne Sohmälerung der Rechte der eomparativen Anatomie muss
man zi^eben, dass ihr bei der Bestimmung der Kopftheile nach dem
ürtypus zu viele Hindemisse in den Weg gelegt sind, theils durch
die Yerschiedenartigkeit der Köpfe der Wirbelthiere selbst und dann
auch vorzugsweise dadurch , dass sie es eben mit dem Skelet im
knöchernen Zustande zu thun hat. Wer mit der Entwicklungsgeschichte
vertraut ist, weiss, wie schon bei der BUdung des Knorpelskelets
Modificationen und Abänderungen von der Urform des serösen Blattes
eintreten. Aber nur vollends bei dem letzten Individualisationsacte des
Embryo, bei der Ossification, wirken viele und verschiedenartige ur-
sächliche Momente ein, um das knöcherne Gepräge des Individuum dar-
(119)
278 Gradenigo.
zustellen. Die Enoehenbildimg zeigt gerade das Bestreben, die ein-
fachen orsprünglichen Wirbelfonnen der Individualität des Thieres
anzueignen und nach ihr abzuändern ; aus diesem Grunde hat die com-
parative Anatomie bei der Zurückführung der Kopfknoehen auf die
Urform die grösste Vorsicht nöthig, um hier nicht fehl zu gehen.^
(Reichert»), pag. 120.)
Die Homologie zweier Organe kann nicht aus der Thatsacfae
festgesetzt werden, dass diese Organe beim erwachseneu Thiere dieselbe
Function, oder durch Gestaltung, Dimensionen und topographische Lage
Analogie darbieten; dies sind lauter täuschende, zufällige Kriterien.
Damit ein Organ als das Homologen eines anderen betrachtet werden
kann , ist es noch überdies erforderlich , dass beide einen gleichen
embryonalen Ursprung darbieten.
Die oben angeführten Betrachtungen geben den Grund an,
wesshalb diejenigen Autoren, welche auf das Studium des erwachsenen
Thieres gestützt, die Homologie der Skeletelemente festzustellen ver-
sucht haben, trotz sorgfältiger Beobachtung und scharfer Kritik sich
meistens vergebliche Mühe gegeben haben, und warum ihre, auf un-
richtige Basis aufgestellten Theorien dunkel und sich widersprechend
hervorgegangen sind.
Diesbezüglich könnte ich die verschiedenen Lehren anfahren,
welche in Bezug auf die Homologie der Derivaten der zwei ersten
Kiemenbogen von berühmten Forschem successive aufgestellt worden
sind. Bei der vorzüglichen Monographie von Baraldi über die Homo-
logie der Nebenorgane der Athmung der Fische und der Nebenorgane
des Gehörs der Säugethiere ^^) findet sich eine kurze Uebersicht solcher
Lehren.
Ich will nur erwähnen, dass das Hyomandibulare (Huxlej)
der Fische , welches , wie wir unten sehen werden , den proximalen
Abschnitt des Hjoidbogens darstellt, dann und wann von Cuvier
als Os temporale, von Hallmann als Os Quadratum der
Reptilien und der Vögel, von Agassiz als Os mastoideum
angesehen, und vonOwenEpitympanicum, vonGeoffroy-Saint-
HilairealsSerrial bezeichnet wurde. — Die Gehörknöchelchen der
Säugethiere, welche, wie bekannt, in Knorpel präformirt sind, wurden
sogar von Spix und Geoffroy-Saint-Hilaire zu den Oper-
cularia der Fische gegenübergestellt, welche letztere hingegen von
Agassiz als modificirte Schuppen, folglich dem dermaligen System
gehörend angesehen worden sind.
Im Allgemeinen sind die Autoren, welche bei der Feststellung
der Homologie der Skeletelemente deren Entstehungsweise nicht be-
rücksichtigt haben, in eine Reihe von Missdeutungen und Irrthümer
gerathen.
(120)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentung etc. 279
Als Eriterium der Homologie musste man die topographischen,
bei erwachsenen Thieren zutreffenden, Verhältnisse nehmen; man ver-
mied häufig, zwei Theile, welche verschiedene Functionen erfüllten,
als homolog zu betrachten ; und wurden schliesslich in sonderbarer
Weise die Knochen , welche aus dem primordialen Skelet entstehen,
mit den Deckknochen, welche aus directer Umwandlung des Binde-
gewebes hervorgehen, verwechselt. '
Aber auch die Autoren, welche, von einem wissenschaftlicheren
allgemeinen Standpunkte abgehend, das Eriterium der Homologie in
der Abstammung der einzelnen Skeletelemente gesucht haben, sind in
vielen Fällen nicht bis zum eigentlichen primordialen Skelet gelangt,
und haben desshalb nicht ganz erfreuliche Folgerungen gezogen. Man
hat in der That als primordiales Skelet der Säugethiere das von den
knorpeligen Skeletelementen vertretene Typus angesehen.
Da nun bei höheren Wirbelthieren das knorpelige Skelet merk-
liche Unterschiede im Vergleiche zu dem primitiv angelegten Skelet
darbietet , eignet es sich nur zum Theil , die erste Derivation der
Skeletelemente erkennen zu lassen. Aus meinen Wahrnehmungen geht
hervor , dass bei Säugethieren die primordialen Skeletelemente zur
Zeit des Auftretens des ELnorpelgewebes schon wesentliche Modifica-
tionen erfahren haben.
Die Ursache , weshalb das eigentliche primordiale Skelet bei
höheren Wirbelthieren nicht genug untersucht worden ist, liegt an der
Schwierigkeit, die das Studium dieses Skeletes bietet. Die vorknorpe-
lige Skeletanlage bei höheren Wirbelthieren (Sauropsiden und Säuge-
thieren) stellt wegen der Zartheit der sie zusammensetzenden Elemente
und wegen der raschen Umwandlungen, welche sie eingeht, eine der
schwierigsten Beobachtungsmaterialien dar. Ein Beweis daftlr sind die
vielfältigen über die Derivation des Steigbügels und des Ambosses
angestellten Hypothesen , welche durch die directe Beobachtung des
primordialen Skelets aufgehoben worden wären.
Um die Homologie der einzelnen Skeletelemente
bei den verschiedenen Classen der Wirbelthiere fest-
zustellen, ist nur die Entstehungsweise der betref-
fenden Skeletelemente aus der vorknorpeligen embryo-
nalen Anlage als massgebend zu betrachten.
Allgemeines über Eiemenskelet. *)
Die verschiedenen Wirbelthierclassen stellen in Bezug auf Orga-
nisationsgrad keine regelmässig aufsteigende Reihe dar, sondern bieten
einige Typen, bei denen in jedem die Oi^anisation aus einem Minimum
^) Diese allgemeinen Bemerkungen sind nach Balfour, Oaneatrini
und Gegenbaur dargestellt.
(181)
280 Gradenigo. .
von Vollkommenheit abgeht, mn sich breit in einer bestimmten Rich-
tung bei den höheren Gliedern eines und desselben Typus zu entwickeln.
Es kann jedoch constatirt werden , dass diese verschiedenen
Typen alle untereinander innig zusammenhängen, und dass der oben
erwähnte primordiale Skelettypus, welcher in den ersten
embryonalen Stadien vorkommt, immer mehr auffallende Abänderungen
erleidet, je mehr man von den Fischen nach den Säugethieren auf-
steigt.
Die Eiemenbogen, welche bei den Fischen in Beziehung zum
Athemapparat das ganze Leben stehen, und bei den übrigen Wirbel-
thieren blos im Embryo in ihrer primordialen Gestaltung vorkommen,
stellen die Enderscheinung eines Reductionsprocesses dar, die wahr-
scheinlich an einer viel beträchtlichen Bogenzahl, bei nicht mehr
lebenden Thierformen begann. Das Eiemenskelet der Cranioten wäre
denmach der Ueberrest eines an Bogen ursprünglich viel reicheren
Apparates. Die mit der Aenderung seiner Verrichtung wahrnehmbaren
Umwandlungen des Eiemenskeletes geben ein sprechendes Beispiel ab
für den mächtigen Einfluss der Anpassung an äussere Lebensbedin-
gungen auf die innere Organisation. ^)
Das Eiemenskelet wird in seinem ursprünglichen Typus bei den
lebenden Thierformen aus einer Reihe von durch Querbalken mit ein-
ander verbundenen, in einem oberflächlichen subdermalen Gewebe ent-
wickelten ELnorpelstreifen repräsentirt (äusseres Eiemenskelet
bei Petromizontidae).
Bei den höheren Formen wird dieses System durch eine Reihe
von in den tieferen Theilen des Mesoblastes entwickelten Enorpel-
stäben ersetzt, die man als Eiemenbogen bezeichnet, und die so gelegen
sind, dass sie den hintereinander folgenden Eiementaschen zur Stütze
dienen. Die ersten zwei Bogen, Mandibular- und Hyoidal-, treten
bei allen Wirbelthiergattungen auf; die folgenden Bogen, als eigent-
liche Eiemenbogen bezeichnet, kommen nur bei den Ichthio-
psiden zur vollen Ausbildung.
Die zwei ersten Kiemenbogen.
Der erste und zweite Eiemenbogen bieten in der ganzen Thier-
reihe functionelle und anatomische Merkmale, wodurch sie sich von
den übrigen Eiemenbogen unterscheiden; sie wandeln sich allmälig
aus Nebenorganen der Athmung bei Fischen zu Nebenorganen des
Gehörs bei den besser specialisirteu Thieren um.
Die Art, nach welcher die proximalen Enden der zwei ersten
Eiemenbogen sich modificiren, um sich an Functionen anzupassen, die
') Gegenbanr, Vergleickende Anatomie, pag. 493.
(182)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 28 1
von den nrsprttnglichen ganz yerschieden sind, bildet eines der lehr-
reichsten und interessantesten Capitel der vergleichenden Anatomie.
Bei den Fischen nnd manchen Amphibien wird die Athmnngs-
fiinction nnr von den eigentlichen Eiemenbogen bewerkstelligt Der
erste Bogen hat in allen Fällen bei den lebenden Formen diese
Function verloren; während der zweite bei manchen Formen seine
Eiemenfdnction nnr zum Theile beibehält. Ueberdies sind in der ganzen
Sängeihierreihe die ersten zwei Bogen zum Sttttzskelete des Mundes
geworden.
Bei den höheren Formen sind bei dem Verschwinden der
Kiemenathmnng die eigentlichen Eiemenbogen secnndär geändert, nnd
gehen grösstentheils zn Grunde.
Seit dem ersten Auftreten des ovalen Fensters (bei manchen
Amphibien) treten die proximalen Enden der zwei ersten Eiemen-
bogen zu dem inneren Ohre in Beziehung, und wandeln sich bei den
Säugethieren in die Gehörknöchelchen um.
Die Art und Weise, nach welcher im Embryo das primordiale
Skelettypus der zwei ersten Eiemenbogen bei den verschiedenen
Wirbelthierclassen sich allmälig verändert, um die individuellen, jeder
Thierdasse eigenen Charaktere anzunehmen, ist heutzutage in manchen
Seiten zu ungenügend bekannt, um mit Bestimmtheit eine vollständige
Lehre der Homologie der einzelnen Skeletelemente feststellen zu können.
In der That kann durch zahlreiche Beobachtungen, unter welchen die
Huxley's, Parker's, Pouchet's, Stöhr's hervorgehoben werden
mttssen, das Verhalten der zwei ersten Eiemenbogen und der perio-
tischen Eapsel bei niederen Wirbelthieren (Fische, Amphibien, Rep-
tilien) in seinen Hauptzügen als ziemlich bekannt angesehen werden.
Dasselbe kann nicht betreffs des primordialen Skeletes der höheren
Wirbelthiere (Vögel und Säugethiere) gesagt werden.
Eben aus diesem Grunde, kann ich in vorliegender rascher
üebersicht der Morphologie der proximalen Enden der zwei ersten
Eiemenbogen und der periotischen Eapsel die Resultate meiner eigenen
Beobachtungen auf die Säugethiere nur mit dem was überhaupt über
das Verhalten des primordialen Skeletes bei niederen Wirbelthieren
bekannt ist, vergleichen. Was Reptilien und Vögel anbelangt, wäre
ich gezwungen, einfache Hypothesen vorzulegen, welche die vielen,
schon zu diesem Objecto aufgestellten vergebens vermehren würden,
und vielleicht auserkoren sein würden, von der einfachen Beobachtung
der embryonalen Thatsachen bald vernichtet zu werden.
Wir haben schon oben erwähnt, dass sowohl bei den niederen
Wirbeldiieren als auch bei den Säugethieren das Verhalten des pri-
mordialen Skelettypus der Eiemenbogen und der periotischen Eapsel
ein Gleiches ist. (Siehe in dieser Arbeit H. Abth., I, A.)
(188)
282 Gradenigo.
Die zwei ersten Eiemenbogen erscheinen zuerst in Form von
ungegliederten, an der Seite des Schädels gelegenen Stäben, welche
frei distal und proximal enden.
Die periotische Kapsel ist gewöhnlich bei ihrem ersten Deutlich-
worden unvollständig , und zeigt , der künftigen Vestibnlarwand ent-
sprechend, keine Spur von Fenstern.
Was die Veränderungen dieser primordialen Skeletelemente bei
den verschiedenen Wirbelthierclassen anbetrifft, ist Folgendes hervor-
zuheben :
Fische. Die periotische Kapsel weist durch das ganze
Leben keine Spur von Labyrintlifenstem auf.
Der Mandibular bogen zerfällt bei manchen Gattungen in
zwei Abschnitte , welche den Ober- und Unterkiefer bilden (Elasmo-
branchien); bei anderen geht der Oberkiefer nicht mehr in seiner
ganzen Ausdehnung aus dem mandibularen Bogen hervor, sondern
er wird von einem selbstständig entwickelten Knorpelstreifen vervoll-
ständigt (Parker).
Von dem proximalen Ende des Hyoidbogens trennt sich ein
Knorpelelement ab, welches einen grossen morphologischen Werth
besitzt, der sogenannte hyo-mandibulare Abschnitt.
Derselbe entspricht in manchen Fällen dem Endstücke des Hyoid-
bogens (Scyllium, Raja), in anderen dessen vorderem, der Länge
nach getrennten Abschnitte (Lachs).
Der Hyomandibulare verlässt später den Hyoidknorpel,
mit welchem er in einigen Fällen mittelst eines dazwischen liegenden
Knorpeltheils verbunden bleibt (i n t e r h y a 1 e), und tritt in inniges Yer-
hältniss zu dem Mandibularbogen einerseits und zu der periotisohen
Kapsel andererseits. Der hyomandibulare Abschnitt bildet also auf
diese Art eines der wichtigsten Befestigungsmittel des Mandibularbogens
an den Schädel. ^)
Bei Fischen können wir constatiren, dass ein Ab-
schnitt des proximalen Endes des Hyoidbogens (Hyo-
mandibulare) in inniges Verhältniss zu dem proximalen
Ende des Mandibularbogens tritt.
Amphibien. Das Verhalten des proximalen Endes der zwei
ersten Kiemenbogen bietet bei dieser Thierolasse ein erhöhtes Interesse.
^) Wir können mit Huxley drei Hanptfonnen der Befeatignng des Man-
dibularbogens an dem Schädel unterscheiden. Entweder wird der Unterkiefer
ausschliesslich durch Yermittlnng des Hyoidbogens an den Schädel befestigt
(hyostylisch, Scyllinm); oder aber befestigt sich der Mandibularbogen nicht
nur mittelst des Hyoidbogens, sondern auch direct an den Schädel (amphi-
styl lach); oder endlich erfolgt die Befeatigang ohne Yermittlung des Hyoid-
bogens (autostylisch). Diese letztere Yerbindungsart kommt bei den Amphi-
bien und den Cranioten vor.
(1S4)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische fiedeatong etc. 283
Bei einem nnd demselben Individuum weist das Eiemenskelet
die bewnndenmgswflrdigsten Verftndernngen in den versohiedenen Ent-
wicklnngsstadien auf; ausserdem tritt uns zum ersten Male die
Fenestra oyalis in ihrem primitiven Typus entgegen.
Dureh die Untersuchungen Parker's und Huxley's sind wir
zu einer genauen Eenntniss des Axolotl und des gemeinen
Frosches gelangt, die man als Typus der Urodelen, respective der
Anuren hinstellen kann.
Axolotus. In einem ersten Stadium ist die periotische Kapsel
nur an der Basis und der äusseren Fläche knorpelig. Später vervoll-
ständigt sie sich, und es bleibt nur an ihrer unteren Fläche lateral-
wärts eine halbmondförmige Spalte zurück (Fenestra ovalis). Diese
wird mit der weiteren Entwicklung mehr gegen aussen gedrängt und
von ihrem vorderen Rande geht gegen hinten eine dünne knorpelige
Lamelle ab, die in Form eines Lides an dem Fenster anliegt. Diese
Lamelle ist vorne und lateralwärts mittelst eines breiten Isthmus mit
der periotischen Kapsel verbunden; bald gliedert sie sich ab, und
isolirt sich als ein lanzettförmiger Abschnitt mit nach hinten gerichteter
Spitze (Stapes nach Parker).
Später erhält der Stapes die Form eines Zapfens, welcher mit
seinem breiten Ende das ovale Fenster besetzt hält. Was den man-
dibularen Bogen betrifft, so hängt er einerseits mit dem Schädel,
andererseits durch zwei Fortsätze (Processus oticus und Huxley's
Pediculus) mit dem vorderen Segment der periotischen Kapsel zu-
sammen. Ueberdies ist er mittelst eines Ligamentum mit dem Stapes
verbunden. Der Hyoidbogen stellt einen Elnorpelstab dar, welcher
vorne mit dem Quadratabschnitte des Mandibularbogens in Gelenk-
verbindung tritt, und welcher durch Bänder sowohl am Quadratum
als auch am Schädel befestigt ist.
Frosch. In einem der ersten Stadien ist die periotische
Kapsel von den anderen knorpeligen Elementen scharf unterschieden ;
das proximale Ende des Mandibularbogens liegt fest an der Oehör-
kapsel an. An dem unteren Theil der Kapsel beginnt bald die
Diffbrenzirung einer Spalte, welche sieh hierauf in eine unregelmässig
zugespitzte Lücke ausbreitet, und sich mit zarten Zellen indifferenten
Gewebes fUlt. Später verknorpelt dieses Gewebe und stellt uns den
Stapes mittelst Band an dem Fenster befestigt dar. Das proximale
Ende des Mandibularbogens hängt durch zwei Fortsätze, welche mit
denjenigen bei den Axolotl erwähnten homolog sind, mit der perioti-
schen Kapsel zusammen. Ein Theil des Processus oticus gliedert
flieh ab, und verwandelt sich später in denAnnulus tympanicus,
4er mehr als dreiviertel Kreis umfasst.
Der Hyoidbogen ist zuerst durch Gelenkverbindung, später nur
Ued. Jahrbftcher. 1887. 23 ^^^^
284 Grftdenigo.
mittelst einem Ligamentum an dem Quadratnm befestigt, und hftngt
anoh loeker mit dem Schädel zusammen.
Bei dem jungen Frosche kann man einen bestimmten Zug von
körnigem Gewebe vom Stapes aus nach vorne und lateralwärts ver-
folgen ; der siebente Nerv verläuft oberhalb desselben. Nach Ablauf von
ungefähr einem Monat kommt in diesem Gewebe ein zarter keulen-
förmiger Knorpelstab zum Vorschein, dessen verbreitetes Ende in den
vorderen zugespitzten Theil des ovalen Fensters hineindringt, welches
nicht vollständig von dem Stapes erfüllt ist. Die Enorpelzellen des
vordersten Endes dieser rudimentären Columella gehen unmerklich in
die Bindegewebszellen über. Zwei Monate darauf ist die Columella
vollkommen ausgebildet. Das hintere Ende ist in Form einer knor-
peligen ovalen Masse abgegliedert (Interstapedialis). Das Mittel-
stück, welches von einer knöchernen Hülle umgeben ist, wird meso-
stapedial genannt. Der vordere Abschnitt(Extrastapedialis) ist
gegen aussen zu abgerundet, und liegt an der hinteren Seite der oberen
Hälfte des Quadratums. Das Extrastapediale ist breiter und mehr ab-
geplattet als das Mesostapediale und tritt in innige Beziehung zu
dem faserigen Gewebe, welches das Trommelfell repräsentirt.
Bemerkenswerth ist die verschiedene Art der Entwicklung des
Stapes bei dem A z o 1 o 1 1 und dem Frosche. Bei dem ersteren gelangt
der Stapes erst secundär in das ovale FeDster hinein, während er
beim Frosche schon von vorneherein diesen Platz besitzt. Femer ver-
dient hervorgehoben zu werden, dass beim Axolotl eine eigentliche Colu-
mella mangelt, es wäre aber genau zu sehen, ob nicht ein Hyoidelement
an der Bildung des erwachsenen Stapes theilnimmt. Bei dem Meno-
branchus ist der Hyoidbogen durch sein oberstes Ende mit dem
Stapes verbunden (Huxley**), pag. 186).
Reptilien. Natter. Das ovale Fenster ist durch eine mem-
branöse Lamelle verschlossen , welche später mit dem Hyoidbogen zu-
sammen ein einziges Enorpelstflck bildet. Hinten von dem ovalen
Fenster lässt sich ein Anhang, die Anlage des runden Fensters, erkennen,
welches später vermöge eines Elnorpelstreifens von dem ovalen Fenster
sich trennt. Das proximale Ende des Mandibularbogens hat sich als
Quadratum von dem M e o k e l'schen Knorpel abgegliedert, und an die
lateralen Seite der periotischen Kapsel gelagert. Sein Processus
oticus reicht ungefähr bis zum hinteren Bogengänge, der Pediculus
ist kaum angedeutet. Das proximale Ende des Hyoidbogens verbindet
sich mit der Lamella stapedialis des ovalen Fensters, der Rest
des Hyoidbogens bleibt hinten als isolirter Absohnitt (Stilohyale) zurück.
Vögel. Die zarte Columella wurde vorzugsweise bei dem Haus-
huhn und der Cheliden nrbica mehr in Bezug auf ihre complicirte
Gestaltung, als auf ihre embryonale Abstammung studirt. Sie reprä-
sentirt ein äusserst zartes Element , welches mit einer knöehernen
(126)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedentnng etc. 285
ovalen Platte in der Fenestra ovalis sitzt. Gegen aussen zu
wird sie knorpelig, und setzt sich an das Trommelfell fest. Wir können
an ihr drei Fortsätze unterscheiden, den Superstapedials, welcher
an die obere Wand der Trommelhöhle sich befestigt; einen Extra-
stapedialis, welcher in Beziehung zu dem Trommelfell tritt, und
einen Infrastapedialis, welcher wahrscheinlich ein gegen unten zu
gewendetes Hyoidelement darstellt. Auch bei dieser Columella ist ein
Mandibularelement nicht sicher festzustellen.
Säugethiere. Aus meinen Untersuchungen geht hervor, dass
bei den Säugethieren drei morphologische Elemente in der Gehör-
knöchelchenkette zu unterscheiden sind. Das eine, das ovale Fenster
ausfüllend, stammt aus der periotischen Kapsel (Lamina stapedialis) ;
das andere bildet sich aus dem zweiten Kiemenbogen (Stapedialring)
und verschmilzt bei dem erwachsenen Thiere mit dem ersteren, um so den
Stapes herzustellen ; das dritte endlich rflhrt vom Mandibularbogen her
(Hammer, Ambos). Eine solche Auffassung gestattet, in sehr zufrieden-
stellender Weise die complicirtesten Probleme zu lösen , welche sich
uns bei den morphologischen Umwandlungen der Kiemenbogen durch
die ganze Wirbelthierreihe entgegenstellen.
Der Annulus stapedialis würde als das Homologen des
Hyomandibulare der Fische zu betrachten sein; wenn die An-
gabe Parker'S; dass der ganze Stapes bei Amphibien und Sauro-
psiden aus der periotischen Kapsel hervorgeht, bestätigt wäre, würde
folglich der Stapes dieser Thiere nur einen Theil des zusammen-
gesetzten Stapes der Säugethiere, d. h. die Lamina stapedialis,
darstellen.
Inmitten der Mannigfaltigkeit der Typen, nach welchen die proxi-
malen Enden der Kiemenbogen sich umstalten, können wir das Ver-
halten der drei erwähnten Elemente veifolgen.
Bei den Fischen, wo wegen Mangel des ovalen Fensters das
periotische Element sich noch nicht differenzirt hat, und andererseits
das Kiemenskelet in seiner grösseren Einfachheit uns entgegentritt, tritt
das vollständig isolirte hyoidale Element im unmittelbaren Zusammen-
hang zu 4cm noch nicht differenzirten Mandibularelement.
Bei den Amphibien tritt schon das periotische Element auf,
und setzt sich sofort mit dem hyoidalen Element in Verbindung. Die
Bedeutung der ColumeUa bei dem erwachsenen Frosch ist noch
immer Gegenstand gegentheiliger Meinungen.
Mit Kttcksicht auf die bei den Fischen vorkommenden Vorgänge
und die von mir bei den Säugethieren beobachteten Thatsachen, dürfte
die Columella, die sich einerseits mit den Stapes, andererseits mit
dem Mandibularbogen in Verbindung setzt, ein hyodales Element ent-
halten, analog dem Hyomandibular der Fische und dem Sta-
pedialring der Säugethiere.
23* ^^^
286 Gradenigo.
Wenn auch Pa rker die Herkunft der Columella aus dem Hyoid-
bogen nicht zu constatiren im Stande war, so hält er doch die ganze
Columella für das Homologen des Hyomandibulare. Die
Aehnlichkeit zwischen ihr und dem Hyomandibulare in ihrem Verhalten
zu den Nerven wird von Parker als kräftiger Beweisgrund zu
Ounsten semer Ansicht hervorgehoben.
Meines Erachtens kann nicht mit Bestimmtheit entschieden
werden, ob die ganze Columella oder nur ein Theil derselben dem
Hyomandibulare, respective demAnnulus stapedialis entspricht.
Jedenfalls kann ich mich den Ansichten Balfour's nicht anschliessen,
welcher das mit dem Quadratum frühzeitig in Zusammenhang tretende
obere Ende des primitiven Hyoids als das hyomandibulare
Element ansieht.
Auch bei der Columella der Natter stellt der hintere, von dem
Hyoidbogen herrührende Abschnitt, welcher mit der periotischen
Lamina stapedialis in Verbindung tritt, das Homologen des
Hyomandibulare der Fische und des Annulus stapedialis der
Säugethiere dar. Das vordere Ende der Columella sollte, sammt dem
l^uadratum im Zusammenhang mit dem Mandibularbogen gebracht werden.
In der Columella bei den Amphibien, Reptilien und Aves bleibt
das periotisohe Element bis zu einem gewissen Orade getrennt, und
«s ist höchst wahrscheinlich, da ganz bestimmte Kenntnisse in diesem
Oegenstande noch fehlen, dass die zwei Kiemenelemente, das h y o i d a 1 e
und mandibulare beim erwachsenen Thiere innigst miteinander
verschmolzen sind. Als Beweis daftlr dürften gewissermassen die Beob-
achtungen Dollo's, nach welchen das mandibulare Element in Form
des Hammers als isolirtes Oebilde schon beiLacertilla wahrzunehmen
wäre, besonders hervorgehoben werden.
Bei den Säugethieren hingegen findet die Verschmelzung sehr
frühzeitig zwischen dem hyoidalen und dem periotischen Elemente
statt, während das mandibulare immer getrennt in Form des Hammers
und des Ambosses bleibt.
Aus den erwähnten Tbatsacben ist Folgendes ersicMlicli :
I. um die Homologie der Derivate der proximalen Enden
' der zwei ersten Eiemenbögen und der periotisclien Kapsel fest-
stellen zu können, muss man dieselben zu der embryonalen pri-
mitiven vorknorpeligen Skeletanlage zurüokfiiliren , welcbe nacb
Parker und mir ein ähnliokes Verhalten bei den niederen, sowie
bei den höheren Säugethieren aufweist.
n. Bei den Säugethieren tragen, um die Gehörknöohelchenkette
zu bilden, drei morphologische Elemente bei : Mandibular- (Hammer
und Ambos), Hyoidal- (Annulus stapedialis), und periotisches Element
(128)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 287
(Lamlna stapedialis). Das periotisohe Element versclimilzt mit dem
hyoidaleD.
m. Das periotisclie Element feUt als isolirtes Gebilde bei
den Fiscben nnd beginnt erst bei manchen Amphibien, sicli von
der periotisolien Kapsel zu differenziren ; es würde nach P a r k e r 'a
Darstellung, bei Amphibien nnd Reptilien dnrch den ganzen.
Stapes repräsentirt sein.
IV. Bei den Vögeln ist nnr mit höchster Wahrscheinlichkeit
anzunehmen, dass in der Golumella alle drei obenerwähnten Elemente
miteinander verschmolzen sind.
V. Ich will noch hervorheben, dass das hyoidale Element^
welches sich nach meinen Wahrnehmungen bei Embryonen von
höheren Säugethieren fur's erste deutlich wird, auch das erste
ist, welches in der aufsteigenden Reihe der Wirbelthiere zum
Vorschein kommt, und dass das periotische Element, welches zu-
letzt bei Embryonen von höheren Säugethieren sich düferenzirt»
auch zuletzt in der Reihe der Wirbelthiere auftritt.
B. Morphologie der Gehörknöchelchen bei den Säugethieren.
Höchst wichtig ist es, in der ganzen Säugethierreihe die
Art und Weise zu verfolgen, wie die Gehörknöchelchen, der
Vervollkommnung des Gehörvermögens entsprechend, zur vollen
Ausbildung kommen. Bei der Mannigfaltigkeit der Typen können
wir die drei, die Gehörknöchelkette zusammensetzenden morpho-
logischen Elemente verfolgen, und niemals stossen wir auf eine
anatomische Thatsache, welche im Gegensatze zu der von mir
aufgestellten embryonalen Lehre stehen würde.
An der Hand einer erschöpfenden Arbeit Doran^s^^),
welcher in einer Reihe von wohlgelungenen Tafeln die Gehör-
knöchelchen der hauptsächlichen Säugethiergattungen abgebildet
hat, ist eine solche Durchprüfung wesentlich erleichtert. Aus dem
Studium der verschiedenen von den Gehörknöchelchen in der Säuge--
thierreihe dargebotenen morphologischen Charaktere sind wir in
der Lage Folgerungen zu ziehen, welche in inniger Beziehung
mit den embryonalen Entwicklnngsvorgängen der Gehörknöchel-
chen stehen.
(12»)
388 Oradenigo.
Wir können in der That constatiren:
I. Dass die Art und Weise, nach welcher sich der Typus
der Gehörknöchelchen von den niederen bis zu den höheren
Giassen der Wirbelthiere ausbildet, vollkommen mit der Art,
nach welcher dieselben Enöchelchen bei den Embryonen der
höheren Säugethiere zur Ausbildung kommen, übereinstimmt.
n. Dass zahlreiche anatomische Thatsachen, welche uns
beim Studium der Gehörknöchelchen der Wirbelthiere entgegen-
kommen, vollkommen mit der von mir aufgestellten Lehre der
embryonalen Entwicklung übereinstimmen , während sich die-
selben nicht mit der Huxley^schen Lehre in Zusammenhang
bringen lassen.
L Die Haupt^pen der Qehörknöohelohen bei Sängethieren.
Bei der vergleichenden Prüfung der Gestaltung der Gehör-
knöchelchen bei Sängethieren können leicht mehrere Haupttypen
unterschieden werden, von denen einige als primitive, niedere,
andere als besser ausgebildete, höhere Typen angesehen werden
dürfen.
Die eingehende Untersuchung zeigt, dass wenn auch in
den meisten Fällen die Enöchelchen eines gewissen Thieres
Charaktere darbieten, welche im Allgemeinen der Lage dieses
Thieres in der zoologischen Scala entsprechen, nicht selten der
von den Gehörknöchelchen dargebotene Typus nicht zu dieser
Lage in Beziehung steht. Dieses ist auch daraus ersichtlich,
dass zuweilen bei einer und derselben Familie einige Thierord-
nungen sehr niedere, andere verhältnissmässig höhere Charaktere
der Enöchelchen darbieten (Insectivora, Marsupi alia^).
Es ist nochmals auf Grund der embryonalen Entwicklungs-
art bewiesen , dass wir feststellen können , welche bei den
Gehörknöchelchen die Charaktere von Superiorität sind. Dem
') Bei Insectivora treffen wir fnöchelchen, welche den niederen der
Marsnpiftlia ähnlich sehen, nnd zuweilen die Charaktere der Knöchelchen
der Primaten darbieten.
Auch bei Marsupialia finden wir, neben Rnöchelchen, welche ausge-
sprochene niedrige Charaktere besitzen, andere, welche einen ziemlich hohen
Typus yertreten.
(180)
/
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morpliologisclie Bedeatnng etc. 289
entsprechend, was beim Embryo der höheren Wirbelthiere vor-
kommt, wo die complicirten individuellen morphologischen Cha-
raktere alhnälig in einer verhältnissmässig späten Entwicklungs-
periode zum Vorschein kommen, dürfen auch bei der Wirbel-
thierreihe die Specialisirung der Form, die Bildung der einzelnen
Fortsätze als Vollkommenheitsvorgänge angesehen werden.
Auf ein solches Kriterium gestützt, können wir constatiren,
dass der morphologische Typus nicht allein mit der zoologischen
Lage, sondern auch mit functionellen Höryerhältnissen des Thieres
in Beziehung steht. — So z. B. die C e t a c e a und manche R o-
dentia, welche ziemlich hoch organisirt sind, besitzen sehr
niedere Formen der Gehörknöchelchen, da ihre Lebensverhält-
nisse nicht die eigentliche Function der Knöchelchen, die [Jeber-
tragung der Schallwellen von der Luft auf das innere Ohr, be-
günstigeh.
Hammer. Der Hammer wird nebst dem künftigen Ambos
beim Embryo in seiner primordialen Gestaltung durch das kolbig
angeschwollene proximale Ende des ersten Kiemenbogens ver-
treten: erst später entwickelt sich der Handgriff, der kurze
Fortsatz, der musculare Fortsatz. — In einem noch späteren
Stadium vereinigt sich mit dem Hammerkörper der direct aus
der Umwandlung des Bindegewebes entstandene Processus
FolianuB.
Auf Grund dieser embryonalen Vorgänge betrachte ich als
primitiv den von Cetacea dargebotenen Typus des Hammers.
Der Hammer ist bei diesen Thieren sozusagen nur als Hammer-
körper, fast als eine Fortsetzung des mandibularen Knorpels vor-
handen; keine Spur von Griff, kaum eine Andeutung des Pro-
cessus muscularis.
Diesbezüglich stimme ich mit Doran nicht überein,
welcher als primordialen Typus des Hammers die Form,
welche bei dem Macropus anzutreffen ist, betrachtet, d. h.
kurzer Hals, kurze Lamina, massig entwickelter Handgriff u. s. w.
Diese Primitivform soll sich nach Doran nach zwei Haupt-
richtungen hin ausbilden: die eine Richtung ist durch die
starke Entwicklung einer nach vorne gewendeten knöchernen
Lamina und des Hammergriffes (Carnivora), die andere durch
(ISD
290 Gradenigo.
die Entwicklang des Körpers und des Kopfes (Homo und Qaa-
dnunana) gekennzeichnet
Ich stehe indessen nicht an , für den niedersten Typus des
Hammers die vom Haifisch nnd Delphinns dargebotene Form zu
betrachten ; ansser dem embryonalen Kriteriam, welches, wie ich
meine, als vollkommen massgebend anzusehen ist, finde ich mich
in dieser Behanptnng von folgenden Betrachtangen gestützt :
1. Es ist gerade bei den Cetacea, welche, wie die Fische,
im Wasser leben, dass die Hauptfanction der Grehörknöchelchen
(die Uebertragong der Schallwellen von der Laft auf das innere
Ohr) fehlt; weshalb der Hammer einen primitiven Typus dar-
stellen dürfte.
2. Bei der Cetacea zeigen auch andere Theile des Mittel-
ohres sehr deutlich ausgesprochene niedere Charaktere; nämlich
die niedere Gestaltung der zwei übrigen Knöchelchen, die Anky-
losis des Hammers mittelst dem Proc. gracilis mit dem
Annulus tympanicus, das häufige Vorkommen einer stapedio-
vestibulären Ankylosis u. s. w.
Die Entwicklung der verschiedenen Hammer-
fortsätze dürfte als ein Vervollkommnungsprocess
angesehen werden.
Bei den Carnivora und den Buminantia weist der
Hanmier im Allgemeinen einen kleinen und abgeplatteten Kopf>
und eine gut ausgesprochene, nach vorne gerichtete knöcherne
Lamelle auf. Bei Menschen und Quadrumana sind Kopf und
Hals verhältnissmässig gut ausgebildet; die Lamina fehlt ^nz-
lich, und wird nur vom Processus gracilis ersetzt. — Ich
schliesse mich an Doran's Meinungen an, nach welchen der
Typus, wo Kopf und Hals am besten ausgebildet erscheinen, als
Vertreter der höheren Form betrachtet wird, und dies nicht nur,
weil dieser Typus bei Menschen vorkommt , sondern auch , weil
der Typus laminatus sich durch die Form des Kopfes und
des Halses niederen Typen (Kanguroo) nähert. Bei manchen Thier-
Ordnungen, wo der Typuslaminatus vorwiegt, trifit der partielle
oder vollständige zufällige Mangel der charakteristischen Lamina
oft mit einer vermehrten Entwicklung des Kopfes und einer grösseren
Stärke des Halses zusammen (Herpestes und Suricata).
(18»)
Die embryonale Anlage des Mittelolures : die morphologische Bedentnng etc. 29 1
Beim RhinoceroB, Priodon und Eangaroo finden wir eine
Mittelform zwischen den zwei oben erwähnten Typen, nnd neben
einer mittelmässigen Entwicklung des Kopfes, des Halses nnd
des Hammergriffes existirt anch noch eine ziemlich entwickelte
Lamina.
Ambos. Der Ambos stellt zuerst beim Embryo nebst dem
Hammer das proximale Ende des ersten Eiemenbogens dar:
seine Fortsätze entwickeln sich in einem späteren Stadium.
In ähnlicher Weise wie für den Hammer finden wir auch
fdr den Ambos einen primitiven , vorwiegend von deren Körper
vertretenen Typus ; der lange Ambosschenkel ist jedoch im Gegen-
satze zu dem Verhalten des Hanunergriffes bei dem primitiven
Typus des Hammers, als die Fortsetzung nach unten des Ambos-
körpers, ziemlich gat angedeatet (Cetacea).
Bei den höheren Wirbelthierclassen erscheint der Ambos-
körper immer besser von den Fortsätzen begrenzt, der kurze
Fortsatz besser entwickelt, der lange Ambosschenkel dünner und
besser differenzirt.
Sonderbar ist die Thatsache, dass man auch bei niederen
Typen eine verhältnissmässig ansehnliche Entwicklung des Os
lenticulare trifit (Sirenia), welches, wie wir in dem embryo-
logischen Theil gesehen, nicht ein specielles morphologisches
Element, sondern nur das in späten Entwicklungsstadien abge-
sonderte Endstück des langen Ambosschenkels darstellt.^)
Auch für den Ambos kann man eine Reihe intermediärer
Typen unterscheiden.
Steigbügel. Der Stapes geht beim Embryo aus der Ver-
schmelzung eines hyoidalen (An. stapedialis) , und eines perioti-
schen Elementes (Lamina stapedialis) hervor.
Ich war bei meinen Untersuchungen nicht im Stande, ein
Stadium zu finden , bei welchem das hyoidale Element nicht als
Bing die Arteria stapedialis umgibt. Ich halte jedoch für
höchst wahrscheinlich, dass bei Säugethieren in einem sehr
^) Es ist noch zn bemerken, dass bei den Sirenia, wo das Os lenti-
culare mächtig entwickelt ist, die Function des Incns anf ein Minimum redncirt
sein dfirfte, da der kurze Ambosschenkel^ bleibend mit dem Os petrosum
anchylosirt ist.
(188)
292 Gradenigo.
kurzen, den von mir untersuchten intermediären Stadium das
proximale Ende des hjoidalen Bogens nicht in Beziehung zu der
Kapsel steht, sondern frei endet, wie dieses auch bei den
Fischen constatirt worden ist, und wie es fbr den ersten Kiemen-
bogen stattfindet. Mit der weiteren Ausbildung nimmt der Stapes
die individuellen Charaktere des erwachsenen Thieres allmälig
an; der Bing vertieft sich nach und nach in das Gewebe der
Lamina und verschmilzt mit dieser, welche, gegen das Labyrinth
vorgedrängt, dünner wird, so dass zuletzt die Ränder des An-
nulus nicht mehr in dem Centrum der Lamina, sondern
gegen die Peripherie zu liegen konmien. Die Lamina nimmt
eine mehr ovale Form an; der vordere und hintere Rand des
Ringes nehmen die Form und die Charaktere der Stapesschenkel
an ; das Loch wird grösser ; der Kopf und der Hals des Knöchel-
chens treten besser hervor.
Das Studium der Grestaltung der Stapes bei Säugethieren
bietet uns ein erhöhtes Interesse, indem es uns in der Reihe der
morphologischen Typen dieselbe Abstufung in den Ausbildungs-
charakteren zu constatiren gestattet, welche wir bei der embryo-
nalen Bildung des Steigbügels treffen.
Stapes columelliformis. Im Gregensatze zu dem, was
ich beim Embryo wahrnehmen konnte, treffen wir bei Säuge-
thieren eine ganz primitive Grestaltung des Stapes: den Stapes
columelliformis, sauropsidea, den undurchlöcherten Stapes.
An Stelle der zwei ein Loch begrenzenden Schenkel haben wir
eine Art Säule, welche meistens im Centrum einer circulären La-
melle sich anheftet; ihre Höhe misst manchmal nur die Hälfte
des Durchmessers der Lamina, wie sich das in Manis Dal-
manii (Squamata edentata) vorfindet.
Ich stimme auf Grund der embryologischen Kriterien dies-
bezüglich mit Doran's Ansichten überein, welcher den Colu-
melliformis stapes der Säugethiere als Vertreter nur eines
Theiles der Columella der Vögel hält. Wenn es nun, wie es
scheint, anzunehmen ist, dass die Columella der Vögel die Ver-
schmelzung der drei Elemente, welche bei Säugethieren die Ge-
hörknöchelchen bilden , repräsentirt — , so vertritt der Stapes
columelliformis nur zwei, das hyoidale und das perio-
(IM)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedeutung etc. 293
tische , verschmolzene ElemcDt , während das isolirte mandibu-
lare Element von Hammer und Ambos bei Säugethieren ver-
treten wird.
Der Stapes columelliformis findet sich bei manchen
niederen Wirbelthierfamilien (Marsupialia, Monotremata,
Edentata [Manus]) vor. Bei manchen Didelphya (Thyla-
cinus cynocephalus) zeigt die Basis des Columelliformis
Stapes eine eiförmige Gestaltung, welche einen höheren Typus
bedeutet.
Stapes bicruratus. Bei anderen Thieren ist die Säule
des Stapes im Begriff sich zu spalten, oder sie zeigt ein verhältniss-
mässig enges Loch. Bei Macrorhynus proboscideus, bei
manchen Didelphya ist die Divergenz der Schenkel nur gering,
und bei anderen Thieren dehnt sich die Spalte bis zu kurzer Ent-
fernung von der Lamina aus (Hystricomorpha, Ro-
de n t i a). — Bei den S i r e n i a gehen die Crura sehr wenig aus-
einander, besitzen verschiedene Dicke, so dass der vordere Schenkel
nur die Hälfte der Dicke des hinteren aufweist. — Die Basis ist
convex gegen den Vorhof. — Auch bei anderen Cetacea be-
grenzen die dicken Cmra eine sehr schmale Oeffnung, welche
manchmal fast obliterirt erscheint.
Bei höheren Säugethieren ist der Typus des Stapes mehr
erhöht; die Lamina ist oval, nicht zu sehr convex gegen das
Vestibulum, die Crura gehen weit auseinander, und heften sich an
die Peripherie der Lamina an. Das Köpfchen des Stapes ist
deutlich von den übrigen Enöchelchen abgegrenzt.
Es ist bemerkenswerth , dass in manchen Fällen, wo der
sehr grob gebaute Stapes niedere Charaktere aufweist, und wo
seine BewegungsfsLhigkeit wegen Ankylosis der Basis mit den
Rändern des ovalen Fensters aufgehoben erscheint (Walfisch), ein
knöcherner Fortsatz zur Anheftung des M. stapedius an dem Kopf
des Enöchelchen gut ausgesprochen ist.
Arteria stapedialis. Die A. stapedialis, welche beim
Embryo der höheren Säugethiere einen vollständigen Involutions-
vorgang eingeht, verbleibt bei manchen Thieren das ganze Leben
hindurch.
(186)
294 Gradenigo.
Otto') beschrieb zuerst die Arteria stapedialis beim Er-
wachsenen. Er fand sie bei Winterschlaf haltenden Thieren nnd
nahm an, dass es eine Beziehnng zwischen dem Yerlanf dieses Ge-
fasses nnd der Function der Hibernation geben könnte.
Hyrtl") beschrieb sie bei Cheiroptera, Insecti-
vora, Lemurida und bei manchen Rodentia; er nannte sie
Art. stapedialis; er wies nach, dass dieselbe einen Theil des
Gehirns, die Augenhöhle und ihren Inhalt und den ganzen Ober-
kiefer mit Blut versorgt. Er gibt als Homologe dieses Grefasses
bei Menschen an : a) Arteria accessoria meningea med.ia,
mit einem ungewöhnlichen Verlauf; b) die Arteria stjlo-
mastoidea und c) einen dünnen Ast der Anastomosen, welche
sich zwischen der Arteria mastoidea und der Arteria
Vidiana zu bilden pflegen.
Die Arteria stapedialis wurde von MeckeP) bei
Erinaceus L. und Mjoxis beschrieben (Insectivora un[d
Bodentia), und als Carotis interna angesehen.
Die Arteria wird oft in ihrem Durchgehen durch den Stapes
von einem knöchernen Canal umgeben, welcher somit beide Gmra
verbindet.
Fräser^«) beschreibt in seiner werthvollen Arbeit die
bleibende Arteria stapedialis bei der erwachsenen Maus in
folgender Weise:
Die Carotis communis theilt sich in der Höhe des
obersten Abschnittes der Trachea in zwei Aeste : der laterale Ast,
auf den Unterkiefer verlaufend, gibt die Arteria facialis,
der mediale ist ein kurzes Grefäss, welches sich in zwei Aeste
theilt, wovon einer zwischen der tympanalen Bulla und dem
Sphenoideum basilare durchgeht (Carotis interna), und
der andere, breitere in die lympanale Höhle eindringt, den Stapes
durchgeht, unterhalb dem Ramus maxillaris des 5. Nerves
verläuft und mit Aesten in dem Gesicht endet.
Do ran ^®) bemerkt, dass die Anordnung der Gefässe, welche
aus der Arteria stapedialis abstammen und die Strecke,
längs welcher die Arteria vom knöchernen Canale umgeben ist
bei den einzelnen Familien verschieden sind.
(1S6)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeatnng etc. 295
Nach meinen UnterBnchongen würde die bleibende A r t e r i a
stapedialis die Bedeutung eines rudimentären Abschnittes
einer, dem zweiten Eiemenbogen gehörigen Arteria branchialis
(hyoidale Arterie) besitzen.
In ähnlicher Weise, zu dem was man im Embryo zu
beobachten bekommt, ist das Maass der Breite der stapedialen
Oeffnung nicht zum Vorhandensein dieser Arteria in Beziehung
zu bringen. Bei Lemuriden, wo sich auch ein knöcherner Canal
vorfindet, gehen die Crura wenig auseinander. Es ist anderer-
seits nicht zu leugnen, dass bei Thieren, welche einen durch-
löcherten Steigbügel besitzen, eine Arteria stapedialis bei
der embryonalen Entwicklung vorhanden ist.
II. Anatomische Merkmale der Qebörknöchelchen, welche sich
zur Entwieklungsweise derselben in Beziehung bringen lassen.
Die anatomischen, von den Gehörknöchelchen dargebotenen
Thatsachen können:
a) zu dem mandibularen Element,
ß) zu dem hyoidalen und periotischen Element
in Beziehung gebracht werden.
a) Mandibulares Element.
Wir finden Thatsachen, welche als Beweis betrachtet werden
können, dass der Ambos innig in seiner Entwicklungsart mit dem
Hammer, und nicht mit dem hyoidalen Element zusammenhängt.
1. Malleo-incudalis Ankylosis.
Bei der embryonalen Entwicklung vollzieht sich die Trennung
des Hammers vom Ambosse in einem verhältnissmässig späten
Stadium, und zwar nach dem Auftreten des Enorpelgewebes. Nun
kommt bei manchen niederen Säugethieren eine solche Trennung
normal nie zu Stande.
So kann bei Echidna (Monotremata) normal eine An-
kylosis des Hammers mit Ambos constatirt werden. — Eine solche
Ankylosis kommt manchmal auch bei erwachsenen Individuen von
Ornithorhynchus vor.
Auch bei manchen Gattungen der Rodentia ist der
Hammer mit dem Ambosse ankylosirt; eine Malleo •incudalis
(187)
296 Gradenigo.
Ankylosis zeigt sich häufig bei Dypus und yielleicht stets bei
Pedetes.
Beim Stachelschwein (H y s t r i c i d e n) ist die Yerscbmelzungs-
fläche der zwei Enöchelchen sehr ausgebreitet, und die Trennungs-
linie kaum bemerkbar. Bei den Octotontiden (Anlacodus
Bwinderuianus) ist die Trennungslinie fast verschwommen. —
Bei dem Capromys pilorides ist die Verschmelzung der zwei
Enöchelchen so vollständig, dass hinten die Trennungslinie ver-
schwunden ist.
Eine Malleo - incudalis Ankylosis lässt sich überdies bei
Myopotamus (Hyrtl), Ghinchillidae (Chinchilla lani-
gera Rodentia) und Dasiproctidae (Rodentia) nach-
weisen. Die Begrenzugslinie zwischen Hammer und Ambos wäre
bei diesen letzten Thieren nach Doran besser oben und vorne
ausgesprochen. Das würde auch mit meinen Wahrnehmungen beim
Embryo übereinstinmien, wo sich zuletzt die unteren und hinteren
Abschnitte der Gelenkflächen trennen.
Nach Hyrtl indess wäre die Begrenzungslinie besser gegen
unten zu bemerkbar.
2. DerAmbosmodificirt sich in ähnlicher Weise
wie der Hammer.
Beim Embryo entwickelt sich der Ambos in ganz ähnlicher
Weise wie der Hammer, und tritt erst in einem secundären
Stadium im Yerhältniss zu dem hyoidalen Element (Annulus
stapedialis). Demgemäss constatiren wir, dass die morpho-
logischen von dem Ambosse dargebotenen Charaktere im AUge-
gemeinen denjenigen vom Hanuner aufgewiesenen entsprechen;
und dass der von den zwei ersten Knöchelchen dargebotene Typus
sehr abweichend vom Typus des Stapes sein kann.
Bei dem Crysochloris, wo der Körper des Hammers so
mächtig entwickelt ist, dass derselbe als ein viertes Ejiöchelchen
angesehen wurde, erscheint der mit einem sehr langen Körper
versehene Ambos in analoger Weise modificirt, während der Stapes
keine speciellen Charaktere aufv^eist.
Bei Manis (Edentat a) sind Hanuner und Ambos genug
entwickelt, der Stapes absolut columelliformis. — Bei Thyla-
cinus cynocephalus (Didelphya) ist der Stapes columelli-
(188)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologisclie Bedentong etc. 297
formis, während Hammer und Ambos mit gut ausgesprochenen
Fortsätzen versehen sind und daher einen yiel höheren Typus
repräsentiren.
Bei den Cheiropteren (Vesperigo serotinus) ist
indess der Bicruratus Stapes mit einer breiten Oeffiiung
interessant, wenn man den niederen von den übrigen zwei
Enöchelchen dargebotenen Typus beachtet. Auch bei Mäusen
stellt der Stapes einen sehr höheren Typus als Hammer und
Ambos deutlich dar.
3. Ankylosis des Hammers mit dem Os tympa-
nicum.
Bei der Beschreibung des Annulus tympanicus bei
Menschen habe ich bemerkt, dass derselbe durch seine Ent-
stehungsweise zu dem mandibularen Knorpel als Deckknochen in
Beziehung hätte gebracht werden können. — Die Thatsache, dass
bei Walfisch (Cetacea), Myogale moschata (Insectivora)
und Kanguroo der Hammer mittelst dem Processus gra-
c i 1 i s mit dem Os tympanicum ankylosirt ist, könnte vielleicht
mit dem erwähnten embryonalen Zustande in Zusammenhang ge-
stellt werden.
ß) Hyoidales und periotisches Element, welche beim Erwachsenen
in Stapes verschmelzen.
1. In manchenFällen sindauch bei erwachsenen
Individuen mehr oder weniger deutliche Spuren der
Verschmelzung zu bemerken.
Der Stapes entsteht durch die Verschmelzung des A n n u 1 u s
mit der Lamina stapedialis; die Spuren solcher Verschmel-
zung verlieren sich allmälig mit der Ausbildung des Enöchelchens.
Wir können ausnahmsweise auch bei erwachsenen Thieren,
bei Menschen sogar deutliche Spuren dieser Verschmelzung con-
statiren.
Urbantschitsch^) bemerkt, wie bei Menschen der obere
Band beider Schenkel sich mitunter in einer Crista fortsetzt, welche
') Zur Anatomie der Gehörknöchelchen des Menschen. Arch. f. Ohrenhlk.
XI. Band.
(189)
298 Gradenigo.
die Crara stapedis miteinander verbindet, oder diese Crista
ist nnr an der Basis beider Schenkel vorhanden, und verliert sich
aUmälig gegen die Mitte der Platte. Diese von Urbantschitsch
erwähnte Grista ist als Rest des medialen Bandes des Annalas
Stapedialis za betrachten. — Bei den Typen, welche den Ueber-
gang von der colamelliformis za dem breiten bicraraten
Stapes der höheren Säagethiere darstellen, kann man bemerken,
dass die wenig auseinandergehenden Schenkel nicht an die Peri-
pherie, sondern gegen das Gentrum der Platte sich anheften ; die
Basis behält auf solche Weise auch bei erwachsenen Thieren eine
specielle Individualität bei.
2. Stapes bullatus.
Bei dem embryonalen Entwicklungsgang des Stapes vertieft
sich der mediale Rand des Annulus nach und nach in das Ge-
webe der Lamina, so dass diese convex gegen das Labyrinth
vorgedrängt wird. Nun existiren Spuren solcher Convexität bei allen
Typen des erwachsenen Stapes ; in manchen Fällen ist sogar eine
förmliche, gegen das Vestibulum vorgedrängte Bulla zu be-
obachten (Stapes bullatus).
Urbantschitsch^) bemerkt in seiner oben erwähnten
Arbeit Folgendes: „Die Steigbügelplatte ist bei Menschen gegen
den Yorhof meistens schwach convex (Huschke), und zeigt
manchmal, entsprechend der Ansatzstelle beider Schenkel, kleine
buckelige Vorsprünge. Die äussere Seite der Platte ist in der
Regel napfförmig vertieft (Cassebohm). Die Gestalt der Ränder
(der Steigbügelplatte) kann zum Theil von der Art und Weise
des Ueberganges der beiden Schenkel in die Platte abhängig
sein. Nur selten bildet die Basis der Schenkel gleichzeitig das
vordere, beziehungsweise hintere Ende der Platte, sondern ist von
diesen meistens durch einen schmalen Enochensaum getrennt,
welcher häufig verdickt und den Schenkeln wieangeschmolzen
erscheint. ^
Oft wandelt sich die Gonvexität der Stapesplatte zu einer
eigentlichen blasenförmigen Anschwellung um. Bei Roden tia
fossilia (Geomys) drängt die Stapesplatte fast wie Bulla in
') 1. c.
(140)
Die embryonale Anlage des liittelolires : die morpliologisclie Bedeutung etc. 299
das ^estibalnm. Auch bei Spalax ist die Stapesplatte sehr
convex. Bei Phalangista Cookii erscheint bei den Gola-
melliformes Stapes eine breite, angeschwollene, gegen
den Vorhof gewendete Bulla, welche schon von Hyrtl er-
wähnt wurde.
Einem Stapes bullatus gebührt eine grosse morpho-
logische Bedeutung, weil er, möchte ich sagen, sporadisch bei
anderen Thierordnungen Mustella (Carnivora) — Hyrax
(Pachydermata) — zum Vorschein kommt (Doran).
3. Ankylosis der Stapesplatte mit der vesti-
bularenWand, und des Annulus stapedialis mit dem
Hyoidbogen.
Die Lamina stapedialis entsteht aus der periotischen
Kapsel, der Annulus aus dem Hyoidbogen. Bei manchen Thieren
ist eine solche Entstehungsweise noch durch directe Verbindung
der respectiven anatomischen Elemente zu sehen. Die Stapesplatte
ist in der That knöchern mit der vestibulären Wand bei den
Cetacea ankylosirt, und andererseits setzt sich der Annulus
stapedialis durch Knochengewebe in den Hyoidknochen fort
(Hatteria, Zealand, Lizard). ^)
B. Aus erwähnten Thatsachen können nachstehende Folge-
rungen gezogen werden:
I. Die verschiedenen morphologischen Typen der Gehör-
knöchelchen bei den Säugethieren können auf Qrund von aus der
embryonalen Entwicklungsart gezogenen Kriterien classificirt werden.
1. So wie beim Embryo, stellen auch bei der Säugethierreihe
die Entwicklung und die bessere Ausbildung der einzelnen Fort-
sätze des Hammers und Ambosses Vervollkommnungsvorgänge eines
primitiven Typus dar.
2. So wie beim Embryo stellt auch bei der Säugethierreihe
bezflglich des Typus des Stapes die Vollendung der Verschmelzung
der zwei den Stelgbflgel zusammensetzende morphologische Elemente
VeryoUkommnungsvorgänge dar.
H Bei Gehörknöchelchen in der Säugethierreihe sind ana-
tomische Merkmale zu treffen , welche an die embryonalen Ent-
wioklungsvorgänge erinnern.
*) Vergl. Günther, Phüos. Transact. 1867, pag. 595—629.
Ued. Jahrbücher. 1887. 24 (^^i)
300 öradenigö.
a) Die innige Affinität des Hammers nnd des Ambosses als
Derivaten des mandibularen Bogens wird repräsentirt :
1. von dem häufigen Vorkommen einer Malleo-incndalis-An-
kylosis ;
2. von dem gleicben Verhalten der Charaktere des Hammers
nnd des Ambosses, während der Stapes ein specielles Verhalten
aufweist.
ß) Die Zusammensetzung des Stapes aus zwei morphologischen
Elementen wird repräsentirt :
1. vom Verbleiben deutlicher Spuren auch bei erwachsenen
Thieren, und sogar bei Menschen, der erwähnten Verschmelzung;
2. vom Vordrängen der Stapesplatte gegen den Vorhof;
3. von der manchmal auftretenden Ankylosis der Stapesplatte
mit den Rändern des ovalen Fensters und des Annulus stapedialis
mit dem Hyoidknorpel.
Anhang.
Beziehnngen der embryonalen Entwicklungsvorgänge zu der
Teratologie nnd Pathologie des Ohres.
Die von mir in dieser Arbeit dargestellten embryonalen Ent-
wicklungsvorgänge hängen innig mit einer Reihe Fragen, welche uns
die Teratologie und die Pathologie des Ohres darbietet, zusammen.
Die Grenzen, welche ich mir bei dieser Arbeit vorgeschrieben
habe, gestatten es mir nicht, eine ausführliche Rede über so wichtige
Gegenstände zu halten ; ich will dieses Thema jedoch nur kurz andeuten,
indem ich mir vorbehalte, den Gegenstand in einer umfangreicheren
Publication zu behandeln, für welche ich jetzt die Materialien sammle.
A. Was die Teratologie betrifft, können wir die Entwicklungs-
anomalien der Trommelhöhle bei Seite stehen lassen, weil deren Ent-
stehungsweise nach den verschiedensten embryologischen Theorien leicht
erklärt werden kann.
Da Hammer und Ambos aus einem und demselben morphologischen
Element hervorgehen, sind- die combinirten Defecte oder die abnormen
Verhältnisse dieser zwei Enöchelchen, welche Anomalien oft mit einer
Verkleinerung des Unterkiefers zusammengehen, gut und völlig zu er-
klären, während der Stapes in solchen Fällen vollkommen gut aus-
gebildet vorzukommen pflegt.
Die oft auftretende Ankylosis dieser zwei Enöchelchen findet
ihren Grund in der Art, nach welcher sich die Trennung beider
Enöchelchen beim Embryo vollzieht, und bietet bei Menschen ein
ähnliches der bei manchen Thieren normal vorkommenden Verhältnisse.
(142)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 30 1
Das Auftreten bei Measchen des Columelliformis oder dos
gegen den Vorhof blasenförmig angeschwollenen Stapes (Stapes
bul latus), bei vollkommen ausgebildetem Hammer und Ambos, lässt
sich ganz gut in Einklang mit den von mir dargestellten morpho-
logischen und embryonalen Vorgängen bringen. Alle diese Thatsachen
lassen sich nach Huxley'scher Lehre absolut nicht erklären.
B, Was die Pathologie betrifft, will ich nur einige allgemeine
Thatsachen betonen.
Bei dem Gehörorgan können wir, vom embryologisohen Stand-
punkte aus, einen ectodermatischen, von den Derivaten der primitiven
Labyrinthblase repräsentirten Abschnitt (häutiges Labyrinth),
und einen mesodermatischen , von den Derivaten des mesoblastischen
Gewebes, welches die primitive Labyrinthblase umgibt, vertretenen
Abschnitt (äusseres und mittleres Ohr, periotische Kap-
sel) unterscheiden.
An der Entstehung des äusseren und mittleren Ohres nehmen
auch epitheliale Gebilde theil. Nach solcher Auffassung wird eine
grosse Partie des im anatomischen und klinischen Sinne genannten
„inneres Ohr", von einem Gewebe gebildet, welches dieselbe Ent-
stehungsweise wie die Gebilde des Mittelohres anerkennt. Diese That-
sache bietet eine grosse klinische Bedeutung, weil zwischen dem mitt-
leren und inneren Ohre eine innige Verbindung, nicht nur durch
Blutgefässe, sondern auch durch die Lymphräume des Bindegewebes
festgestellt wird. Solche Verbindung übt jedenfalls einen Einfluss auf
den Verlauf der pathologischen Vorgänge des Ohres aus.
Wenn man im Sinne C o h n h e 1 m's die Theorie der physiologischen
Widerstandsfähigkeit der Gewebe und des Antagonismus der
Entwicklung zwischen Bindegewebselementen und functionirenden .
Epithelien annimmt, auf deren Grund ich in einer vorhergehenden
Arbeit die Pathogenie einer schweren Muskelkrankheit vom embryo-
nalen Ursprung festzustellen versucht habe ^), findet die oben erwähnte
Unterscheidung eine wichtige Application auf die Pathologie des Ohres.
Die Otitis media sclerotica s. hyperplastioa stellt eine
sehr schwere Krankheit dar, welche zugleich das Mittel- und innere Ohr
trifft. Diese Krankheit, welche vor keinem Alter RQcksicht trägt, welche
keine occaslonelle Ursache erkennen lässt, deren unmerkbarer Anfang,
deren fatal vorschreitender Verlauf jeder Behandlung widersteht, bietet
alle Charaktere einer Krankheitsform embryonalen Ursprungs dar.
Die Symptome, die sich diesem schleichenden Leiden anknüpfen,
sind zu wenig charakteristisch, um zu gestatten, dass man es von
einer Reihe anderer Adhäsionsprocesse vom klinischen Standpunkte
unterscheiden kann, welche nach eigentlichen Entzündungsvorgängen
secundär eintreten.
') Contribozione alla Patogenesi della Psendoipertrofla mnscalare pro-
gi-essiva. Annali Univ. di Med. Vol. 265; Deutsche Medicinal-Zeitung. 18. »ett. 1881.
24* (WB)
302 Gradenigo.
Bei der anatomiBchen Untersuchung trifft man Hypertrophie und
diffuse Sclerosis der Bindegewebselemente des mittleren und inneren
Ohres, mit secundären Veränderungen der functionirenden epithelialen
Elemente. Ein fast charakteristisches Merkmal dieser Affection liegt
darin, dass das ovale Fenster und die umgebenden Theile des Mittel-
ohres einen Lieblingssitz der obgenannten Erankheitsvorgänge sind.
Die Auffassung der embryonalen Pathogenie dieser Krankheit wird
von allen erwähnten Symptomen gestützt; ein mächtiger Beweis zu
Gunsten einer solchen Hypothese wird von der Thatsache geboten,
dass gerade da, wo, nach meinen Wahrnehmungen in einer der ersten
embryonalen Perioden verwickelte Gliederungs- und Verschmelzungs-
Vorgänge vor sich gehen, auch mit grösserer Häufigkeit charakteristiche
Veränderungen zu constatiron sind.
Ich bin überzeugt, dass noch eine Reihe von nicht in ihrer
Physiopathologie genug bekannten Krankheitsvorgängen des Mittelohres
in Beziehung zu den embryonalen Entwicklungsvorgängen gebracht
werden dürften.
Ich habe versucht, nur auf Grand der Resultate eigener Be-
obachtungen und in Anbetracht der hauptsächlichen über diesen
Gegenstand bisher aufgestellten Theorien eine vollständige Lehre
über die erste Anlage und die ersten embryonalen Entwicklungs-
stadien des Mittelohres und der periotischen Kapsel zusammen-
zustellen. Alle Sorgfalt wurde darauf verwendet, die Resultate
meiner Wahrnehmungen mit den Thatsachen der vergleichenden
Anatomie und der Pathologie in Vergleich zu stellen: die voll-
ständige Uebereinstimmung der einen mit den anderen dürfte,
meines Erachtens, als eine schätzenswerthe Bestätigung der er-
zielten Lehre angesehen werden.
Die hauptsächlichsten Resultate meiner Arbeit lassen sich
wesentlich in folgenden Sätzen resumiren:
I. Bei Menschen und höheren Wirbelthieren tragen drei
morphologische Elemente bei, die Gehörknächelchenkette zu bilden,
nämlich: a) mandibulares (Hammer und Ambos), b) hyoidales
(Annulus stapedialis), c) periotisches Element (Lamina stapedialis).
Der Stapes geht aus der Verschmelzung der zwei letzteren Elemente
hervor.
n. Die drei, die Gehörknöchelchenkette zusammensetzenden
Elemente können bei der Mannigfaltigkeit der morphologischen
Typen bei den verschiedenen Familien der Säugethiere und bei
den übrigen Wirbelthieren verfolgt werden.
(144)
Die embryonale Anlage des Mittclohrea : die morphologische Bedent-ing etc. 303
III: Die tubo-tympanale Höhle geht aus dem seitlichen Ranme
hervor, welcher zwischen den zwei ersten Kiemenbogen und der
Schädelbasis entsteht.
Bibliographie.
Man vergleiche ausser den unten bezeichneten Werken die Handbächer
Balfonr's, Politzer's, Grnber's, ürbantschitscVs u. A.
1. 1824. Hutschke, Beiträge znr Physiologie nnd Naturgeschichte. Weimar.
2. 1826. Otto, Koya Acta Academiae Caesar. Leopold. Carola. T. XIÜ, pag. 25
(Arteria stapedialis).
3. 1828. Meckel, Carotis nnd Steigbügel. Mäller*s Archiy.
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5. 1832. Rathke, Ueber den Kiemenapparat und das Zungenbein der Wirbel-
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11. 1839. H. Rathke, Entwicklung des Nattern. Königsberg.
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15- 1855. Bruch, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Knochengewebes.
16. — Bruch (1863—67), Untersuchungen über die Entwicklung der Gewebe
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19. 1862. Magitot u. Robin, Annales des sdences naturelles. Serie IV, XVm,
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26. — 1876. On Ceratodus Forsten. Proceed. Zoolog. Society.
27. — 1876. The Natnre of the craniofacial Apparatos of Petromyzon. Journ.
of Aiiat. a. Phys. Bd. X.
28. W. K. Parker. 1869. On the stmctare and developpement of the sknll in
the 6 alias Domes ticns. Phllos. Trans.
29. — 1871. The skull of Rana temporaria (Frosch). Ibidem.
30. — 1873. The skoU of salmo salar. Backerian Lectnre. Phil. Transact.
31. — 1874. The sknll of Sas schrofa (Schwein). Ibidem.
32. — 1876. The skull in the Batrachia. Philos. Trans. 11. Theil.
33. Parker u. Bettany, The Morphologie of the skull. London 1877.
34. Parker. 1877. The sknll in Urodelous Amphibia. Philos. Trans. UI. TheiL
36. — 1878. Tropidonotus natrix. Ibidem.
36. — 1878. The sknll in Sharks a. Skates. Transactions Zoolog. Society. Bd. X.
37. — 1879. The skull of LacertiUa. Philos. Trans.
38. — 1879. The develloppement of the Green Tmthe in the Zoologie of the
voyage of H. M. S. ChaUager. Bd. I, V. Th.
39. — 1882. Proceed. zool. Society.
40. 1870. Eysell, Archiv f. Ohrenheilk. Bd. V, pag. 237 (stapediovestibulares
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41. 1872. 0. Baraldi, Alcune osservazioni suila craniogenesi dei mammiferi.
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42. — Strelzoff, üeber die Bildung des Knochengewebes. Leipzig.
43. — C. Gegenbaur, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie d.
Wirbelthiere. III. Heft. Das Kopfskelet d. Selachiem. Leipzig.
44. — Semmer, Unters, über d. Entw. d. Meckerschen Knorpels n. seiner
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45. 1873. Consult sommary an the end of Prof. Parker*» mcmoir. Phil. Trans.
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47. 1874. Politzer, Proc. Styloideus in Beiträge z. Anat. n. Physiol. Als Fest-
gabe Carl Ludwig zum 15. October 1874 gewidmet. Vogel, Leipzig
I. Heft, pag. XXX. — Archiv f. Ohrenh. Bd. X. — Handb. d.
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48. — Henke u. Beyher, Studien Über die Entwicklung d. Extremitäten
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49« — Peters, Ueber die Gehörknöchelchen und ihr Verhalten zumZungeu-
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50. 1875. AI. Götte, Entwicklungsgeschichte d. Unke. Leipzig 1875.
51. — Baraldi, Omologia fra gli organi accessori della respirazione dei
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Die embryonale Anlage des Kit telolires : die morpliologiäclie Bedentnng efe. 305
52. 1875. Stieda, Entwicklang des Unterkiefers n. Meckerschen Knorpels.
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53. — Steudener, Beiträge zur Lehre von der Knochenentwicklnng nnd
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55. — Brnnner, Beiträge znr Anat. n. Histologie des mittleren Ohres. 1876.
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58. — C. E. Hoffmann (Tnbo - tympanaler Kaum), Archiv f. mikroskop.
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59. 1877. Wieder s heim, Morphol. Jahrb. Bd. in.
60. — Gruber, Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Steigbügels und
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theil, aus Prof. Schenk's embryolog. Institute. II. Heft. — Be-
richt der 50. Naturforscherversamml. München.
61. — G ruber. Zur Entwicklungsgeschichte des Hörorganes der Säugethiere
und des Menschen. Monatsschr. f. Ohrenh. 1878, Nr. 5.
62. — Moldenhauer: Morpholog. Jahrb. Bd. III, pag. 106.
63. — ürbantschitsch, Üeber die erste Anlage des Mittelohres u. des
Trommelfells. Schenk's Mittheilungen. 1877, 1. Heft.
64. — Hunt, American Journal of the Medical Sciences.
65. 1878. Löwe, Medizinisches Gentralblatt. Nr. 30.
66. — Doran, Linnean Society Trans. 1878. Vol. 1.
67. — Bernays, Morph. Jahrb. Bd. IV, pag. 403.
68. — Gegenbauer, Vergleich. Anat. 1878, pag. 561 u. 493.
69. — Nagel, Die Entwicklung d. Extremitäten d. Säugethiere. Inaugnral-
Dissertation. Marburg.
70. — S. Pouchet, Du d^veloppement du squelette des. poissons osseux.
Joum. de l'anat. et de la phys.
71. 1879. Parker u. Bettany, Morphologie d. Schädels. Deutsch v. Vetter.
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72. — Ürbantschitsch, Beobachtungen Über die Bildung d. Hammer-
Ambos-Gelenkes. Mittheil, aus dem emViryol. Instit. d. Prof. Schenk,
in. Heft.
73. — Schulin, Archiv f. Anat. u. Physiol. Anat. Abtheil.
74. — Kassowitz, Normale Ossification u. s. w. Stricker's Medic. Jahrb.
III. u. IV. Heft.
75. 1880. Salensky, Morphologisches Jahrb. Bd. VI, pag. 413.
76. — Salensky, Zoologischer Anzeiger. 11. Jahrg., Nr. 28, pag. 250.
77. — Stöhr, Zur Entwicklungsgeschichte des £op£skeletes der Teleostier.
Festschrift zur dritten Säcularfeier der Alma JuUa Maximiliana v.
med. Facultät zu Würzburg. Bd. IL
78. 1881. H i s , Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 4., 5. Heft, pag. 319 u. ff.
79. 1882. Fräser, Philosoph. Transactions.
(147)
306 Öradenigo.
80- 1882. Rfldinger; Zar Anatomie des Gehörorgans.
81. 1883. No Orden, Ardiiv f. Anat. n. EntwicklungsgeBcliichte. Anat. Abt
1883, pag. 235-265.
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Bones of Manunalia. Qnaterly Jonmal of mikrosk. Sdenoes.
N. S. XCn, pag 579.
Erldarong der Abbildimgen.
Aue Figoren warden Präparaten, welche nach den im allgemeinen Theile
dieser Arbeit angegebenen Methoden yorbereitet worden sind, entnommen. Die
bsieichneten Vergrössemngen beziehen sich anf die folgenden Reichert'schen
Systeme:
Vergr. 24 = Object 2 Oc. H, \
„ 30 = „ 2 „ III. I Bei 135 Mm.
« 200 » „ 5 « UI, I Tnbnslänge.
„ 25= , la , HI. )
Die Bachstaben beziehen sich in allen Figoren anf die lateinischen Be-
nennungen.
Mn, = I. Kiemenbogen, mandibularer Zellenstrang respeetive Knorpel,
Meckel'scher Knorpel.
Hff. = 11. Kiemenbogen, hyoidaler Zellenstrang resp. Knorpel; Reicher t-
scher Knorpel.
Pr. Or, 3= Processus orbitalis des 1. Kiemenbogens.
Cap, la. » Periotische KapseU
Ca. ca. 8, =: Der Abschnitt der periotischen Kapsel , welcher die Bogen-
gänge enthält.
Pr,p. s Processus perioticus.
Ch. d, = Chorda dorsalis.
M. SS Hammer.
Ca. Ma, sss. Hammerknpf.
Ma. Ma, = Hammergriff.
/. = Ambos.
7. pr, l, = Langer Ambosschenkel.
Lpr.br. SB Kurzer Ambosschenkel.
St. = Steigbfigel.
An. 8t, =s Stapedialring.
La. 8t. ssLamina stapedialis.
Lig, a. 3x Ligamentum annulare.
Fm. r. SS Rundes Fenster.
M. 8t. = Steigbügers Muskel.
Te, ty, = Musculus tensor tympani,
M. temp. = Musculi temporales.
An, ty. ^ssi Annulus tympanicus.
<U8)
Die embryonale Anlage des Mittelohres : die morphologische Bedeutung etc. 307
Ca,v.^= Verticale Bogengänge.
Ca. 8, 8. = Oberer Bogengang.
Ca. 8. ex. s= Aensserer Bogengang.
Ca, coch. SS Dnctos s. canalis cochlearis.
Sac. = Sacoulns.
D.E.=i Dnctos endolymphaticns.
B. = Baphe zwischen vestibnlarem nnd cochlearem Abschnitte der perio-
tischen KapseL
Ca. tu. ty. SS Tnbo-tympanaler Banm.
Ca. a. ex. si Aensserer Geh5rgang.
Ca. t. SS Darmcanal.
Ca. ac. i. asa Canalis acosticns intemns.
FIT. s Facialis N.
Ch. ty. SS Chorda tympani.
I V*,V\ s:^ Zweiter, resp. dritter Ast des N. Trigeminns.
I
G. G. aes Ganglion Gasserü
VIII, s= K. acnsticns.
IX. aB N. glossopharyngens.
Ju. SS Vena jngolaris.
Ca. SS A. carotis.
A, mn. SS Arteria mandibnlaris.
A,8t. =^ Arteria stapedialis.
A. hy. = Arteria hyoidea.
V. SS Gefäss.
0. = Ange.
La. SS Labyrinthblase.
M. La, m. = Mandibnla, lameUa medialis.
Ma. la, l. s= Mandibnla, lamella lateralis.
A, a. SS Arteria alveolaris.
N. a. SS Keryns alveolaris.
D, SS Zahnkeime.
Su. Li, =s Snlcns lingnalis.
L, i, 8. = Lamella inferior ossis sqnamosis.
L, V, 8. s=i LameUa verticalis ossis squamosi.
P. g. m. SS Frocessns gradlis mallei.
FlflT* 1 — 4. Horizontale Schnitte, Beihe von nnten nach oben, dnrch den zweiten
Kiemenbogen, bei einem Katzenembryo 15 Km. St.-Sch.-Länge. In dieser
Schnittserie ist das Verhalten der proximalen Enden des Hyoidbogens,.
beziehnngsweise die Entstehnngsart des Annnlns stapedialis zu
sehen. Vergr. 30.
Fig« Sy 6 QBd 6 A. Sagittale Schnittserie, von anssen beginnend, bei demselben
Embryo. Sind die Krfimmnng des proximalen Endes des n. Kiemenbogens,.
der Annnlns stapedialis, einige topographische Verhältnisse der
Kopfgebüde ersichtlich. Pig. 5 nnd 6 Vergr. 30 ; Fig. 6 A Vergr. 25.
Med. Jahrbncher, 1887. 05 (149;
308 Gradenigo. Die embiyonale Anlage des Kittelohres etc.
Flg. 7« Beinahe horisontaler Schnitt dnrch den Kopf eine6 2Cm. langen Katzen-
embryo. AnnnlQB stapedialis. Yergr. 30.
Pig. 8. Frontalschnitt durch den Kopf eines 2 Cm. langen Katzenembryo im
Niveau des ovalen Fenstern. Das proximale Ende des Hyoidbogens, zur
Zeit wo der Involutionsvorgang beginnt. Die punktirte Linie deutet den
Verlauf des K. facialis au. Yergr. 30.
Fig» 9 lud 10« Frontalschnitt duroh den Kopf eines 4 Cm. langen mensch-
lichen Embiyos. In Fig. 9 ist das Loch des Annulus staped., in Fig. 19
sein hinterer Schenkel getroffen. Yergr. 30«
Pig* 11. Frontalschnitt. Annulus und Lamina stapedialis bei einem 4Vt ^'■'^
menschlichen Embryo. Yergr. 200.
Fig. 12« Frontalschnitt. Lamina und Annulus staped. bei einem 8 Cm. langen
menschlichen Embryo. Yergr. 30.
Fig« Um Das Gewebe des Annulus und des Lamina staped. bei einem 8 Cm.
langen menschlichen Embryo. Yergr. 200.
Flg. 14 — 18. Horizontale Schnittserie von unten bei einem 8 Cm. menschlichen
Embryo, um das Yerhalten des proximalen knorpeligen Endes des zweiten
Kiemenbogens zu zeigen. Yergr. 24.
Fig« 19. Schema, um die Entstehungsweise des tubo-tympanalcn Baumes dar-
zustellen, a b mediale untere Fläche des mandibularen Bogens, a e mediale
obere Fläche des zweiten Bogens, bec Schädelbasis. Die punktirte Linie
deutet die Umwandlungen, welche der Baum abc eingeht.
Flg. 20 und 20A, 21 uid 21A, 22 und 22 A stellen die Gestaltung des
tubo-tympanalen Baumes bei den von mir als I, II und in bezeichneten
Stadien der Entwicklung dar. — Alle Figuren repräsentiren frontale
Schnitte; die mit A bezeichneten Figuren beziehen sich auf weit nach
hinten gelegene Ebenen. Yergr. 24.
Fig« 23« Der Hammergriff und der tubo-tympanale Baum bei einem 3Vs Cm.
langen Schweinsembryo. Frontalschnitt. Yergr. 24.
Fig. 24. Die Anordnung des knöchernen Unterkiefers bei einem 6 Vs Cm. mensch-
lichen Embryo. Yergr. 25. (Beichert, Object la, Ocular HI, 135 Mm.
Tubuslänge.)
Fig. 25« Die topographische Lage des M eck el'schen Knorpels, des Os squa-
mosum, des Processus gracilis mallei, des Annulus tympa-
nicus bei einem menschlichen Embryo, 4Vs Cm. Länge. Yergr. 25.
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XIII.
Zur Frage der Blutung nach Tonsillotomie.
Von
Dr. Otto Znekerkaiidl^
Operationszögling an Prof. Al'bert's Klinik.
(Am 31. März 1887 von der Bedaction übernommen.)
(Hierzu Tafel X.)
Das üTsprüngliche Verfahren der Tonsillarampntation des
schon vorhippokratischen Alterthnms war der Schnitt; dieser wurde
späterhin dnrch die Ansreissnng mit dem Finger (Celsus), Ab-
bindnng nnd Zerstörung durch Aetzmittel und Ferrum candens,
verdrängt, welche Verfahren jedoch nach längerem oder kürzerem
Bestände schliesslich wiederum dem Schnitte weichen mussten,
der nun seit Langem bei genannter Operation ausschliesslich zur
Verwendung gelangt.
Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte dieser Operation
näher zu besprechen , sondern möchte blos bemerken , dass das
Fahnenstoc kusche, von Velpeaux modificirte Guillotineninstru-
ment Ende der Dreissiger- Jahre dieses Jahrhunderts erfunden,
und gleich bei seinem Erscheinen von der Mehrzahl der Chirur-
gen in Verwendung genommen wurde, auch gegenwärtig noch,
durch geringe Modificationen verbessert, fast ausschliesslich ver-
wendet wird. Eine Minderzahl blieb bei der von Muzeux
empfohlenen Methode der Abkappung der mittelst Hakenzange
Med. Jahrbncher. 1887. 26 U)
310 Zackerkandl.
aas der Zwischenbogennische vorgezogenen Mandel durch das
geknöpfte, nach der Fläche gekrümmte (BelTsche) Messer.
Den Chirurgen Frankreichs gebührt das Verdienst, dnrch
zahlreiche Publicationen, die sich mit der Methodik nnd Indication
der besagten Operation beschäftigten und zwischen den Dreissiger-
und Fünfziger-Jahren dieses Jahrhunderts erschienen, auf den
Nutzen und die leichte Ausftihrbarkeit der Operation der Ton-
sillotomie auftnerksam gemacht und ihr zu allgemeiner Aner-
kennung verholfen zu haben.
Der erste und auffalligste Mangel der Operation, der sich bei
der nun folgenden allgemeinen Anwendung herausstellte, war die
Thatsache, dass auf eine gewöhnliche nach den Regeln der Kunst
ausgeftihrte Tonsillotomie eine Blutung folgen könne, die zu
bedrohlichen Erscheinungen von Anämie des Individuums zu ftlhren
vermöge und zu deren Stillung der ganze hämostatische Apparat der
Chirurgie herbeigeholt werden müsse. Durch das Unvorhergesehene
einer solchen Blutung würden ihre Schrecken nur vermehrt.
H a t i n, ein französischer Arzt, war der Erste, der eine der-
artige Blutung in einem offenen Briefe an Malgaigne in der
Eevue m6d. chir. (1847) beschrieb, worin er auch erwähnte, dass
die meisten Schriftsteller solche Blutungen nicht geradezu ableugnen,
sie aber mehr in das Gebiet der Theorie verweisen und für die
Praxis in Abrede stellen. Hat in hatte bei einer 30jährigen Frau
beide hypertrophische Tonsillen in einer Sitzung mittelst Fahnen-
stock entfernt. Die primäre Blutung war unbedeutend. Nach zwei
Stunden geholt, fand er die Frau wachsbleich, nahezu pulslos.
Aus einer der Amputationswunden stürzte das Blut in Strömen
heraus. Nach mehreren vergeblichen Versuchen mittelst Alaun,
Lapis die Blutung zu stillen, gelang dies durch Compression
mittelst Zange.
Als Antwort auf diesen Brief kam die Frage der Blutung
nach Tonsillotomien in der Gesellschaft ftir Chirurgie zu Paris
im October 1847 zur Discussion. Es zeigte sich, dass Hatin's
Fall nicht vereinzelt dastehe; Chassaignac hatte einmal,
Guersant dreimal heftige Blutung nach Tonsillotomie auftreten
gesehen. Chassaignac machte in jener Sitzung auf die bedenk-
liche Nähe der Carotis interna zur Tonsille aufmerksam.
(2)
Zur Frage der Blutung nach Tonsillotomie. 311
Von hier aus überging diese irrige Angabe in alle damali-
gen Lehrbücher der Chirurgie; die Carotis interna hiess es, ist
Ton der Tonsille blos durch die dünne Wand des Schlundkopf-
schnürers geschieden. Es sei also bei Operationen in dieser Gegend
die höchste Vorsicht angezeigt. £s wurden aus der älteren Literatur
tödtliche Fälle von Blutungen nach Tonsillotomie als Belege citirt.
Es sind dies folgende: Beclard sah in Angers einen
Mann verbluten, dem ein fahrender Chaiiatan mittelst spitzem
Bistouri eine hypertrophische Mandel abgetragen hatte. Nach
wenigen Minuten war der unglückliche Patient eine Leiche. Der
Operateur war entflohen. Die Section ergab eine Verletzung der
Carotis interna. South erwähnt eines Falles von Watson, wo
sich an eine Tonsillotomie eine in wenigen Minuten zum Tode
fbhrende Blutung angeschlossen hatte. Andere Fälle, die damals
als Belege angeflihrt wurden (Portal, Allan Bums, Caytan),
sind tödtliche Blutungen nach Eröffnung von Tonsillarabscessen,
gehören also nicht hierher,
L in hart trat zuerst mit anatomischen Gründen gegen die
allgemein herrschende Furcht wegen Carotisverletzung auf. In der
Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien aus dem
Jahre 1849 findet sich eine anatomische Arbeit Linharfs über
die active Lage der Mandel zu den Carotiden, in der er nach-
weist, dass die Tonsille nicht, wie allgemein geglaubt werde,
blos durch die Pharynxwand von der Carotis interna getrennt
wäre, sondern, dass sich zwischen der Seitenwand des Schlund-
kopfes , dem Musculus pterygoideus internus und den obersten
Halswirbeln ein zellstoffiger Raum , Spatium pbaryngo-maxillare
befinde, in dessen hinterstem Theile die grossen Gefässe liegen.
Dieser Theil entspricht nach Linhart dem Theile der seitlichen
Pharynxwand, der rückwärts vom Arcus palato-pharyngeus gelegen
ist. Sticht man hier horizontal nach aussen, so verletzt man die
Carotis interna, das Instrument kommt unter dem Ohrläppchen
heraus.
Die Mandel hingegen entspricht dem vorderen Theil des
Spatium, wo kein Gefäss, kein Nerv gelegen ist.
Es sei also bei kunstgerechter Tonsillotomie eine Verletzung
der Carotis interna ausgeschlossen.
26 * (8)
312 Znckerkandl.
L i n h a r t fUhrt anch ausdrücklich an , dass durch das
Vorziehen der Mandel ans ihrer Nische die grossen Gefässe
nicht, wie man geglaubt hatte, mitgezogen würden, sondern,
dass vielmehr durch einen solchen Vorgang die Distanz zwischen
pharyngealem Pol der Tonsille und der Art. Carotis vergrössert
würde.
Luschka bestätigt in seinem Werke über den Schlund-
kopf des Menschen yollkonmien die Befunde Linhart's. Nach
Luschka liegt die Carotis interna 1*5 Cm., die Carotis externa
2 Cm. nach hinten und aussen vom äusseren Pol der Mandel
entfernt.
Dies sind die beiden einzigen Orte, wo die Topographie
der Regio retrotonsillaris näher gewürdigt wird. In den übrigen
Lehrbüchern begegnet man entweder der eben erwähnten Ansicht
oder einer anderen ihr gerade widersprechenden. Hyrtl z. B.
sagt in seiner topographischen Anatomie : ^Nach aussen und hinten
grenzt jede Mandel an die Carotis interna, von welcher sie
nur durch den Ursprung des Constrictor pharyngis superior ge-
schieden ist.
R ü dinge r sagt in seiner topogr. chir. Anatomie des
Menschen :
„In der Nische . . . liegt die Tonsille, sie wird nach aus-
wärts von den Tharynxmuskeln begrenzt, und diese trennen bei
mageren Individuen dieselben von den grossen Gefassen.
Die Beziehung dieser Gefässe zur Schlundkopf wand und zu
hypertrophischen Tonsillen verdient Berücksichtigung. Wird mit
Fahne nstock'schem Tonsillotom operirt, so dürfte die äussere
Grenze der Drüse weniger leicht überschritten werden , als bei
der Abschneidung mit dem Scalpell, wobei die Tonsille stark nach
einwärts gezogen wird.^
Dies die Angaben, die mit jenen L u s c h k a's und L i n h ar t's
keineswegs übereinstimmen. Nirgends finde ich in neuerer Zeit
einen Versuch unternommen, diesen strittigen Punkt aufzuklären.
Ich habe, um über die Topographie der Regio retrotonsillaris,
die mir zu wenig erforscht schien, Aufklärung zu erhalten, an
zahlreichen Leichen Zergliederungen der genannten Gegend vor-
genommen und bin zu folgenden Resultaten gelangt.
(4)
Zur Frage der Blntimg nach Tonsillotomie. 313
Die Tonsille liegt zwischen den beiden Gamnenbögen, deren
vorderen sie bei normaler Grösse wenig, deren hinteren gar nicht
überragt. Die Schleimhaut der Ganmenbögen übergeht unmittelbar
auf die vordere Fläche der Mandel. Will man die rückwärtige, von
der Mundhöhle abgewendete Fläche der Mandel zu Gesichte be-
kommen , so muss man etwa drei Viertel ihrer Peripherie mit
einem Schnitt umkreisen und sodann die Mandel stumpf aus
ihrer Nische heraushebeln. Bei dieser Präparation zerreisst man
Muskelfasern, die in der äusseren Tonsillarwandung endigen. Es
sind dies die von Luschka beschriebenen Mm. amygdalo-glossus
und stylo-tonsillaris. Hat man diese abpräparirt , so präsentirte sich
die laterale pharyngeale Tonsillarwand. Diese stellt eine aus
Verfilzung derber straffer Bindegewebsstränge gewebte fibröse
Haut dar, die auf dem Durchschnitt als etwa I Mm. dick
erscheint und von der Septa in's Innere des Tonsillarparenchyms
eindringen.
Präparirt man im Grunde der Fovea retrotonsillaris weiter,
so gelangt man auf den Theil des Schlundkopfschnürers der die
Tonsille von aussen umgibt. Es sind dies Partien des M. pterygo-
und bucco-pharyngeus.
Die Aussenseite dieses Muskels wird von der vom Lig.
pterygo - mandibulare entspringenden Fascia bucco - pharyngea
überkleidet. Hat man auch diese durchtrennt, so befindet man
«ich im Cavum pharyngo-maxillare der Autoren.
Li n hart beschreibt diesen Raum und dessen anatomische
Ausdehnung folgendermassen : Zwischen der Seitenwand des Schlund-
kopfes, dem Pterygoideus internus und den obersten Halswirbeln
ist nach hinten zu ein mit Fett und Zellgewebe erfüllter Raum,
in dessen hioterstem Theile die grossen Gefässe liegen. Dieser
Theil entspricht dem Theile der Seitenwand des Pharynx, der
nach rückwärts vom hinteren Gaumenbogen liegt.
Diese Beschreibung anerkennt Luschka rückhaltlos.
Die Leichenbefunde widersprechen aber dieser Angabe.
Hat man die Fascia bucco-pharyngea durchschnitten , so kommt
man in einen mit Fett erfüllten Raum; derselbe wird nach
aussen vom Musculus pterygoideus internus begrenzt, erstreckt
sich aber nicht bis an die Wirbelsäule, sondern wird von der
(6)
314 Znckerkandl.
von hinten aussen nach vorne innen ziehende Grnppe, der vom
Griffelfortsatz entspringenden Muskeln zweigetheilt. Speciell die
Mm. stylo-glossus und stylo-pharyngeus bilden eine Fläche , die^
nach Yome abwärts und einwärts abdachend, derart in das Cavurn
pharyngo-maxillare eingeschoben ist, dass sie zwischen lateralen
Mandelpol und Carotiden zu liegen kommt; dadurch zerfällt das
Cavum in zwei Räume, in einen am Querschnitt dreieckigen
Raum, der begrenzt wird nach aussen vom M. pterygoideus, nach
innen von der der Tonsille auflagernden Pharynxwand und nach
hinten schliesslich von den beiden erwähnten Griffelmuskeln. Der
zweite Raum nach rückwärts vom vorerwähnten befindet sich
zwischen hinterer Pharynxwandung und Wirbelsäule und beher-
bergt in seinem hintersten Theile die grossen Gefässe und Nerven
Carotis intenia, Vena jugularis-intema, Nervus vagus).
Beide Räume, mit Fett und lockerem Zellgewebe erfüllt,
communiciren mit einander durch einen Spalt, der sich zwischen
M stylo-glossus und M. stylo-pharyngeus sich befindet. Dieses
Mnskelinterstitium bezeichnet demnach die Grenze, durch welche
Gefässe und Nerven, sowohl von der Kopf- als der Haisseite her,
an die äussere Wand des obersten Antheiles des Schlundkopf-
schnürers gelangen können (Art. palatina ascendens, Nerv, glosso-
pharyngeus).
Hat man diesen Spalt passirt und präparirt man direct nach
rückwärts gegen die Wirbelsäule zu , so stösst man auf die
Carotis interna.
Hält man sich, wenn man das Interstitium der erwähnten
Griffelmuskel passirt hat , nach aussen, so gelangt man an eine
Schlinge der Carotis externa, die constant hinter dem Kieferaste
sich vorfindet und von der Carotis externa gebildet wird, bevor
diese in die Maxillaris interna und Temporaiis zerfallt.
Geht man aus der Fovea retrotonsillaris längs des M. pt^ry-
goideus internus nach hinten, so gelangt man in die Fovea retro-
maxillaris.
Im Bereiche der Mandel fanden wir also die Carotis interna
nach vorne zugedeckt, also geschützt durch die erwähnten Griffel-
muskeln. In ihrem obersten Antheile, wo sich die Carotis in das
medial vom Griffelfortsatz gelegene Foramen caroticum begibt,
(6)
Zur Frage der Blatimg nach Tonsillotomie. 315
fällt natürlich dieser Schutz der Muskeln weg und liegt die
Carotis hier unmittelbar der äusseren Pharynxwand an; doch
kommt bei Mandelexstirpation der oberste Theil der Carotis nicht
mehr in Betracht.
Was die Projection der Carotis interna anbelangt, so wurde
angegeben , dass man sie durch eine Nadel , die nach rückwärts
vom Arcus palato-pharyngeus durch die Pharynxwand nach aussen
gestossen wurde, stets verletzte.
Versuche, die ich in dieser Richtung unternahm , ergaben
ein negatives Resultat; als ich um diese Thatsache erklären zu
können, ein Diagramm der Gegend auf dieses Verhalten unter-
suchte, so fand ich, dass, wenn man unmittelbar hinter dem
Gaumen-Schlundkopfbogen horizontal nach aussen eine Linie zieht,
diese entweder das musculäre Diaphragma des Interstitium
pharyngo-maxillare oder den Raum unmittelbar hinter diesem
passirt. Die Linie geht also etwa 2 Cm. vor der Carotis interna
nach aussen, kann aber die Carotis externa verletzen und kommt
schliesslich nach Durchbohrung des inneren Flügelmuskels an die
mediale Fläche des Kieferastes. Selbst eine Linie, die in der Ebene
der rückwärtigen Pharynxwand nach aussen gezogen wird, passirt
das Spatium vor der Carotis interna (Fig. 1).
Es erhellt aus allen diesen Befunden die Thatsache, dass
das Cavum pharyngo-maxillare nicht einen continuirlichen Raum
darstellt, sondern dass in der Regio retrotonsillaris nebst Pharynx-
wand und Fett eine Muskelschicht als Schutzwall vor der Carotis
interna liegt. Mag die Mandel noch so sehr vorgezogen werden, so
wird dieser Vorgang, wie die Betrachtung des abgebildeten Dia-
gramms ergibt, niemals irgend einen Einfluss auf die geschützte
Lage der Carotis int. auszuüben im Stande sein. Es ist vollständig
ausgeschlossen und unmög lieh mag man mit Tonsillotom oder mit
geknüpftem Messer arbeiten, die Carotis interna zu verletzen.
Möglieh wäre eine solche Verletzung blos, wenn mit einem
spitzen Messer operirt würde, dessen Spitze bei einer brüsken
Bewegung des Patienten mit dem Kopfe, tief gegen die Wirbel-
säule vordringen könnte (Beclard's Fall). Ebenso unbegründet
ist die Furcht vor Carotisverletzung beim Scarificiren der Ton-
sillen oder bei Eröffnung eines Tonsillarabscesses.
(7)
316 Zuckerkandl.
Denkbar wäre aber eine Verletzung der Carotis interna bei
Eröffnung eines retropharyngealen Abscesses, da sie hier direct vom
Eiter umspült wird.
Thatsächlich fehlt auch in der neueren Literatur dieses
Gegenstandes ein Fall, wo nach kunstgerechter Tonsillotomie eine
tödtliche Blutung, wie sie eine Verletzung der Carotis interna
an so verborgener Stelle zur Folge haben mttsste, erfolgt wäre;
tödtlich wäre eine solche Verletzung, weil eine Unterbindung in
loco auf unüberwindliche Hindemisse stiesse, eine Compression aber
der Tonsillarwunde gegen den Kieferast die Carotis in keiner
Weise tangiren würde.
Die Blutungen nach Tonsillotomie, die seit der Verallge-
meinerung der Operation stetig, wenn auch in geringer Anzahl,
zur Publication gelangen, sind dennoch bisweilen recht schwere;
um dies zu erhärten, braucht blos bemerkt zu werden, dass als
letztes Auskunftsmittel in einigen später zu beschreibenden Fällen
zur Unterbindung der Carotis communis geschritten werden musste.
Das Bild einer solchen Hämorrhagie gestaltet sich verschieden.
Der eine Typus ist der folgende : Unmittelbar im Anschlüsse
an die Operation oder kurze Zeit nach Vollendung derselben
stürzt aus der Wunde ein Blutstrom, der theils aus der Mund-
höhle abfliesst, theils in denLarynx und Pharynx aspirirt wird.
Es kommt zu Hustenparoxysmen , bei denen gewaltige Mengen
Blutes spritzend entleert werden; daneben wird Blut auch er-
brochen. Es tritt Blässe, Ohnmacht ein, der Puls wird frequent
und klein.
In anderen Fällen werden Arzt und Patient auf eine statt-
gehabte Blutung nur durch gewaltige Mengen erbrochenen Blutes
aufmerksam gemacht. Das Blut war längs der hinteren Pharynx-
wand allmälig in den Magen gerieselt. Untersucht man die Wund-
fläche, so sieht man bald ein spritzendes Gefässlumen, bald sickert
das Blut in dickem Strome heraus; auffallend ist das häufige
Recidiviren solcher Hämorrhagien.
Es lässt sich auch nicht einmal annähernd feststellen, in
wie vielen Fällen auf Tonsillotomie stärkere Blutung folgt; Schuh
sah in seiner langen Praxis einen derartigen Fall, P i t h a keinen.
Warren hat unter 1000 Tonsillotomien niemals schwere Blutung
(8)
Zar Frage der Blatrmg nach Ton&dllotomie. 317
beobachtet. Voss sab anter 347 Tonsillotomien siebzehnmal die
Blutung wiederkehren ; in diesen mussten styptische Mittel ange-
wandt werden. In einem Falle war die Blutung eine schwere.
Zur Stillung derselben bedurfte man der Arbeit von sechs Stunden.
Dass aber Fälle solcher Blutung existiren und stets wieder-
kehren, zeigt ein Blick auf die Literatur dieses Gregenstandes.
Beschrieben wurden solche Blutungen, von der Verallgemeine-
rung jener Operation beginnend, bis in die jüngste Zeit
Hatin (1847) regte in dem bereits erwähnten Briefe an
Malgaigne, der Erste diese Frage an. Er stillte die Blutung durch
ein improvisirtes Compressorium. In VidaFs Lehrbuch finde ich
einen Fall erwähnt, wo bei einem Manne eine heftige, wiederholt
recidivirende arterielle Blutung nach Tonsillotomie beobachtet
wurde.
Aus dem Jahre 1861 finde ich einen von Weinlechner
an Schuh's Klinik beobachteten Fall. In diesem kehrte die
Blutung am fünften Tage post operationem wieder, ebenso zwei
Tage nach diesem Termine.
Weinlechner erwähnt , dass im diesem Falle die
Ursache der Blutung in der Disposition des Individuums zu
suchen war.
1868 wurde an B i 1 1 r o t h's Klinik ein Fall von erschreckender
Blutung nach Tonsillotomie beobachtet. Die Blutstillung gelang
durch digitale Gompression der Carotis am Halse.
Günther in Salzburg unterband (1872) wegen unstillbarer
Blutung aus einer nach Tonsillotomie entstandenen Wunde die
Arteria carotis communis.
Voss berichtet, 1877, über eine reiche Erfahrung von Ton-
sillotomien. Er nimmt an, dass die Blutungen der Arteria tonsillaris
entstammen müssen, die er aus der Arteria pharyngea acsendens
entspringen lässt. Im Jahre 1880 beobachtete Hadar Liden
bei einer Frau, der er eine Mandel mit dem Bistouri abgetragen
hatte, eine sofort nach der Operation eintretende nicht besonders
heftige Blutung. Trotz angewandter styptischer Mittel stand die
Blutung keineswegs, sondern nahm vielmehr an Intensität zu. Drei
Stunden post tonsillotomiam war der Zustand der Patientin so
bedenklich geworden, dass sich der Operateur zur Unterbindung
(9)
318 Znckerkandl.
der Carotis communis entschloss. Dieselbe wurde mit Erfolg aus-
geführt. Patientin bot keine Zeichen von Hämophylie.
Die letzte derartige Beschreibung stammt aus dem Jahre 1882.
G. M. Leffert berichtet in diesem Jahre über zwei Fälle von
lebensgefährlichen Blutungen, wie er sie nennt. In dem einen
Falle sah er in der Tiefe der Wunde ein mächtig spritzendes
Gefäss , welches zu ligiren ihm mit Mühe gelang. In einem zweiten
ähnlichen Falle stillte er die Blutung durch stundenlang anhaltende
Digitalcompression der Wundfläche. (Keinerlei Zeichen von Hämo-
phylie.) Dieser Autor erwähnt auch mehrerer, länger dauernder
Blutungen nicht bedenklicher Art, die er auf Verletzung der in
den chronisch geschwellten Tonsillen neugebildeten Venen zu-
rückführt.
Dass diese Blutungen kein blosses Spiel des Zufalles sein
können, war von vorneherein klar, da die Blutungen auch bei nicht
hämophylen Individuen, mag mit dem Messer oder dem Tonsil-
lotome operirt worden sein, eintraten. Meiner Meinung nach muss
die Ursache dieser Blutungen in anatomischen Details an dem
Tonsillargefässe liegen, die eine zur spontanen Blutstillung noth-
wendige Retraction und Contraction besagter Gefässe zu verhindern
im Stande sind. Bevor ich diese Behauptung durch anatomische
Befunde begründe, möge es mir gestattet sein, die in dieser
Richtung bestehenden Hypothesen zu erwähnen.
Vor Allem wurde die Methode der Operation beschuldigt.
Zieht man, so hiess es, die Tonsille aus dem Interstitium
arcuarium vor, so werden die grossen Gefässe als Schlingen mit-
gezogen und können in den Bereich des Schnittes fallen und
abgekappt werden. Diese irrige Annahme fusste in der mangel-
haften anatomischen Eenntniss der Details jener Gegend und
wurde schon von L inhart zurückgewiesen; trotzdem kehrt diese
Anschauung in neueren Büchern wieder. Ich glaube im ersten
Theil dieser Arbeit die anatomische Unmöglichkeit eines Vor-
ziehens der Carotis zur Genüge erwiesen zu haben. Bei dieser
Gelegenheit sei auch bemerkt, dass bei Hypertrophie der Tonsille
die Distanz zwischen dem lateralen Pol der Mandel und deren
Mittelpunkt sich nicht in gleicher Weise, wie die des medialen
oralwärts gerichteten, vergrössere, dass, mit anderen Worten, bei
(10)
Zur Frage der Blutimg nach Tonsillotomie. 319
Hypertrophie die Mandel sich blos gegen die Mundhöhle vorwölbt,
während der pharyngeale Pol seine Lage, also auch sein Ver-
halten zu den Garotiden, vollständig unverändert beibehält.
Führer betont, dass die Carotis externa bei starker Schlingen-
bildung mit der Convexität einer solchen Schlinge der Phamyx-
wand nahe kommen und vielleicht verletzt werden könnte.
Es besteht nun thatsächlich constant eine Schlinge der
Carotis externa , die , hinter dem Aste des Unterkiefers gelegen,
mit ihrer Convexität nach einwärts vorspringt. Diese Schlinge
erreicht man bei der Präparation von der Mundhöhle her, wenn
man nach Darstellung der Fovea retrotonsillaris den Zwischen-
raum zwischen stylo-glossus und stylo pharyngeus stumpf erweitert
und lateralwärts vordringt ; bisweilen entspringt die Tonsillararterie
von dieser- Schlinge (Fig. 2). In einem solchen Falle mag es,
wenn bei Tonsillotomie der Stamm der Arteria tonsillaris verletzt
wurde, in Folge des nahen Abganges aus einem so starken Ge-
fässe, wie es die Arteria carotis externa darstellt, zu einer heftigen
arteriellen Blutung kommen.
Hyrtl beschreibt eine Varietät, der er für die Erklärung
der Blutung nach Tonsillotomie eine hohe Bedeutung zuschreibt
Die Arteria palatina ascendens vertritt die Arteria maxillaris in-
terna, d. h. ist von der Dicke einer solchen und gibt deren Aeste
ab. Bei der enormen Seltenheit dieser Varietät kann dieselbe blos
als interessanter anatomischer Beitrag, nicht aber als ein Er-
klärungsmoment betrachtet werden.
Die Angabe Linhart's, dass die Blutung den durch Ent-
zündung vergrösserten Tonsillararterien entstamme, widerspricht
den anatomischen Befunden an exstirpirten Tonsillen, indem nie-
mals klaffende Grefässlumina am Durchschnitte erblickt werden
können.
Dass klaflFende Gefösse bei Exstirpation fibrös degenerirter
Tonsillen (S c h e e d e) heftige Blutung unterhalten, ist wahr, doch
ist dabei zu berücksichtigen, dass in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle einfache Hyperplasien der Tonsille ohne jede fibröse
Degeneration die Ursache der Abtragung bilden.
Dass die Verletzung der der Tonsille eigenen Arterien und
Venen so heftige Blutungen zu veranlassen vermöge, erschien
(11)
320 Znckerkandl.
— obwohl schon frühzeitig erwähnt — bei der Kleinheit der er-
wähnten Gefässe unwahrscheinlich. Die Tonsille bezieht ihr Blut
aus der Carotis externa. In der grössten Mehrzahl der Fälle
ist es äie Ärteria palatina ascendens, die, entweder aus der
Maxillaris externa oder direct aus der Carotis entspringend, auf-
steigt und den Zwischenraum zwischen Musculus stylo-pharyngeus
und stylo-glossus durchdringend, unmittelbar an die äussere Fläche
des Pharynx kommt.
Präparirt man von der Mundhöhle her, so sieht man nach
Wegnahme der Tonsille, das aus dem genannten Muskelspalte
nahezu senkrecht aufsteigende Grefass. Dieses ist von der Tonsille
noch getrennt durch das das Spatium erfüllende Fett, einer Fort-
setzung des Fettes der Backengrube. Diese Arterie ist von einer
Vene gleichen Calibers begleitet (Fig. 3). In der Höhe der Ton-
sille theilt sich das Gefäss in zwei Aeste: in einen Ast, der im
Bogen zur Tubenmündung hinzieht, um dort in der Schleimbaut
zu endigen, und in einen zweiten Ast (Arteria tonsillaris), der quer
durch das Fett des Spatiums zum äusseren Pol der Tonsille
sich begibt.
Dies das Verhalten, wie ich es am häufigsten zu beobachten
Gelegenheit hatt«. In anderen Fällen entspringt die Arteria ton-
sillaris direct, wie schon früher erwähnt, aus der Carotis externa
oder aus der Maxillaris externa, in welchem Falle die Art. pala-
tina ascendens also blos auf den Ast zar Tonsille reducirt ist.
Bisweilen findet man die Tonsille von mehreren Arterien versorgt.
Es kann neben der Art. tonsillaris der palatina ascendens, noch
eine direct aus der Carotis ext. stammende Tonsillararterie ge-
fanden werden. Diese letztere entsteht entweder aus demCarotis-
stamm , dort , wo dieser die Art, maxillaris abgibt, oder sie wird
von der zwischen den Grifielmuskeln vorspringenden Schlinge der
Carotis ext. abgegeben.
In Ausnahmsfällen wird die Art. tonsillaris von der Art.
pharyngea ascendens abgegeben; ist dies der Fall, so theilt
sich diese Arterie etwa hinter dem Eieferwinkel in zwei Aeste.
Der eine Ast zieht in typischer Weise längs der Wirbelsäule
gegen die Schädelbasis, während der andere durch das Muskel-
interstitium in den oben beschriebenen Vorraum des Cavum
(12)
Zur Frage der Blntung nach Tonsillotomie. 321
pharyngo-maxillare kommt mid in typischer Weise zm* Tonsille
sich hinbegibt.
Nach Passirnng dieses mit lockerem Fett und Zellstoff ge-
füllten Banmes gelangt die Arterie in allen Fällen an die pharyn-
geale Begrenzung der Tonsille ; hat das (refUss diese derbe fibröse
Wand passirt, so theilt es sich sofort in seine fadenförmigen
Endäste.
An der Kapsel der Tonsille konnte ich ein zweifaches Ver-
halten der Arterien beobachten. In dem einen Falle tritt das
Gefäss an die Tonsille herap und durchbohrt in gerader oder
schiefer Richtung die fibröse Wand, um in das Parenchym ein-
zudringen. Die Verbindung zwischen den peripheren Gefäss-
schichten und der fibrösen Kapsel ist eine innige.
Im anderen Falle tritt das Gefäss an die Mandel, bricht
aber nicht sofort durch die Kapsel, sondern legt sich an diese
und tritt erst nach Bildung mehrerer Schlingungen und Windungen
in die Mandel ein. Auch in diesem Falle besteht eine innige Ver-
filzung zwischen Gefässhäuten und der Mandelhttlle.
Hat die Art. tonsillaris die Kapsel passirt, so löst sich das
etwa millimeterdicke Gefkss in ein Bündel fadenförmiger Aeste
auf, die sich bald der Präparation mit Pincette und Scheere ent-
ziehen. Die Tonsillararterie als Stamm hat nach Passirung der
pharyngealen Tonsillarwand aufgehört.
Aus dem Innern der Tonsille treten ein oder zwei Venen-
stämmchen aus, die sich zu der erwähnten, der Art. palatina
ascendens entsprechenden Vene hinbegeben, und ihr Blut durch
diese in die Vena jugdaris interna ergiessen.
Das erwähnte Verhalten der Tonsillararterien zur fibrösen
Hülle der Mandel halte ich für das Zustandekommen von Blu-
tungen für wichtig, und zwar aus folgenden Gründen.
Wird eine Arterie quer durchschnitten, so zieht sie sich
vermöge ihrer elastischen Spannung in das Gewebe zurück, gleich-
zeitig verengert sich das Lumen des Gefässes wegen Zusammen-
ziehung der Bingmuskelschichte (Retraction und Gontraction).
Ein Vorgang, der die Menge des in der Zeiteinheit ausge-
worfenen Blutes verringert und durch Bildung eines in Folge
Retraction der Arterie in's Gewebe entstandenen Trichters zur
(18)
322 Znckerkandl.
Stagnation, znr Gerinnung, nnd so zur definitiven spontanen Blut-
stillung Veranlassung gibt.
Kleinere Gefösse sind wegen der relativ stärkeren Entwick-
lung der Muskelschichte eher zur Retraction und Gontraction —
also zur spontanen Blutstillung — veranlagt als grössere. Die
Ärteria tonsillaris wäre nach diesem zur spontanen Hämostase
disponirt. Diese Arterie befindet sich aber in abnormen Verhält-
nissen zu ihrer Umgebung, die die normale Abwicklung jener
Vorgänge, die zur spontanen Blutstillung nothwendig sind, zu ver-
hindern im Stande sind. Greht der Schnitt, der die Tonsille abträgt,
durch das Parenchym derselben, so ist die Blutung wegen Kleinheit
der verletzten Gefässe unbedeutend und steht auf den geringen Reiz,
wie ihn etwa ein auf die Wunde gebrachtes kaltes Wasser auszuüben
vermag, bald. Anders wenn der Schnitt in die Ebene der hinteren
Tonsillarkapsel föUt, ein Ereigniss, dessen Eintreten kaum geleug-
net werden kann, wenn man bedenkt, dass einer Vorwölbung der
Tonsille gegen die Mundhöhle niemals eine gleiche lateralwärts
gerichtete entspricht. Bei bedeutenden Hypertrophien mag es auch
geschehen, dass durch die Schwere der in die Mundhöhle herein-
hängenden Mandel der laterale Pol etwas gegen die Mitte vorgerückt
und leichter in die Ebene eines Amputationsschnittes fallen kann.
In einem solchen Falle ist eine spontane Stillung unmöglich.
Der innige Zusammenhang zwischen Gefässwand und der
derben fibrösen Tonsillarkapsel verhindert hier sowohl ein Zurück-
gehen als eine Verengerung des Gefässlumens. Dieses wird gewisser-
massen durch seine Anheftungen an die Kapsel der Tonsille direct
klaffend erhalten; die Blutung weicht den gewöhnlichen Mitteln,
die reflectorisch eine Gontraction erzielen sollen, nicht, da die Mög-
lichkeit einer solchen fehlt. Für dieses Verhalten spricht das
häufige Recidiviren der Blutungen, femer die Erfahrung, dass man
noch am nächsten Tage nach der Operation in der Wunde ein
spritzendes Gefäss wahrnehmen konnte. Bedenkt man die Grösse
des ausgespannten Lumens einer Tonsillararterie , so ist es klar,
dass, wenn auch erst nach längerem Andauern, es doch zu
bedenklichen Erscheinungen von Entblutung kommen könne.
Dass auch aus einer Arterie solchen Calibers ein Individuum
sogar verbluten kann, zeigt Backer's Fall, in dem ein Trunkener
(14)
Zar Frage der Blatnng nach Tonsillotomie. 323
za Boden fiel und sich das Mundstück seiner Pfeife durch die Pharyx-
wand durchstiess. Es stellte sich heftige Blutung ein. Trotzdem
ihm im Hospitale die Art. carotis communis unterbunden wurde,
starb der Kranke an Erschöpfung. Die Section ergab eine Ver-
letzung der Art. pharyngea ascendens bei intacten Garotiden.
Wird die Tonsillararterie jenseits der Tonsillarkapsel, also
vor ihrem Eintritte in die Mandel, verletzt, so sind die Bedin-
gungen zur spontanen Stillung der Blutung insofeme günstige,
als sich das Gefäss, in lockeres Zellgewebe gelagert, bequem
zu retrahiren im Stande ist. Dass hier ein directer Abgang aus
der nahen Schlinge der Carotis externa verhängnissvoU werden
kann, ist bereits erwähnt worden.
Aus dem Gesagten folgt mit Sicherheit, dass man eine
stärkere Blutung wird vermeiden können — natürlich ist hierbei
Hämophylie ausgenommen — wenn man es vermeidet, dass der
Amputationsschnitt in die Ebene der lateralen Tonsillarwand falle ;
am besten geschieht dies durch einfaches Abkappen der Kuppe der
geschwellten Mandelpartien ; gewiss kein neuer Vorschlag und aller-
orts bereits mit Vorliebe geübt, bietet er mir die Befriedigung,
ihn durch anatomische Untersuchung zu einen begründeten Vor-
gang gemacht zu haben.
Was die Methoden der Blutstillung anlangt, so wird man
bei der Unmöglichkeit der Verletzung der Arteria carotis interna
auch nicht nach Weber's Vorschlag bei heftiger Blutung diese
isolirt von aussen zu unterbinden suchen.
Zur Stillung der Blutung nach Tonsillotomie wurde zweimal
(Hatin und Günther) die Art. carotis communis unterbunden.
Ein gewagtes Beginnen, wenn man bedenkt, dass in 41^/o der
Fälle die Unterbindung der Carotis communis von gefährlichen
Himsymptomen gefolgt wird.
Die einzige Arterie, die mit einem Schein von Recht unter-
bunden werden könnte, wäre isolirt die Carotis externa, da nur
Aeste dieses Gefässes bei Tonsillotomie verletzt werden können
und weil diese Operation weit weniger Gefahren in sich birgt
als die Unterbindung der Carotis communis. ^
^) Nach Pilz beträgt die Mortalität nach TJnterbindong der Carotis
commimiB 44 Vo gogon ll^/, der Carotis externa.
(16)
324 Znckerkandl.
Doch auch dieses Mittel halte ich für zu heroisch und man
wird stets, sollte die Unterbindung des blutenden Gtefässes in der
Wunde nicht gelingen, mit der Gompression mittelst Pean^scher,
von Mikulicz modificirter Zange gegen den Eieferast die Blutung
sicher und exact zu stillen im Stande sein.
Erklärung der Abbüdnngen.
Flg*. 1. Horizontalschnitt durch den Pharyiix in der Höhe des Alveolarfortsatze
vom Oberkiefer (schematisirt nach Lnschka). W. Wirbel, C,i. Carotis
interna, C, e. Carotis externa, T, TonsiUe, P.p. Arcus palato-pharyngens
P,g, Arcns palato glossns, Pt.y. M. pterygoideus int., 8t p. M. stylo-
pharyngeuB, St, ff, Mose, stylo-glossns , St,h, Mnsc. stylo-hyoidens, M,i,
Unterkiefer, G,p, Nerv, glosso-pharyngens.
Figr* 2* Fovea retrotonsillaris von der Hnndhöhle her präparirt dnrch Wegnahme
der Mandel nnd des Hnsc. cephalo-pharyngens. Directer Abgang der
Art. tonsillaris von der Carotis externa. P.p. Arcns palato-pharyngens,
P.g. Arcns palato-glossns, ü, TJvnla, Pt,i, Mnsc. pterygoideus internus,
St. g, Muse, stylo-glossus. 8t,p, Muse, stylo-pharyngeus, F, zurückgelassener
Theil der Fettauskleidung der Fovea retrotonsillaris, C, e. Art. carotis
ext., T. Art tonsillaris, G.p. Nervus glosso-pharyngeus,
Fifl^. 8. Dieselbe (hegend wie in Fig. 2. Abgang der Art. tonsillaris von einer
Art. palatina ascendens. Ä.p, a, Art. palatina ascendens, V, entsprechende
Vene, Ä. t, Art. tonsillaris, F. t. Vena tonsiUaris.
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XIY.
lieber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels
zur Phlegmone.
Von
Dr. M. Hajek^
Secondararzt l. Classe des Bndolf-Spitals in Wien.
(lus dem Laboratorium dos Prof. Weictiselbaum In Wien.)
(Hierzu Taf. XI, XII, XIII.)
(Am 16. April 1887 von der Bedaction übernommen.)
Die strenge Formulirung des Krankheitsbegriffes ^Erysipel",
wie derselbe um die Vierziger-Jahre von Rust^) begründet und
nach ihm insbesondere von den deutschen Klinikern des Genaueren
ausgeführt wurde , ist ihrem wesentlichen Inhalte nach schon von
Galen mit nicht zu verkennender Deutlichkeit ausgesprochen
worden. Die klinische Erfahrung, dass die wandernden Entzün-
dungsprocesse der Haut bald in völlige Restitution, bald dagegen
in Eiterung übergehen und häufig schwere Allgemeinerscheinungen
nach sich ziehen, hat sowohl G a 1 e n als die Kliniker der neueren
Zeit zur Scheidung der oberflächlichen Hautentzündung von den
tiefergreifenden veranlasst, wenn auch zugegeben werden musste,
dass dieselben nicht allzustrenge von einander abgegrenzt werden
könnten, vielmehr durch zahlreiche Zwischenstufen ineinander zu
übergehen scheinen.
0 Rnst, Handbuch der Chirurgie. 1832.
27 ♦ (1)
328 Hajek.
Mit der Aufstellung verschiedener klinischer Begriffe schlich
sich auch die Auffassung von ätiologisch differenten Processen ein ;
es war dies zu einer Zeit, wo die Einsicht in das Wesen der
Krankheitsprocesse nur durch die Beobachtung am Krankenbette
ermöglicht werden konnte.
Indem aber durch die pathologisch-anatomischen Unter-
suchungen ein neuer Behelf geschaffen wurde, um dem Wesen
der Krankheitsprocesse näher zu rücken und letztere in ein
System zu bringen, erkannte man bald, dass zwischen der Haut-
entzündung, welche in Restitution übergeht und der tiefergreifenden,
in ausgedehnte Eiterung übergehenden, keine qualitative, sondern
nur graduelle Unterschiede vorhanden seien.
Die Anhänger der Identitätslehre, die wegen des all-
mäligen U eher ganges des typischen Erysipels durch zahl-
reiche Zwischenstufen in die intensiven Phlegmonen von der
Trennung beider Krankheitsprocesse nichts wissen wollten, sahen
jetzt durch die anatomische Grundlage ihre Lehre in den Vorder-
grund gestellt. Insbesondere Tillmanns^) sehen wir noch im
Jahre 1880 mit grossem Eifer für die Identität beider Processe
einstehen. Seine Prophezeihung indess, dass die Zeit nicht mehr
fern sei, wo man alle tiefgreifenden propagirenden Entzündungen :
das acute purulente Oedem Pirogoffs, die Gangräne foudroyante
Maissoneuve's als tiefe Erysipele aufzufassen sich anschicken
werde, wollte doch den meisten Klinikern nicht einleuchten, die
trotzdem auf der Trennung beider Krankheitsprocesse beharrten.
Und so ist Tillmann's sanguinischer Ausspruch sehr bald er-
folglos verhallt.
Der Aufschwung in der bacteriologischen Forschung um
diese Zeit konnte auch für unsere Frage nicht ohne Erfolg bleiben
und es wurde sowohl dem Erysipel als den Eiterungsprocessen
überhaupt eine ätiologische Grundlage gegeben. Es wurden erst
im Laufe dieser Untersuchungen klare Gesichtspunkte geschaffen,
die eine definitive Erledigung des ätiologischen Verhältnisses
zwischen Erysipel und Phlegmone in sichere Aussicht stellten.
Denn an der Hand einzelner charakteristischer Eigenthümlich-
^) Tillmanns, Erysipelas. Dentsche Cbii-urgie. 5. Lieferung, 1880.
(i)
üeber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 329
keiten eines Krankheitsprocesses, wie dies in der klinischen Er-
scheinung nnd anatomischen Grundlage allein gegeben ist, ist
man noch nicht berechtigt über das Wesen eines Krankheits-
processes, ganz bestimmte Schlüsse zu machen. Ueber ätiologische
Zusammengehörigkeit oder Verschiedenheit lässt sich aber nicht
anders als an der Hand der gefundenen Krankheitserreger
discutiren.
Der erste grosse Fortschritt ist wohl mit der Entdeckung
des Erysipelcoccus durch Fehleisen ^) zu verzeichnen.
Diese allein war schon im Stande, das Urtheil in gewisser
Hinsicht für diejenigen zu sichern, welche eine strenge Unter-
scheidung zwischen Erysipel und Phlegmone beanspruchten. Denn
wenn die Thierversuche F e h 1 e i s e n's angeblich zeigten , dass
dem Erysipel stets ein charakteristischer Streptococcus zu
Grunde liegt, und dass durch eine Reinzucht desselben ohne Aus-
nahme nur eine wandernde Entzündung ohneEiterung zu er-
zeugen ist, so musste ja doch von vorneherein gesagt werden,
dass zur Eiterung sicherlich noch eine andere Noxe nothwendig
ist, als beim Erysipelas vorhanden ist.
Und in der That wurde bald durch die Untersuchungen
Ogston's^), Rosenbach's^) und Passet's*) klar, dass bei
der Eiterung verschiedene, aber stets sowohl in ihrer Form als
Cultur streng charakterisirte Mikroorganismen fungiren. Es genügt
wohl die flüchtige Erwähnung, dass es besonders derStaphylo-
coccus pyogenes aureus und albus und der Streptococcus pyo-
genes sind. Rosenbach hat überdies noch einen Mikrococcus
pyogenes tenuis. Passet in seltenen Fällen einen dem Fried-
lände r'schen Pneumoniecoccus ähnlichen Organismus, femer den
') Die Aetiologie des Erysipels. Berlin 1883.
«) A. Ogston, Ueber A bscesse. Archiv für klin. Chirurgie. 1880, Bd. 25.
Report upon Micro-Organismns in Surgical Diseases. Micrococcus Poisoning. The
Journal of Anatomy and Physiology normal and pothologicaL Vol. XVI u. XVII,
London u. Cambridge 18^2 u. 18^3.
')Bosenbach, Mikroorganismen bei den Wundinfectionskrankheiten des
Menschen. Wiesbaden 1834.
*) Pas seif Untersuchungen über Aetiologie der eiterigen Phlegmone
des Menschen. Berlin 1885.
(8)
330 Hajek.
Staphylococcus cereus und den Bacillus pyogenes foetidus vor-
gefunden. Diese letzteren kommen nur sehr wenig in Betracht.
Es ist nicht meine Absicht, über alle die Eiterung bedin-
genden Mikroorganismen hier Ausfuhrliches mitzutheilen , da ja
die meisten Fragen in den vorzüglichen Monographien der er-
wähnten Forscher erschöpfend behandelt und in vielen Punkten
zu einem befriedigenden Resultat gefördert worden sind.
Nur eine Art der bei der Eiterung vorkommenden Mikro-
organismen soll hier näher in's Auge gefasst werden, nämlich
der Streptococcus pyogenes, welcher häufig genug allein
ausgedehnte Eiterung und Pyämie bedingt.
Dieser Streptococcus pyogenes ist nun weder in seiner Form
noch in der Cultur mit Sicherheit von dem Streptococcus des
Erysipels zu unterscheiden. Wenigstens haben die bisherigen Ver-
suche zu keinem sicheren Resultate geführt ; schon die Verschiedenheit
der Angaben über die Einzelheiten der Culturform von Rosen-
bach, Passet und H o f f a ^) flössen uns gerechtfertigte Bedenken
über den angeblichen Nachweis der Differenz beider Arten von
Streptococcen ein.
Auch die experimentellen Resultate an Thieren sind
bei den Autoren so widersprechend, dass es Niemand für er-
wiesen halten kann, wenn man auf Grund dieser Resultate den
beiden Streptococcen eine wesentlich differente pathogene Wirkung
zuzueignen versucht.
Insolange aber in dieser Frage noch Widersprüche bestehen
und keine strengen, allgemeine Anerkennung findenden Differenzen
zwischen den beiden Streptococcen nachgewiesen werden, steht
die wichtige Frage bezüglich des ätiologischen Verhältnisses des
Erysipels zur Phlegmone noch immer aufrecht; denn möglicher-
weise hängt es nur von einem Zufalle ab, wobei bisher unbekannte
Bedingungen eine Rolle spielen, warum ein und derselbe Strep-
tococcus einmal nur eine oberflächliche, in Restitution übergehende
Entzündung (Erysipel), ein andermal dagegen eine tiefer greifende,
in Eiterung übergehende und mitunter durch Pyämie zum letalen
Ausgange führende Entzündung (Phlegmone) erzeugt.
>) Hoffa, Fortechritte der Hedicin. 1886, Bd. 4, Nr. 3.
(4)
üeber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 331
Ich habe die vorliegende Frage über Anregung des Prof.
Weichselbaum zu lösen gesucht und hierbei auf folgende drei
Punkte, welche in der gegebenen Reihenfolge erst durch den
Verlauf der Untersuchung bedingt wurden, Rücksicht genommen :
1. Gibt es einen Unterschied zwischen dem Streptococcus
des Erysipels und der Phlegmone in ihrer Form oder Cultur?
2. Erzeugt der Streptococcus des Erysipels immer nur Ery-
sipel und der Streptococcus pyogenes immer nur Phlegmone,
oder kann der Streptococcus des Erysipels gelegentlich auch
Phlegmone und umgekehrt hervorrufen?
3. Liefert der histologische Befund, falls aus dem zweiten
Punkte eine Differenz ersichtlich ist, ebenfalls Anhaltspunkte für
eine Unterscheidung?
1. Form imd Caltnr.
Der Streptococcus des Erysipels und der Phlegmone stellt
bekanntlich in kürzeren oder längeren Ketten angeordnete kugelige
Coccen dar, wobei die längeren Ketten mehr oder weniger ge-
schlängelt sind. Besonders deutlich sind längere Ketten am Rande
der mit einem Hofe versehenen Colonien sichtbar, wo sie als
zierlich gewundene Schlingen hervorragen und den Colonien selbst
ein charakteristisches Gepräge verleihen.
Alle Autoren geben einstimmig zu, dass in dem mikrosko-
pischen Verhalten der beiden Streptococcen kein Unterschied auf-
zufinden sei, nur bezüglich der Grösse der Coccen meint Rosen-
bach ^), dass die Coccen des Erysipels durchschnittlich grösser
seien, als die des Streptococcus pyogenes.
Eine vorurtheilsfreie Beobachtung belehrt uns nur darüber,
dass die Grösse der Coccen sehr variirt; denn abgesehen davon,
dass man mitunter einzelnen Ketten begegnet, die doppelt so
voluminöse Coccen haben als andere, sieht man häufig genug in
ein und derselben Kette, dass die einzelnen Coccen von verschie-
dener Grösse sind. Ich sah diese Grössendifferenzen am meisten
an in Fleischbrühe und auf Kartoffeln gezüchteten Streptococcen
ausgeprägt, insbesondere in der ersteren vor Beendigung des
*) 1. c. pag. 25.
(6)
332 Hajek.
Wachsthums. Es kam mir vor, als wären eiüzelne Cocceu 3- bis
4mal so gross als andere. Die Grösse der Coccen überhaupt be-
trägt 0-2— 0-6 (X.
Wie nun Rosenbach angesichts des Umstandes, dass die
Coccen bei der einen wie bei der anderen Art von so variabler
Grösse sind, einen Grössenunterschied constatiren konnte, vermag
ich nicht recht einzusehen.
Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Streptococcen
sollte nach den Behauptungen ßosenbach's^) und Hoffa's*)
darin bestehen, dass der Erysipelcoccus rascher wachse als der
Streptococcus pyogenes. Es dürfte diese Frage nur schwer zu
entscheiden sein; denn, wenn Unterschiede in der Wachsthums-
schnelligkeit überhaupt bestehen, so kann ich wohl sagen, dass
dieselben sicherlich unerheblich sind und ihre Beurtheilung
mit dem Gesichtssinne in den meisten Fällen geradezu unmöglich
ist. Wenn in meinen vergleichenden Untersuchungen sichtbare
Differenzen in der Wachsthumsschnelligkeit vorhanden gewesen,
so konnte ich dieselben immer auf irgend ein zufälliges Moment
zurückfiihren. Es hangt nämlich die Schnelligkeit des Wachsthums,
insoferne es sich fiir das freie Auge präsentirt, unter sonst gleich-
bleibenden Verhältnissen erstens von der Menge des zur üeber-
impfung gelangten Culturmateriales ab und zweitens, von der
Zeit, welche seit der letzten Ueberimpfung der Cultur verstrichen ist.
Wenn die Mengendifferenzen der überimpften Keime erheb-
liche sind, so wird fast stets eine Verschiedenheit in der Wachs-
thumsschnelligkeit vorgetäuscht. Man kann sich hiervon leicht
überzeugen, wenn gleichzeitig Parallelimpfungen einerseits aus
einer verdünnten Bouillon-, andererseits aus einer Gelatinecultur
gemacht werden. Da zeigt es sich, dass die aus der Gelatine
überimpfte Cultur früher und auch reichlicher zu wachsen scheint.
Dieses schnellere Wachsthum ist aber nur ein scheinbares, kein
thatsächliches und hängt nur mit der grösseren Anzahl der aus
der F. P. G. , respective mit der geringeren Anzahl der aus der
Bouilloncultur auf der Platinöse haften gebliebenen Keime zu-
sammen.
*) 1. c. pag. 25.
•) 1. c. pag. 79.
<6)
üeber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 333
Man wird sich bei der spärlicheren Cultur auch überzeugen
können, dass, wenn bei oberflächlicher Betrachtung noch kein
Wachsthum erkennbar ist, mit der Lnpe schon deutlich einzelne
zerstreut liegende allerkleinste Pünktchen sichtbar w^erden; ihre
Anzahl ist jedoch so spärlich, die Colouien selbst so klein, dass,
indem sie keine zusammenhängende Trübung bilden, im Beginne
ihres Wachsthums der Eindruck für das Auge verloren geht, zu
einer Zeit, wo bei der reichlich Uberimpften Cultur durch die
ebenfalls noch allerkleinsten, aber in grosser Anzahl dicht neben-
einander liegenden Colonien schon eine deutliche Trübung des
Impfstiches statthat.
Ist das Alter der Generation, d. i. die seit der letzten
Ueberimpfung des Streptococcus verstrichene Zeit, eine bedeutende,
so wachsen die Culturen nur sehr dürftig, und eine mehrere
Wochen lang nicht fortgesetzte Cultur des Erysipelcoccus wächst
scheinbar langsamer und dürftiger, als eine schon nach einigen
Tagen überimpfte, wenn auch ursprünglich spärlicher gewachsene
Cultur des Streptococcus pyogenes und vice versa. Dieser Um-
stand beruht darauf, dass unsere künstlichen Nährböden für das
Wachsthum der Streptococcen bald erschöpft werden und letztere
deshalb allmälig zu Grunde gehen. Nach zwei Monaten ist eine
Streptococcuscultur in Gelatine, wenn sie nicht überimpft wurde,
entweder steril, oder keimt höchstens nur in einigen Colonien auf.
Diese spärliche Anzahl kann nun im Beginne des Wachsthums
in der obenerwähnten Weise ein Zurückbleiben im Wachsthume
vortäuschen.
Ob in diesem Falle das langsamere Wachsthum nur durch
das Aufkeimen der in geringer Anzahl vorhandenen Colonien
bedingt, oder ob auch noch eine wirkliche Verlangsamung durch
die lange Nichtüberimpfung herbeigeführt wird, ist schwer zu
entscheiden. Ausschliessen kann man die letztere Möglichkeit nicht
ohneweiters. Denn wenn im Laufe der Zeit, sagen wir nach
zwei Monaten, in Gelatine die meisten der Streptococcen einge-
gangen sind, so kann man doch billig voraussetzen, dass die
übrigen noch lebensfähigen Streptococcen ebenfalls auf dem Wege
sich befinden, um bald zu Grunde zu gehen und, auf frische
Nährsubstanz gebracht, sich erst erholen müssen, bevor sie die
(7)
334 Hajek.
ihrer Art eigene Schnelligkeit und Ueppigkeit im Wachsthum
bekunden.
Wichtig für unsere Frage ist es aber, dass die erwähnte
Verlangsamung im Wachsthum durch das zu lange Nichttiber-
impfen fiir beide Arten der Streptococcen in gleicher Weise
statthat.
Endlich möchte ich die Abhängigkeit der mitunter auftre-
tenden scheinbaren Differenzen in der Wachsthumsschnelligkeit
von den oben erwähnten zufälligen Momenten hauptsächlich aus
dem Umstände schliessen, dass, wenn ich bei vergleichenden
Impfungen desStreptococcus desErysipels und der
Phlegmone sowohl die überimpfte Menge als auch
die Zeit seit der letzten Ueberimpfuug annähernd
gleich hielt, ich nie eine irgendwie in Betracht
kommende Differenz in der Wachsthumsschnel-
ligkeit beider Streptococcen constatiren konnte.
Nicht minder schwach scheint mir die Grundlage zu sein,
auf welche Hoffa^) das schnellere Wachsthum des Erysipel-
Streptococcus basirt, indem er sagt, dass er den F e h 1 e i s e n'schen
Erysipelcoccus, der, wie aus seiner Beschreibung hervorgeht, eine
schon vorgeschrittene Generation sein musste, und einen aus dem
Kniegelenk gezüchteten, vermuthlichen Erysipelcoccus mit einem
Streptococcus pyogenes, frisch gezüchtet aus einem Mammaabscess,
verglichen und ein entschieden stärkeres Wachsthum der beiden
ersteren constatirt habe, trotzdem, wie er meint, „dieser (Strepto-
coccus pyogenes) doch vor viel kürzerer Zeit den Thierkörper
passirt hatte als die Coccen Fehlersen's."
Die dem ganzen Vergleiche supponirte Anforderung des
rascheren Wachsthums des Eiterkettencoccus, weil er vor viel
kürzerer Zeit dem Thierkörper entnommen wurde , ist durchaus
nicht berechtigt. Denn wenn es auch mitunter vorkommt, dass
die unmittelbar dem lebenden Thierkörper entnommenen Mikro-
organismen ein üppigeres Gedeihen bekunden als die späteren
Generationen, so ist dies doch nicht immer der Fall. Man macht
ebenso häufig die Erfahrung, dass gerade die dem Thierkörper
*) 1. c. pag. 79.
(8)
Ueber das ätiologische Verhältniss des Erysipels znr Phlegmone. 335
unmittelbar entnommenen Streptococcen in den ersten Generationen
spärlicher wachsen, als nach einigen, auf geeigneten künstlichen
Nährböden fortgeführten Generationen, was auch gar nicht merk-
würdig ist, wenn man bedenkt, dass die Streptococcen im thieri-
schen Gewebe , je nach dem Stadium des Processes, bald üppig
vegetiren, bald dagegen im Absterben begriffen und nur in
spärlicher Anzahl vorhanden sind. Es hängt dann lediglich von
dem einen der vorhandenen Momente ab, ob auf dem künstlichen
Nährboden in den ersteren Generationen ein intensiveres, oder
ein wenig energisches Wachsthum stattfinden wird. Man sieht
dies sehr gut mitunter an excidirten Hautstückchen eines Erysipel-
randes , wo mitunter erst nach 48 Stunden und selbst nach
längerer Zeit die ersten Andeutungen von Colonien wahrnehm-
bar werden, während man sonst bei fortlaufenden Ueberimpfdngen
auf künstlichem Nährboden schon nach 24 Stunden deutliches
Wachsthum zu constatiren vermag.
Andererseits hatte ich erst jüngst Gelegenheit, von einer
Phlegmone einen Streptococcus auf der Acme des Entzündungs-
processes abzuimpfen, welcher anfangs ein rascheres Wachsthum
zeigte als alle meine übrigen Eiysipelculturen.
Indem ich die Voraussetzung Hoffa's, dass die dem Thier-
körper entnommenen Streptococcen energischer wachsen, als Gesetz
nicht bestätigen kann, vermag ich auch die daran geknüpfte
Folgerung des schnelleren Wachsthums des Erysipelcoccus nicht
einzusehen.
Ebenso hinfallig sind die Angaben bezüglich geringer Form-
unterschiede in der Stichcultur der beiden Streptococcen. Es
muss nämlich, bevor man an die Beurtheilung derartiger Angaben
geht, berücksichtigt werden, dass die Form der Culturen, je nach
der Menge der zur Ueberimpfung gelangten ßeincultur, erhebliche
Differenzen aufweist, demzufolge aus geringen Formabweichungen,
die sehr gut auf den erwähnten Umstand zurückgeführt werden
können, auch kein Schluss auf das differente Verhalten der beiden
Streptococcen erlaubt ist.
Impft man z. B. aus einer Fleischwasserpeptoncultur einen
der in Frage stehenden Streptococcen, so beobachtet man im
Sommer schon bei Zimmertemperatur nach 24 Stunden im Impf-
(9)
336 Hajek.
stich weisßlich-opake , allerkleinste ^ mit dem freien Auge eben
noch wahrnehmbare bis grieskorngrosse Körnchen. Diese Körnchen,
welche als Colonien der einzelnen im Impfstiche zur Vertheilung'
gelangten Keime aufzufassen sind und in ihrer Grösse variiren,
lassen mit aller Bestimmtheit erkennen, dass in der Tiefe des
Impfstiches die Colonien am grössten sind, nahe der Oberfläche
am kleinsten, und endlich an der Oberfläche selbst um den Impf-
stich hemm eine kaum wahrnehmbare Grösse erreichen. Ist die
überimpfte Cultur sehr verdünnt gewesen , dann sieht man an
der Oberfläche den Hof noch deutlich aus Körnchen zusammen-
gesetzt; bei einigermassen reichlicher Ueberimpfung sieht man
jedoch nur einen, den Impfstich unmittelbar umsäumenden, grau-
weissen, beiläufig IV2 Millimeter breiten Hof, in welchem keine
Körnchenbildung wahrnehmbar ist.
In der geschilderten Stichcultur der Gelatine manifestiren
sich bestimmte Wachsthumseigenthümlichkeiten, dieTür alle Strepto-
coccen gleich charakteristisch sind. Die Colonien werden dort am
grössten, wo sie in geringer Anzahl und zerstreut liegen. Obzwar
nun die einzelnen Colonien an und für sich ein beschränktes
Wachsthum haben , ist es doch augenscheinlich , dass die Grösse
der Colonien durch die nahestehenden übrigen beeinträchtigt wird.
Es ist dies nicht blos eine Hemmung durch unmittelbare Be-
rührung, sondern es bedingt das Dichterstehen allein schon ein
beschränktes Wachsthum. Letzteres geschieht wahrscheinlich in Folge
der Ausscheidung gewisser chemischer Producte, welche die un-
mittelbar angrenzende Nährsubstanz zu einem weniger geeigneten
Nährboden umändern. Die grösste Hemmuog erfolgt indess zweifel-
los durch das sehr nahe Anliegen der einzelnen Colonien. Wenn
man mit einer reichlichen Cultur impft, so kann es geschehen,
dass nur am Rande des Impfstiches eine Körnchenbildung wahr-
nehmbar ist, während an der Oberfläche der früher erwähnte grau-
weisse Schleier und in den mittleren Partien des Impfstiches durch
das unmittelbare Aneinanderrücken eine streifige Zeichnung entsteht,
wodurch die Cultur als ein der Länge nach gefasertes, mehr homo-
genes Band erscheint, in welchem keine Körnchen mehr wahrzu-
nehmen sind.
(10)
Ueber das ätiologisclie Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 337
Das WachBthum ist stets auf der Oberfläche am spärlichsten,
was wohl allseits mit der anaSroben Eigenschaft der Strepto-
coccen in Zasammenhang gebracht wird. Es ist indess mehr als
wahrscheinlich, dass hier noch das Moment der Hemmung durch
unmittelbare Berührung in Betracht kommt. Es scheint mir ins-
besondere auf dem Agar-Agar der Beweis hierfür zu liegen, wo
der Hof um die Einstichsöffnung noch viel zarter als bei der
Gelatine ist, und aus sehr kleinen , an der Grenze des Wahr-
nehmbaren liegenden, dicht gedrängten Colonien besteht. Wenn
nun der Agar einigermassen feucht ist, so kann man nach einigen
Tagen die von dem Rande des Impfstiches fortgeschwemmten
Keime zu deutlichen, grauweissen, stecknadelkopfgrossen Colonien
heranwachsen sehen, was doch unmöglich wäre, falls durch den
Zutritt des Sauerstoffes allein schon eine erhebliche Beschränkung
des Wachsthums erfolgte.
Man wollte den Hof um die Einstichsöffnung der Gelatine
bei dem Streptococcus pyogenes deutlicher ausgeprägt finden als
beim Erysipelcoccus.
Wie hier insbesondere die Menge des tiberimpften Cultur-
materiales massgebend ist, wurde eben betont, und hält man
dies vor Augen, so kann man aus ein und derselben Cultur, in-
dem sie bald reichlich, bald spärlich überimpft wird, einen ent-
sprechend deutlichen , oder kaum merklichen Hof erzeugen,
unterschiede zwischen den beiden Streptococcen sind jedoch nicht
zu constatiren.
Der Impfstich im Agar-Agar bietet nichts Charakteristisches ;
das Wachsthum ist hier nicht so regelmässig, der Hof um den
Einstich , wie schon erwähnt , sehr zart und durchsichtig. Im
Uebrigen ist auch hier zwischen den beiden Streptococcen keine
Differenz ei-sichtlich.
In Form von Impfstichen auf dem Agar-Agar wachsen
beide Streptococcen unregelmässig und spärlich. In den meisten
Fällen der Ueberimpfung sieht man nach 48 Stunden bei Brut-
temperatur nur eine diffuse graue Trübung im Impfstiche selbst,
während in der Umgebung des letzteren kaum etwas sichtbar ist.
Charakteristisch für die Wachsthumsverhältnisse beider Strepto-
coccen ist, dass der Ausdruck von isolirter Colonienbildung hier
(11)
338 Hajek.
ebenfalls von der Art der Vertheilung der Keime im Impfstiche
abhängig ist. Bleiben die Keime in einer gewissen Distanz von-
einander haften, so wachsen sie zu rundlichen Colonien aus ; sind
sie dagegen dicht gedrängt, dann sieht man nar vielfach inein-
ander verschlungene, netzförmig angeordnete Stränge von Ketten,
aber keine isolirten, compacten Colonien. Es ist wohl überfltissig,
auseinanderzusetzen, dass diese Differenz ebenfalls auf das schon
erörterte Moment der gegenseitigen Hemmung zurückzuführen ist.
Erst bei reichlicher Ueberimpfung sieht man das Wachs-
thum den Rand des Impfstiches überschreiten, und es ist dann
ein fast constantes Yorkommniss, dass, je entfernter man von
dem Rande des Impfstiches sich befindet, um so grösser, aber
auch zerstreuter die einzelnen Colonien sind ; erst in einer gewissen
Entfernung, de norma nicht weiter als 1^/a Mm., nähern sich die
grösseren Colonien und schliessen als Rand das Wachsthum nach
aussen ab. Es kommt nun häufig, aber wie ich Rosenbach ^)
gegenüber bemerken will, durchaus nicht immer vor, dass von
dem verdickten Rande nach aussen eine neue Terrasse sich anlegt,
indem vom ersteren zierlich untereinander verschlungene Ketten
abgehen, um nach aussen abermals in Colonienhaufen sich fort-
zusetzen, die wieder mit einem verdickten Rande abschliessen.
Es kann sich dies 3— 4mal wiederholen, wobei die äusserst
stehende Terrasse immer die am spärlichsten entwickelten Colonien
zeigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hängt diese Terrassenbildung
mit der Fortschwemmung einzelner Colonien einerseits von dem
Rande des Impfstiches, andererseits von dem verdickten Saume
einer abgeschlossenen Terrasse ab. Auf dieser Flüssigkeitsaus-
scheidung des Agar-Agar beruht es auch, dass die ganze Stich-
cultur gewöhnlich eine derart unregelmässige Form annimmt, dass
während an einzelnen Stellen das Wachsthum von den Rändern
höchstens 2 Mm. weit dringt, an anderen Stellen der Stich in
die Breite gezogen wird und zerstreut liegende Colonien weit
nach aussen noch sichtbar sind. Offenbar geht die Flüssigkeits-
ausscheidung nicht auf einmal, sondern allmälig vor sich ; daraut
mag überhaupt die Bildung m eh r e r e r Terrassen beruhen, während
^) 1. c. pag. 23.
(12)
üeber das ätiologisclie Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 339
wenn von vonieherein sogleich reichlich Wasser ausgeschieden
wird, die Cultur unregelmässig ausfällt und jedwede Spur einer
Terrassenbildung verloren geht.
Rosenbach^) glaubte in der Stichcultur beider Arten von
Kettencoccen charakteristische Unterschiede gefunden zu haben;
er sagt: „Auf den ersten Anblick scheint die Aehnlichkeit der
Culturen dieses Pilzes (Streptococcus pyogenes) mit dem Erysipel-
pilz eine sehr grosse zu sein. Auch letzterer hat oft, aber viel
weniger ausgesprochen, die Neigung, flachere Höfe zu machen,
deren Ränder dann aber entschieden dickere und namentlich un-
regelmässigere, auch opakere und weisslichere Klümpchen und
Streifen bilden. Bei weiterem Wachsthum ist hier die Bildung
von Fortsätzen oft so bedeutend, dass die Cultur ein dentritisches
Aussehen bekommt und aussieht, wie das Blatt eines Waldfarren-
krautes, während man eine etwas regelmässige Cultur des Eiter-
pilzes eher mit einem Akazienblatte vergleichen kann.^
Dass der Streptococcus pyogenes eine grössere Neigung zur
Bildung von flacheren Höfen entwickelte, konnte ich nie heraus-
finden. Wenn man bedenkt, dass die geschilderte Terrassenbildung
einmal deutlich, ein andersmal kaum merklich sichtbar ist, dass
dabei die Menge der überimpften Cultur, Beschafl^enheit des Nähr-
bodens, Zufälligkeiten in der Menge des local ausgeschiedenen
Wassers eine Rolle spielen , wenn man ferner sieht , dass bei
Stichen aus ein- und derselben Cultur auf derselben Agarplatte
bei dem einen Stich die Terrassenbildung deutlich, bei dem
an deren absolut nicht zu finden ist , so wird man von einem
solch' unbeständig difl'erenzirenden Merkmal nicht viel erwarten
können.
ImUebrigen wird der von Rosenbach angegebene Form-
unterschied der Stichcultur von den meisten Autoren geleugnet.
Auch kann ich seine Behauptung bezüglich der bräunlichen Ver-
färbung, die dem Streptococcus pyogenes allein zukommen soll,
nach zahlreichen Versuchen, die ich gemacht, nicht bestätigen.
In den meisten Fällen sieht man überhaupt nichts von einer
exquisit bräunlichen Verfärbung des Impfstiches; einer gering-
*) 1. c. pag. 24.
(13)
340 Hajek.
fligigen dagegen kann man ebenso gut auch beim Erysipel mitunter
begegnen.
Das Wachsthum auf Kartoffeln ist sehr spärlich und makro-
skopisch nicht sichtbar. Die einzelnen Coccen werden hier von
wechselnder Grösse und zeigen ein ungleichmässiges Färbungs-
vermögen. Auf Blutserum wachsen dagegen beide Streptococcen
sehr gut. Sie bilden hier einen weisslichen Rasen und das Wachs-
thum steht auch nicht so rasch still, wie auf den anderen künst-
lichen Nährböden. Eine Differenz ist aber auch hier in dem
Verhalten der beiden Streptococcen nicht zu erkennen.
Ich hatte überdies noch sterilisirten Urin durch Gelatine in
feste Form gebracht und mit einer solchen Nährsubstanz Differeu-
zirungsversuche angestellt, aber ohne jeden Erfolg, da das Wachs-
thum der beiden Streptococcen auf diesem Nährboden ein recht
kümmerliches ist, demzufolge ich hier auf die näheren Angaben
um so leichter Verzicht leisten kann.
Um nichts unversucht zu lassen, entschloss ich mich auch,
eine Reihe von Nährsubstanzen anzuwenden, die zuerst Büchner^)
gelegentlich der Differenzirungs versuche des Emmerich'schen
„Neapler Cholerabacillus" von dem letzteren morphologisch nahe-
stehenden Typhusbacillus und einem im Kothe vorgefundenen
„Fäcesbacillus (Brieger)" angegeben hat.
Der Werth dieser Nährsubstanzen soll nun darin bestehen,
dass man durch dieselben mitunter auch dann noch den Beweis
von der Differenz vieler der Bacterien erbringen kann, wenn
letztere durch die üblichen Culturverfahren gleichartig erschienen
waren. Es kommen bei diesen Versuchen folgende zwei Eigen-
schaften der Bacterien zur Geltung:
1. Die Fähigkeit der Säurebildung, respective der Grad
derselben.
2. Die Fähigkeit innerhalb einer Nährsubstanz von geeigneter
chemischer Zusammensetzung Gährung hervorzurufen.
Um die Säurebildung überhaupt, die Intensität und die
Schnelligkeit des Auftretens derselben beobachten zu können, hat
B u c h n e r zu seinen Nährlösungen Lackmustinctur zugesetzt, welche
*) Buchner, Archiv für Hygiene. Bd. III, Hft. 3 n. 4, pag. 417.
(1-4)
Ueber das ätiologische VerbSltii&d des Erysipels zur Phlegmone. 341
fto gev^htdicb bei BonstJgcr liigiitmg des Kährbodens dein
WÄclteftÄm del- BiaistöHteÄ nicht hindetlich ist. An deto RothVerden
«ter l)lihrsfibBtali2 n^iAifeettift tidb dite ptoducifte Säure innerhalb
4er Käbl4!l0c^^tt.
Die Näbi^abflf^liizieb besti^faen aftä ^eidchi^ittäct, Itobüncker
tthd P^toÄ ^ retuchieäettöii PtofeentveAältnisseli. fiö würdö die
«tetÄüJfcrtiB Bööchi-eibttng von det Bereitung diegeir iTäbWübfitanz
nn* hier zu weit flihr^n und ich Vereise daher auf die Jtuöführ-
lit^en, diesbeitiglich'en Angaben ton ßüctiner. 0
Er^fthnen will ich nur, dass die fiatlptdchwierigkeit, wie
Büchner und Weisstir«) betonen, !n der Sterilisation der
Nährfltissigkeit liegt, und dass auch die Bereitung im Üanzen
«ehr ttttisländlich und zeitraubend ist.
lA fs$M nnn m^inB eMen 4 Verdnchisrelhen mit den Hähr-
«ttntonzen folgende ^uisamtnensetiung (gtinau na<oh ßüchner^s
Angabe bereitet),
1. l«/ö Rohrzucker, OlVo Pepton, 01% tleisehteitrÄct,
durch SodalöBung gchwadli lalkaliscii.
8. fe«/^ R^hrtndter, 01% t^epton, <M^/o Fleischettraet,
durch 1% Normalnatrönlaüge alkalisch.
3. 10 Vo Rohrzucker, 0-1 Vo Pepton, 0*1% Jleischextract,
durch 1% )ft>rmalnatrönllEtnge alkalisch,
4. 20*/o Rohrzucker, O-l^'o Pepton, 0-1% "Pl^ischeitract.
durch :2Vo l^onnalnatronlaüge alkalisch,
deshalb in Kürze zusammen, weil sie 6ich dehr bald liÜd unge-
eignet «rwies^en haben, indem die beiden Streptococcen in ihnen
lein kaum merkliches Wächäthum zeigten, föne eventuelle Säure-
ptt)dnction konnte , dem geringen Wachsthum entsprechend , nur
eine minimale sein ; Wenigstens zeigte sie sich auf die hläuHche
l^'ärbnng ^on keinerlei achtbarem Sindnsse.
Da nun die Strejltoeoccen in einer solch' eiweissarmen Äahr-
»nbrtanfe nicht zur Genüge sicli vermehren, lag es nahe, dieselben
Äe«lÄndtheiie der IJährsubStanz in einer grösseren Concenträtion
ihnien dÄrfcuWeten , damit sie durch Üppigeres WaeVsthum die
ihnen innewohnende Eigensehaft der Sänreblldong äucb deutlicher
0 1. c.
•) Weisser, Zeitschritt für Hygiene. I. Bd., Ö.Bft., j>ag. 339.
Med. Jahrbücher. 1887. 28 (15)
'S s
H.jek.
L in der Tfaat nimmt man wahr, dass bei Benfitzimg
ären Menge von Pepton, - nämlich 1 — Ö'/«, dazu 10»/o
»^."Kohrzacker und 0-5»/» Fleiachextract mit 1 — 3Vo Nonnal-
üiage alkalisch gemacht, eine NahrötUsigkeit entsteht, in
?^nSsf!SoS^^ 1^^^^° Streptococcen sehr gut wachsen ; auch gelingt
'^ rsabstanz noch Lackmostiiictar zuzusetzen, ohne Bil-
£ ejnaiJfifiderBchlages, wenn nnr sonst die filtrirte nnd alka-
icht4 NäbrflUssigkeit klar genug geblieben ist. Diese
^^üs^keiL ist allerdings weniger durchsichtig als die vorigen,
immertun noch geeignet, das beginnende Wachsthum in Form
nockiger^rttbnng, die Neigung zum Sedimentiren hat , gut
,chaem ict
: ich non schon in den ersten geimpften Beageoz-
£laachea darchsBhmttlich nach 10 Standen ein Wachsthum and
^U^ ^^nw^^mi^ Bothßirbnng gesehen hatte , wurden Parallel-
im^ingen mitBoniUoQcaltareD der beiden Streptococcen
eichmi AUfti; der Geueiiitiou mit einer Flatinfise vorgenommen.
r ndr-^iidi^ darum /.u thun, annähernd g I e i c h e Mengen
iiäeDLÜ^ur^lf zu überiDijtfen. Wenn dies durch angegebene
le'rauAii Jiicht streng mathematisch durchgeführt wird, so
^t^^ flennpcii^Am Terlässlichfiten. Ich habe lümlich schon
^rimeil äiitahrcn,. d^ , wenn ich die Bonillonreagenzgläschen mit
äc^tlieq!enen ^eng^i ein und derselben Cultur beschickte, dann
^t^ in äemreiCDÜcher ttbcriiupften eine für das freie Äuge sichtbare
,. 1^ dtäubie nun meine Muhe belohnt zu sehen, als ich trotz
naadi m, iiÄyii vi ifii ■>;}>, „ „ . , ,
decjie^ueii Cautelenip den ersten ParallelversDchen dnrchschmttlich
liei 4m fiQit ^^yaipel , j;eimpften ein stärkeres Wachsthum und
dWep^prcciffind .früher ein Rothwerden der Kährsnbstanz beob-
äcbtea Konnte, ^uch schien die Trttbong bei den Erysipelröhrchen
dpa mehr flockiKe/, Mim Streptococcns pyogenes dagegen eine
laifl mßlecidjSre zu sein. Diese Beobachtung war keine Täuschung
und^icb haie die 'irwa^nte Farbendifferenz auch durch das Auge
lnTeretj,mit,Wortigeäh DO Resultate constatiren lassen.
^i3dM]J!f%ik%M^hi Parallelversuche zeigten keinen Unter-
scliied meur, uSa inuciti loli weiter fortfuhr, passirte es mir auch,
dass d^Streptococcns pTOgenes BchneUer wuchs, dem entsprechend
Ueber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels mr Phlegmone. 343
die mit ihm beschickte Nährfltissigkeit sich Mher roth färbte.
Später ist wieder die gleiche Eigenschaft bei dem Erysipelcoocns
bemerkt worden.
Nach solchen Erfahrungen konnte natürlich yon einem
Beweise der differenten Art der beiden Streptococcen keine Bede
sein. Diese letzteren Erfahrungen sind jedoch insofeme von
Bedeutung, als wir durch dieselben erfahren, dass wir nicht alle
Factoren in der Hand haben, welche auf ein eventuell schnelleres
oder langsameres Wachsthum gelegentlich von Einfluss sein können-
Auch muss ein solches Resultat bezüglich der Folgerungen aus
kleinen Differenzen in der Wachsthumsschnelligkeit zur Vorsicht
mahnen.
2. Fathogene Wirkung,
Ein kurzer Ueberblick der von den verschiedenen Autoren
unternommenen Thierexperimente belehrt uns darüber, dass
die mit den beiden Streptococcen ausgeführten Infectionsversuche
bald eine gewisse Verschiedenheit, bald eine Gleichheit in der
pathogenen Wirkung zu Tage treten liessen. Angesichts solcher
Resultate drängt sich unwillkürlich die Vorstellung auf, ob denn
nicht die von einigen Autoren constatirten Unterschiede nur zu-
fällige und vielleicht von bisher unberücksichtigt gebliebenen
Momenten herrührende waren. Es wäre ja möglich, dass ein Strepto-
coccus, wenn er frisch aus dem Organismus gezüchtet wird, eine
heftige, z. B. eitererregende, dagegen in späteren Generationen
nur eine erysipelähnliche Entzündung hervorruft. Die Art der
Inißction: cutan oder subcutan, Menge der infectiösen Substanz,
Alter der Generation, könnte ebenfalls auf die Intensität und den
Verlauf des Entzündnngprocesses von erheblichem Einflüsse sein.
Auch ist noch die Frage zu berücksichtigen, ob nicht der Strepto-
coccus von Fall zu Fall, je nach der Acuität des Entzündungs-
processes, dem er entnommen wurde, eine verschiedene Virulenz
zeigt, demzufolge die Streptococcen nicht als eine einzige Art,
sondern als mehrere Arten von verschiedener pathogener Wirkung
aufzufassen wären. In Anbetracht der erwähnten Möglichkeiten
oblag es uns, bei der Vornahme unserer Thierexperimente in
zweierlei Richtung vorzugehen. Erstens mussten, um eine even-
28* (17)
»44 Hajtk.
tii^e ctiffereBte pathogne Wirinqg besser rtadil'en m kteBeb,
ParallelverBaohe diit d^m Sfreptoecocw dee {kysipeta mid der FUejg:-
mone gemacht werden, und hierbei fiir beide Coocmartm die
eben erwähnten, in Betracht kommenden Nebenbedingttigieii mOg-
Mehst gl^h emgehalteii w^en. ZwNtena miMten «t deb beiden
Streptococeenarten nntek' Wechsehdeta Webenbedingnngen Yersafehe
angestellt werd» , um zu aeh^ , ob überhaupt -^ und weim ja
— Ihs ZH welchem Grade hierdorch dai Betnltat dea ExperiramteB
beeinflnset wird; nnd endlich mnaate mit ans rerachiedMen QaeBea
gewonnenen StreptocoodiBartMi experimtatirt Vrerden.
Für die Infectioiiay^rittdie mit d^m Streptoeoobaa des Ery*
sipels wurden zwei Reihen von Coltnren yerwendet I^ ^iBte
yerdanke ich der Güte des Herrn Professors Weichselbanm;
sie stammte von eineto typische Erysipel des Vorderarmes, ans-
gehend yon einer Excoriation an der Hand, welches, nachdem es
eine Strecke auf d«(n Oberarm gewandert war, abbiaaste nnd m
Heilung überging. Diese Cultur wurde erst yq^ der d(K Gene-
ration angefangen zu Infectionsyersocbeki yerwendet. Eine zweite
Cultur gewann ich yon einem mit intensiy^ Schwellung einfaer-
gehenden Gesichtserysipel , das ttb^ den glänzen Stamm ahf die
Extremitäten gewandert wwr. Nach gehöriger entsprechender Des-
infection der Haut wurde yom Erysipelrande an dem Vorderarme
ein Stückchen excidirt^ in Agar-Agar geworfisn und der Bmt-
temperatur ausgesetzt. Nach 48 Stunden zeigten sich am Bande
des ausgeschnittenen Hautstückes weisiEdiche^ opake Körnchen^ dife,
auf Platten ausgegossai, sich als ein'e Beincultur yon Streptococcen
manifestirten. Mit dieser Cultur wurden schon yon der ftnfle'n
Generation an Impfeersuche ausgeftihrt
Als Bepräsentantm des Str^tococcus pyogenes wuMen sechs
aus yerschiedenen Entzttndungs- oder Eitemngsherden gewoAnelie
Str^tococcen gewiüilt, üb^iiall war der Streptococcus pyogenes
allein der Urheber des Processes gewesen:
a) Streptococcus aus einer tiefen, intermuseulät^n PfalegmoBe
am lii&en Vorderarme eines Mannes. Tod durdi TyMme^
h) Streptococcus yon einer iächenbaft mdti ausbrsteBiden
Entzündung des linken Untersdienkels y(M 14tagiger Dauer,
ausgehend yon einer Decubitusstelle am linken inneral Fuss-
(18)
üeber das ätiologiBche Yerliftltikiw das ErysipeU nr Phlegmone. 345
t^Sebel bei einem Hut ehroniscl^Bi Morbü8 Brightä bebafteten
MeMchen. Die Seetion ergab am Unterecheakel nuF Schwellmig
de? Haut imd serftoe Sxsadation im siibcataneB Bindegewebe,
nirgends aber ^tenmg.
o) StF^ptoeoccns ans einer phlegmonösen Entzündung des
reohten Unterschenkek. Das klinische Bild war dem eines Ery-
sipels frappant ähnlich ; Tod durch Pnenmonie. Am rechten Unter-
schenkel die Haut geschwollen, doch oberiächlich nirgends Eiterung.
Erst nach tieferem Einschneiden sieht man das Unterhantzell-
gewebe anf weite Strecken eiterig infiltrirt und necrosirt.
d) Streptoeoccns , gezüchtet aus einer lobulären Pneumonie
bei l^^us abdominalis in cler 3. Erankheitswoche.
e) Streptococcus, geztlchtet aus einer lobulären Pneumonie,
bei einer Endocarditis ulcerosa der Mitralklappe; letztere war
durch den Staphylococcus pyogenes aureus bedingt.
f) Streptococcus aus einer sogenannten idiopathischen, acuten,
flhrinös-eitrigen Peritonitis bei einem 95jährigen Mädchen, welche
nach 7 Tagen zum Tode gelUhrt hatte.
Der Chari^kter der „Reinculturen^ wurde durch Ausgiessen
auf Platten sichei^estellt. Es wurden zu Impfzwecken nur
Kanihehenohren verwendet, die wegen ihrer Zartheit und Dorch-
sbheinbarkeit zu vergleichenden Untersuchungen recht gut ge-
ei^et sind.
Von den geübten Methoden der Impfung war die subcutane
die häufigste ; es wurden Gelatine- und Agar-Agar-Cultnren in steri-
lisirtem Wasser bis zur milchigen Trübung des letzteren auf-
gesöhwemmt,' davon 2-rrTlO Theilstriche einer nach Koch modi-
ficirten P r a y a zische Spritze subcutan iigicirt. Auch Bouillonculturen*
wurden gebraucht.
- Andere Kaninchen in geringerer Anzahl wurden cutan in
der Weise geimpft, dass die Haut an 3 — 4 stecknadelkopfgrossen
Stellen der Oberhaut entblttsst und an den betreffenden Stellen
eine eoncentrifte Beincuhur eingerieben wurde.
Ich habe aus guten Gründen die subcutane Infection der
cutaxien vorgezogen und auch die erwähnte eutane Infection statt
der Impfstiche mit der inficirten Nadel in die Haut apgewandt.
Indem ich vor meinen systematischen Parallelversuchen zur Orien-
(19)
346 Hajek.
tirung in verschiedener Weise Impfnng;en yersncht habe, erfnhr ieh^
dass auf Impfetiche mit den beiden Streptococcen die Souadnchen-
ohren sehr häufig reactionslos bleiben, oder nur eine geringfügige
Röthnng um den Impfstich auftritt, seltener dagegen ein ausge-
dehnterer, wandernder Entzttndungsprocess folgt, wie ja dies auch
Passet^) gefunden hatte. Besser reagiren schon die Eaninchen-
ohren, wenn man statt der Impfstiche an von der Epidermis ent-
blössten Stellen eine Keincultur einreibt. Ich konnte auf die cu-
taue Impftmg nicht verzichten, weil zwischen ihr und der subcutanen
Application ein differenter Verlauf des Entztindungsprocesses nicht
von vorneherein auszuschliessen war. Fast constant reagiren die
Kaninchen auf die subcutane Iigection mit einer typischen
Entztindungsform, und deshalb , sowie auch, weil bei ihr die zur
Verwendung gelangte Menge der Eeincultur sich gut bestimmen
lässt, was bei meinen Parallelversuchen von Wichtigkeit war,
wählte ich vorzugsweise diese letztere Methode.
Die Eaninchenohren wurden vor der Impfung rasirt, mit
Seife und Sublimat gründlich gereinigt, das Sublimat mit auf-
gegossenem Alkohol und Aether entfernt; die Spritze war vor
dem Gebrauche sorgfaltig sterilisirt worden. Ich kann hier wohl
die Reproduction der Versuchsprotokolle unterlassen; ich halte
es für zweckmässiger, das Gesammtergebniss mitzutheilen und
den von der Regel abweichenden Verlauf einzelner Fälle im
Speciellen zu würdigen.
A. Erysipel.
Zwanzig Eaninchenohren wurden mit 2 — 10 Theilstrichen
einer in sterilisirtem Wasser oder Bouillon aufgeschwemmten
Cultur des Erysipelcoccus subcutan inficirt. Von diesen reagirten
15 mit einem sogenannten typischen Erysipel, wie es F e h 1 ei s e n ')
in seinen Experimenten ausnahmslos erzeugt hat. Es zeigt sich
nämlich, ausgehend von der Einstichstelle, eine rosige Färbung
der Haut, die fast immer die Neigung hat, gegen die Ohrwurzel
und den Nacken, seltener auch gegen die Ohrspitze fortzuschreiten.
Die grösseren GefUsse sind stark injicirt, die entzündliche Röthe
•) l c. pag. 39.
■) 1. c. pag. 17.
(ao)
üeber das ätiologisclie Yerhältnigs des Erysipels zur Phlegmone. ^Tf*
ist in der unmittelbaren Umgebung der gr()S8eren Gefässe am
deutlichsten zu erkennen. Ja es schien mir in einigen Fällen, das^
die Hyperämie, welche, nebstbei bemerkt, nicht immer ansgeprägx
scharfe Grenzen hat, nicht gleichmässig die Haut des Kaninchen-
ohres ergreife, sondern mehr weniger nm die grösseren Gefass-
stämme localisirt bleibe, so, dass zwischen je zwei entfernter
liegenden Gefassstammen eine Zone existirt, die von dem Ent-
zttndnngsprocesB weniger deutlich ergriffen ist Während die Ent-
zündung gegen die Ohrwurzel fortschreitet, erblassen die anfangs
entzündeten Partien, nur an der InfectionssteUe selbst bleibt in
Folge eines bei dem Einstich erfolgten Blutaustrittes eine Ver-
färbung und Consistenzyermehrung übrig. Nicht selten geht der
Process, wenn man an der Ohrspitze ii\jicirt hat, noch beyor die
Ohrwurzel erreicht wird, zu Ende ; über sie hinaus lässt sich die
Böthung wegen der dichten Behaarung nicht gut verfolgen. Die
Schwellung war in all' diesen Fällen eine minimale, das Ohr
aufrechtstehend, die Hyperämie eine heUrothe, das Ohr gegen
das Sonnenlicht gehalten durchscheinend.
Während in den erwähnten 15 Fällen der Verlauf des Ery-
sipels ein typischer war, sowohl mit den allerhäufigsten Ersehei-
nungen beim Kothlauf des Menschen, als auch mit den experi-
mentellen Resultaten Fehleisen's, Rosenbach's und Hoffa's
übereinstimmte , habe ich in drei anderen Fällen einen wesentlich
abweichenden Verlauf des Erysipels gesehen. Hier trat im Gefolge
der entzündlichen Köthung eine intensive Schwellung des Ohres
auf; der Entzündungsprocess wanderte gegen die Ohrwurzel, und
nach zwei Tagen, gerechnet vom Beginne des Entzttndungs-
processes , hing das Ohr herab. Die Hyperämie war hier mehr
dunkelroth, das Ohr gegen die Sonne gehalten undurchscheinend.
Der Process endete in dem ersten Falle nach 6, m dem zweiten
nach 5 und in dem dritten nach 10 Tagen mit vollständiger
Restitution. Ich hielt es gerade in diesen Fällen für geboten, von
dem Gewebssafte der geschwollenen Eaninchenohren abzuimpfen,
erhielt auch jedesmal eine Reincultur von dem ursprünglich auf
die Ohren verimpften Streptococcus, mit welcher Reincultur andere
Kaninchen geimpft, mit einem typischen, das heisst ohne er-
hebliche Schwellung einhergehenden Entzttndungsprocesse reagirten.
(«1)
a48 M^iek.
In v^^i Fällen der ^Q subculi^n inficirtoi Kanmoben entitaitd
nah^ der EiuBticheytelle, nachdem das Erysipel fortgewa9dert war»
ein circomscriptex emtztUidlicbei: Knoten, der vereiterte.
Zehp andere Kaninchenohren wurden cntan in der firilbor
erwlDinten Weiae geimpft. Se^hg davon reagirten mit einem tj-»
piBchen Eiryaipel ; zwei^ die mit einer BoniUononltnr inficirt worden
war^n^ blieben refractär; eines reagirte mit einer eben merUic^en,
den gröfuseren GMibss^n entlang ziebenden, rosigen Färbung; einen
endlich starb bald n^cb der Impfung nnd die Obdnction wiea
Tubercnlose der I^ungen nach. In keinem der cntan inficirten FiUld
constatirte ich erhebliche SehweUnng, und itimmt dieses
Resultat mit dem Fehleise n's Uberein, d^ meines Wissens nur
cntan inficirt h^tte.
Pie Incnbationsdaner schwankt^ bei meinen Thierveranehw
fOr das Ejysipel z;wischen 24 Stunden nnd 0 Tagen. Die Daner
des Krankheitaprocesses selbst betrug 3 — 9 Tage ; das aUgemnine
Befinden d^r Tbiere war nur wenig oder gar nicht alterirt) im
Ganzen ist nur eine massig;«! Tw^peratnrerhOhwg des erkra^uktoA
Ohr^ W conatatiren.
Per £inflnas der Menge der angewaadten Cultursubstaw
macht sich nur insofern^ geltcindi ^h dadnroh die Incnbations^^it
im Pnrchsehnitte yerkür^t erscheint, jülgemein giltig ist dies jedoeh
nicht, ^ in einem Falle, wo ich 8 Theilstricbe eiuer gut milehif
getrübten Caltur iqji^irte, die beginnende Beaction erst am 4. Tage
erfolgte.
Pie Methpde d^r Impfmig -- ob eutan pder subcutan -»^
ist insQferne von gelang ^ als ich die mit intensiver Schwellung
einhergehenden &7«ipel itet^ nur bei subcntaner IigaQtion
vorfand« Natürlich ist die Auzahl der von mir cntan inficirtm
Kauincben eine viel zu geringe, um daraus mit Sicherheit die
Möglichkeit des Auftretens einer intensiven Schwellung bei cntaner
Infectipn anascbliesaen au k&nnen« Auch muss ich erwähnen, dM8
der Beginn des Gr^sipels am ^aninchenohre bei subcutaner In-
fection sich ein wenig anders gestaltet ab bei der cutanen. Be-
let^terer seheu wir um die einzelnen Impfstellen eine streng bfh
grenzte, etwa stecknadelkopfgrosse Bötl^oug auftreten, die dauu
zusammeufliesst und weiter nach abwärts unten wandert. Bei wibr
üeber das ätiologische Yerhältous des Erysipels cor Phlegmone. 349
üatiOMsr Ipfeotion tritt dfig^en 4iQ begim^ende Böthung stßtü m
Oii^er aiiagedelinteraQ Stelle ^af, beUHofig entapF^heBd der
Ansdehnung dea BiaiitbackeU, welober bei der pabeutwen Iigectim
entatebt; mo^ wandert im let^ter^q Fi^ll^ die ^öttmiig ruscher
gegen die Obrenwarzel
A^^b die Näbreabsta^z, welcber die Keineultm des Strepto^
CQ^eiis wtati^mmt, ist ohpe Bedeatimg. Piass in zwei F^ep bei
ontaii geimpften K^qincben, wo eine BomUoactiltar yerweadet
?mrde) die Thiere refraotar g^bliebe^ sind, ist wahrscbeinlicb mir
auf die geringe Anzabl der ia der yerii^pft^ Bouillon vorbanden
gewesenen Streptococcen snrüokxafUhren.
2(wischen den zwei Reihen von Srysipelcidturm* ^on denen
«ine von der 30., die zweite von der 6. Generation i^n zu
Impinngen benutzt wurde, ist kein Unterscbied in dem Inten-
sitfttsgrade des Untztindungsproeesses evident geworden.
Es wurden mit der zweiten Cultur im Ganz ^ f^f Kaninoben
subeutw inficirt, von welchen vier mit typischem Bjryslpel) eines
dagegen mit intensiver Schwellung re^tgirte \ i^lle anderen Iinpfuugen
Wftren niit der ersten {Irysipeloultnr ansgeführt worden. Nur
acbien inir die zweite Cultur eine etwas grössere Virulenz, wenn
mw di^ so nennen darf, dadurch l^undzugeben, dass bei ihr die
bf^pnnende ßeaotion sieh dur^hscbnittlich schon nach 24 Stunden
^giß y ^uch wirkte die cut^e Methode, die ich dann noch später
nut dieser Oultur an zwei Kaninchen versuchte, pron\pter als bei
der älteren Oultur.
Wenn wir nun die «m Eaninchenobre durch die Infeotion
mi^ dem Erysipelcoccus gewonnenen Resultate resumiren, so erbellt
Folgendes: Von dw 30 inficirten Karnincben reagirten ^l nut
l^piscbem Erysipel, drei (subcutane Infection) boten eine mit
intenpuver Schwellung einh^rgehende wandernde B4ntzlindung d|^r,
bei vieren bildeten sich gegen ^ ^de circumscripte Knoten,
von welchen zwei (subonti^e Infection) vereiterten, zwei (cutan)
aieh resorbirten, zwei Kaninchen (Bouitloncultur) blieben refractitr,
^ines reiigirte nur theilweise und eines ist llir das Resultast nicht
verwendbar, indem es die Incubationszeit nicht tiberlebte.
Dieses Ergebniss zeigt uns, d^ss das Uinisch sich mani-
festirende Bild des Erysipels ein wechselndes ist, und dass man
(83)
350 Hajek,
deshalb nicht berechtigt ist, unter dem Begriffe „des Erysipels^
am Eaninchenohre schlechthin nur eine wandernde Röthimg ohne
Schwellung, die in Restitution tibergeht, zu yerstehen.
Es ist letzteres um so strenger zu betonen, als man am
Eaninchenohre durch Injection yon Faulflüssigkeiten und ander-
weitigen entzündungserregenden Substanzen (Ziegler) schon viel-
fach wandernde, mit intensiver Schwellung einhergehende Ent-
zttndungsprocesse erzeugt hat, sowie auch Eoch^) durch seinen
Mäuseseptikämiebacillus am Eaninchenohre einen exquisit wan-
dernden, erysipelähnlichen Process kennen gelernt hatte, welchen
er angesichts dieser ausgeprägten Symptome des typischen Ery-
sipels als erysipelatösen Process bezeichnete. Auch habe ich durch
eine mündliche Mittheilung Weich selb au m's erfahren, dass es
ihm mit dem Diplococcus pneumoniae schon des Oefteren gelungen
ist (durch subcutane Infection) am Eaninchenohre eine mit inten-
siver Schwellung verknüpfte wandernde Entzündung hervorzurufen.
Man könnte nach dem Gesagten, falls man einer wandernden,
mit Schwellung verknüpften Entzündung am Eaninchenohre be-
gegnete, mit Recht im Zweifel darüber sein, ob man es mit Ery-
sipel zu thun habe oder nicht. Denn es ist klar, dass, nachdem
wir den Urheber des legitimen Erysipels kennen lernten, wir
anderweitige EntztLndungsprocesse, die nicht durch den Erysipel-
coccus hervorgerufen werden, wenn sie auch klinisch ein erysipel-
ähnliches Bild zeigen, nicht mehr als wirkliches Erysipel ansprechen
können. Das Erysipel ist heute nunmehr ein ätiologischer Begriff
geworden. Allerdings war Fehleisen in der glücklichen Lage,
indem er die mit Schwellimg und entzündlicher Enotenbildung
einhergehenden Erysipele nicht sah, auch klinisch sein Eiysipel
von den anderen erwähnten, sogenannten Pseudoeiysipeln, trennen
und seinem Streptococcus auch eine einheitliche Wirkungsweise
zuschreiben zu können, indem er sagt^): „Dieser „erysipelatöse^
Process der Eaninchen unterscheidet sich aber nicht nur durch
seinen specifischen Erankheitserreger , sondern auch durch die
schlechtere Prognose und ein in mancher Beziehung abweichendes
') Koch, siehe L ö f f 1 e r , Mittheilimgeii ans dem kaiserl. Gesund*
heitsamte. «Zur Imxnimitätsfrage'*. I. Bd., pag. 170.
*) 1. c. pag. 19.
(M)
Ueber das ätiologische Yerbältiiin des Eiysipels zur Phlegmone. 351
Erankheitsbild. So bleibt z. B. das Ohr eines Eaninches beim Erysipel
in seiner Form unverändert, beim erysipelatösen Proeess dagegen
wird es dicker und schlaffer, die Spitze hängt herab. Bei durch-
faUendem Lichte erscheint der kranke Bezirk dnnkelroth und
lässt keine Gefösse durchschimmern, während das mit Erysipel
geimpfte E^inchenohr, gegen die Sonne gehalten, hellroth aus-
sieht und erweiterte Gefasse zeigt. ^
Indem die Erfahrungen Fehleise n's am Menschen eben-
falls ein einheitliches Erankheitsbild lieferten, war die Construction
der Lehre vom Erysipel gegeben. Ueberall dort, wo intensive
Schwellung oder gar Abscessbildnng vorkommt, hätten wir es
nicht mehr mit Erysipel, sondern mit Phlegmone zu thun, und
dort, wo einem scheinbar legitimen Erysipel im späteren Verlauf
Eiterung sich zugesellte, half man sich einfach mit dem Begriffe
der Mischinfection, indem gesagt wurde ^ dass der Streptococcus
pyogenes häufig mit den Streptoc. erysipelatis sich vergesell-
schafte (Rosen bach).^) Natürlich sind sdle derartigen Behaup-
tungen, insolange keine strengen Differenzen zwischen beiden
Coccenarten zu constatiren sind, als Hypothesen rein willkürlichen
Charakters aufzufassen.
Wenn es nun wirklich auf Wahrheit beruhte, dass als Erysipel
nur das aufzufassen wäre, was mit einer wandernden Böthe, ohne
erhebliche Schwellung und stets ohne die geringste Abscessbildnng
einhergeht, während alles Andere als Phlegmone zu betrachten
wäre, so vrttrde meiner Ansieht nach das Suchen nach Unter-
schieden zwischen den beiden Streptococcusarten eine wenig
dankbare und kaum nützliche Arbeit sein.
Indem aber aus meinen Thierversuchen hervorgeht, dass
die klinische Erscheinungsweise des Erysipels durchaus nicht
immer der Schwellung und Abscessbildung entbehrt, sondern häufig
übereinstimmt mit durch Faulflüssigkeit und anderweitigen Sub-
stanzen hervorgerufenen Entzündungsprocessen , so kann auch
das klinische Bild allein nicht mehr als Kriterium des Wesens
des Erysipelprocesses angeftihrt werden.
Für diesen Verlust der Constanz in der äusseren Erscheinungs-
^) L c. pa«. 48.
353 Eajek.
weiie bleibt üds indesg die Thataaehe, dass das Erjeipel beim
Kawiobeii ab ein ütiologisekev Begriff auftufttssen ist. Erjatpel
ist dort , wo wir dep Brysipelooeeiifl ftiden , und es wird schon
jetat gut sn wissen sein, dass aacb andere Noxen einen äbnliohen
Kra&]|lieitaYeriaiif erzeugen können.
Da. aber die menschliche Haut anf das Erysipelgifk sehr
ähnlich der des Kaninchens reagirt und wir geneigt sind, wegen
dieser Analogie die am Kamnchenohre gefimdenen Verhältnisse
mehr weniger auch fUr die menschliche Hant ananwenden, so wird
die erwähnte Unbeständigkeit der klinischen Symptome anch ftlr
das Boysipel am Mensehen in Rechnung zu ziehen sein.
Die Kliniker werden vielleicht hierüber ihre Bedenken haben
lind sagen, dass diese AqfPassong in der bekömmlichen Benen-
nung dessen, was man als Ehysipel aufeufassen habe, eine heil-
lose Vermmmg henForrufen müsste. Man ist seit jeher gewohnt,
das Brysipel als klinischen Begriff aufzuikssen und es empfehle
sich nicht, die strengen klinischen Merkmale eben deshalb, weil
man sie nicht auf ein constantes ätiologisches Moment surttek-
führen kann, anftugeben.
Dieses Raisonnement , so berechtigt es von yomeherein er-
scheint, wird doch dnrch die Er&hmng gerichtet. Denn die in
Frage stehenden wandernden Bntzttndungsformen werden beim
Menschen in den allenneisten Fällen nur dnrch einen Streptococcus
bedingt, welch' letzterer entweder den Charakter des Brysipelcooeus
oder des Streptoeoeeus pyogenes hat. Entweder wird es sich in
Folgendem herausstellen, dass der Streptoeoeeus des Erysipels mit
dem der Phlegmone identisch ist, dann filllt eo ipso eine strenge
Begrenzung der Krankheitserscheinungen des Erysipels weg ; oder
es sind zwei versehiede^e Arten, und dann wird es ja nur darum
zu thun sein , auf Grund der erwiesenen verschiedenen Bigen^
thttmlichkeiten eine Differentialdiagnose zwischen Efysipel und
Phlegmone stdlen zu können.
Aus dem Gesagten erhellt aber, dass die dnrch die baoierio-
logische Forschung gewonnenen Resultate sich sehr gut n^it den
klinischen Erfahrungen in Einklang bringen lassen.
Im Uebrigen bestätigt auch die Erfahrung am Krankenbette
meine an dem Kaninchenohre gewonnenen Resultate. Wir con-
im-
üeber das Itiologisclie YerhUtitin des Erysipels zur Phlegmone. 353
Btatiten nämlicli sehr häHfig^ daes das Eiympri ded Metoschen,
mög^i wir das Bild desl^lMßn kliniBcli noch so stifimge formulii^i^,
sowohl in Beeng der Intmaität als EiLtensit&t yersehiedene Grade
anfweist. Die Waatdemng als eines def* Haii)^tiiiotaiente ist i& dirti
einen Falle zweifellos ansgiepri^, insbesondinre bei Erjrsipelen,
die tiber den grSssten Theil dl^s Eöipeiis ferfwandern; in eilran
and^^n Falle dageg^ sieht mto das F(»tBchl^iteA bald ai^öreii.
Auch die mit d^ Hyperimie einherg^ende 6chweUm% ist rer-
schied» : bald toanifeetiit sieh der Bahd des Eijrsipels hh scharf
begrenzter^ über das NireaU d^ normalen Hant l^rhahoae]: Wall,
biald Terfla<At rieh der SiTripelraiid alhnalig gegen ffie norinale
Hant. Insbesondere beim Gesiditsetysfpel haben wir h&tfig Ge-
legenheit, tii» bedeateHde entafindliche Schwrilnng in imiMatiMa
and hier wiefder Vo^nngsW^se an den ob^^ AngeliKdelii und der
Wange^ was wohl nftit der Lo<&^faeit des snbetitaiien Zellgewebes
im Znsammenhang Steht. Die fast bretthafte Inffittatiob der
Wangenwei<Atheile ist kein seltenes YorkomBibiss. Es beweisen
diese Dinge ^ben^ dasS anch beim, mMsdUicfaeti Erysipel dw^ehans
nicht itnmei* eine ganz gleichförmige Erscheinangsweise im Ver-
laufe des Kitaikheitsproeesses zn beobachten ist
B. iPhlegttione (Stireptococctis j)yogei)ife8 Rosenbach).
•94 Kannicihenohren, die als Pai^telTersnelie zu den mit dem
Eiyripelcbocaft ioifidrteti Kaninchen^ mit dein Streptococcas pjrog^nes
inficirt wntden, zeigten in den meisten Fällen einen intenriven
Entzttadtagflptocesa, der sich in Folgendem äusserte:
In der gHtosten Anzahl der FAUe entsteht schon nach
24 Standen an die Einsfichstelle ^e äitensive RMhni^, welcher
sich bald auch eine erhebliche Schwellung zugesält Die Ent-
afindung trandeA atieh hier gegen die Ohrwnrael, schreitet aber
auch gegen die ^itze fort, wenn man dm Einq[)ritaQBg in einiger
EhtferAMg dattm ausgefthH hat. Nach 4Ssttttfdig«- Daief ^-
rrnht tief Process gewöhnlich scfao^ die Ohrtmrzei , wobd die
SehweUfmg das ganae Ohi* betriAt, letzteres in Folge seines
Gewidvtes herabhftngt und in hochi^rtfd^ien Fällen eineh unfbntn-
liehen Fleischklumpea niiflit tinahnUdh sieht |
(87) I
364 Hajek.
Die Hjperäinie ist sowohl auf die grösseren als kleineren
Gefässe ausgedehnt, das Ohr sieht livid ans iind ist, gegen die
Sonne gehalten, nndorchscheinend. Erst mn den Zeitpunkt, als
Röthnng nnd Schwellung ihren Höhepunkt erreicht haben, sieht
man an circumscripten Stellen die Haut sich weisslich yerfärben,
welche dann an einem Punkte platzt und auf Druck eine geringe
Menge dicklichen Eiters und einer hiernach folgenden, trflben,
serösen Flüssigkeit entleert; die weisslich yerfarbten Stellen sind
necrotische Partien der Haut. Das Secret trocknet dortselbst zu
festhaftenden Krusten ein, nach deren Abfallen mitunter eine
geringe Mengen Eiters secemirende Geschwttrsfläche entsteht.
Auch Blasen serösen Inhalts von Linsen- bis Haselnussgrösse
sind durchaus nicht seltene Ergebnisse. Die Blase pflegt zu platzen
und das biossliegende Corium zu einer brilunlichrothen Elruste zu
vertrocknen. Zur Blasen- und Abscessbildung kommt es indess nicht
in allen Fällen. Ich sah sie in den 34 Fällen nur lOmal. Der
Grund daftlr därfte in dem Umstände zu suchen sein, dass die
meisten mit dem Streptococcus pyogenes inficirten Kaninchen den
Entzilndungsprocess nicht überleben, sondern gewöhnlich schon
vor der Acme, beyor noch die Schwellung ihren Höhepunkt er-
reicht hat, crepiren. Eine grössere Anzahl der Fälle zeigt nur eine
intensiye Hyperämie mit mehr oder weniger hochgradiger Schwellung
und mit ausgeprägter Wanderung ; ich will jetzt schon bemerken,
dass diese Entzündnngsbilder den mit entzündlicher Schwellung
einhergehenden Erysipelen frappant ähnlich sind. Der Ausgang in
Restitution, was hier der seltenere ist, geht nur allmälig yor sich.
Es bleibt noch längere Zeit eine massige Verdickung des
Ohres zurück, und es erhält das Ohr, besonders in den Fällen,
wo mehrere Krusten sich bildeten, eine pergamentartige Steife
und Brttchigkeit.
Nach der cutanen Methode habe ich fünf Kaninchen inficirt.
Alle ftanf bekamen eine mit intensiver Schwellung einhergehende
Entzündung, bei emem trat überdies an mehreren Stellen eine
Necrose der Oberhaut mit Abscedirung ein. Ja an einer Stelle
der von der Epidermis entblössten Haut entstand eine die ganze
Dicke des Ohres durchsetzende Necrose, wobei das betreffende
Stück herausfiel und das Ohr ein Loch hatte.
(28)
üeber das itiologisclie YerhUtniss des Erysipels zur Phlegmone. 355
Die Incnbationsdauer ist fbr die meisten Fälle bei dem
Streptococcus pyogenes, wie schon erwähnt, kaum länger als
24 Standen. Eine kürzere Inoabationszeit ist ein häufigeres Er-
gebniss, als eine 48 Standen und darüber dauernde. Das Allge-
meinbefinden ist, entgegen den mit dem Erysipelcoccus inficirten
Kaninchen, in den meisten Fällen sehr stark alterirt. Wahrend
die mit dem Erysipelcoccus unter ganz denselben Bedingungen
inficirten Thiere während der ganzen Zeit der Incubation und
selbst während des floriden Entziindungsstadiums mehr weniger
munter umherlaufen, yerkriechen sich die mit dem Streptococcus
pyogenes inficirten Kaninchen sehr bald in eine Ecke ihres
Wohnraumes, lassen den Kopf hängen und zeigen nur w^g
Neigung zur activen Beweglichkeit. Nur einige Male sah ich,
dass die Thiere einige Stunden Tor ihrem Ende clonische Krämpfe
im Nacken bekamen. Ich habe bei den mit Erysipel inficirten
Kaninchen die Restitution als den gewöhnlichen Ausgang be-
zeichnet Es können wohl auch diese Thiere crepiren, aber fast
regelmässig erst einige Zeit nach überstandenem Processe. Nie
fand ich indess bei Obduction der Thiere irgend eine makro-
skopische Veränderung der inneren Organe, welche mit dem über-
standenem Erysipelprocesse in irgend einem causalen Zusammen-
hange zu bringen wäre, man findet überhaupt keine Todesursache
und vor Allem keine Milzschwellung.
Die grössere Anzahl der mit einer gut milchig getrübten Cultur-
aufschwemmung des Streptococcus pyogenes inficirten Kaninchen
crepirt vor der Acme des Entzündungsprocesses, gewöhnlich am
3. oder 4. Tage nach der Infection, seltener erst am 6. oder
7. Tage. Der Obductionsbefund erweist fast constant eine Milz-
schwellung, die ihrem Grade nach allerdings yerschieden sein
kann, aber fast constanter noch punktförmige bis stecknadelkopf-
grosse Hämorrhagien und luftleere, verdichtete Herde in den
beiden Lungen. Im Herzblut, in der Milz und in den erwähnten
Partien der Lungen findet sich der Streptococcus vor.
Ich möchte hier einige Bemerkungen einschalten bezüglich
der schon früher erwähnten Frage, ob nicht ein yerschiedener
Grad der Virulenz den Eiterkettencoccen zukommt.
CW)
8b6 Hmjek.
£8 hät^ die BeaütwoKtag dieser Frage daton ab, was
ttaü BBler dem Giiidiiiiti^Bciiede Terstaiideii haben will. W^ti
vHr xük% YorsteAen, daas der eine Streptoeoccm pyoge&ei stiAe
nur eine enttündliehe SchweUang, ein anderer dagiegen dneb
eidnetanlen inte&myen EntEttndtmgsproiceBs mit Eiterung bervor-
mft) diM- erMere ohne, der lem»% mit todilicfaem AnUg^ng, to
mfteaen wir zogebeh, daas in diesem Sinne ^n Unterschied in
der Yirolenz nicht zn constatiren ist Dagegen ist nicht zu leognen^
daüs t^iiMlUe Stiieptoeoecen , Wenn avch local keine ton deb
ftbrigen verschiedene Wirkungsweise äosiem, denselbeb
ProcesB in kttrserer ZSeit mit fast sicherem todttichen Ansgange
heryortnfen. So ist bei ge^^rissen Streptococcen das Stadintn
der 1^abaä(m kanm Knger als 12 Stunden, das Allgemeih-
beA^leti sd^ vor Ablauf der fiocnbution Wesebflich vetftndeit,
die entzündliche Sdi#ellulig hat sch<m nach 34 Ständen fiüt
das ganze Ohr etteicht und die Thiere crepiren 48 bis 72
Standen nach der Infedion. In d^ inneren Organen, namentlieh
in Lunge und Milz ^dc^ sich die schon oben erwahnfa^ Ver-
änderungen. Von meinen angewandMi CuRuren erwiesen sieh
insbesondere der Streptococcui^ pyogenes „d^ und ^e* sehr
deietSr. Von den 6 mit 4 Thdlstrichen einer Prayä^'schen
Spritne tnficirten Eankichen ftberlebte keines den dritten Tag.
Ich glaube aber nicht, dasi trfr ans Solche Düferenzeh in der
WirkuBgstfeise schon berechtigt sind, auf verschiedene Alien der
Sdrq[)tococcen zu schliessen, obwohl wir vorläufig nicht im Stande
sind, irgend welche plausible Erklärungsgründe für diese Ver-
schiedenheit anzugebw.
Wir wdlen nmr einzdne Punkte dnr durA den Streptococcus
pyogenes hervorgrarufmen Ebtztindui^bilder näher würdigen. Als
ehatakteristiMhes Moment für den hicalen Verlauf des Enta&ndungft*
pfocesses fiffi; anoh hier die Wanderung au^ und zwiu* ebenso
deuilieh, wie beim Erysipel Es stimmt dieses Symptom nnt der
Erfahrung Passet^ ^), veHrägt sich aber durohaioB nicht mit den
Besäitalen Rosenbaeh's^) imd Hoffii's, die eine circumscripte
Abscessbildung bei dem Streptococcus pyogenes constalir» konnten.
<) 1. c. pa^. 89.
•) 1. c. pag. 48.
fso)
üeber das ätiologische Verhältniss des Erysipels znr Phlegmone. 357
Ich sah eine solche niemals ; die Abscessbildung, respective Eiterung,
trat immer erst auf der Acme des Entzündungsprocesses anf, zn
einer Zeit, in welcher die Haut in grösserer Ausdehnung entzünd-
lich geschwollen war.
Es fehlt indess auch nicht an Stimmen, die den auffallend
erysipelatösen Charakter der Streptococcus-Phlegmone hervorheben.
So hat schon 0 g s 1 0 n ^) betont, dass die durch den Streptococcus
hervorgerufene Phlegmone zum Unterschiede von der durch den
Staphylococcus bedingten nur wenig Neigung habe, Eiterung zu
erzeugen; es komme vielmehr dem Streptococcus pyogenes die
Fähigkeit zu, lange in dem Gewebe vorzudringen und ausgedehnte
intensive Schwellung hervorzurufen, bevor es zur Eiterung kommt.
Wir werden später bei der histologischen Untersuchung noch viel-
fach Gelegenheit haben, uns davon zu überzeugen, dass diese
Beobachtung in jedweder ihrer Einzelheiten richtig ist. Passet
betont, dass er ausser der etwas intensiveren Böthung und
Schwellung bei dem Streptococcus pyogenes kein differentes Ver-
halten des letzteren von dem Streptococcus des Erysipels con-
statiren konnte. Man braucht nicht viel zu erwägen, um einzu-
sehen, dass ja unsere Resultate bezüglich des localen Entzündungs-
processes fUr die meisten Falle auch keinen anderen Unterschied
ergaben, indem ja die Eiterung und Necrose der Haut durchaus
nicht constante Vorkommnisse waren.
Aber nicht nur die Thierversuche, sondern auch die klinische
Erfahrung am Menschen hat den erysipelähnlichen Charakter der
Streptococcus-Phlegmone gelehrt. Die von Eosenbach*) citirten
Fälle der Streptococcus-Phlegmone mit erysipelartigem Charakter,
wo anfangs von erfahrenen Klinikern die Diagnose „Erysipel^
gestellt wurde und erst wegen der nach einiger Zeit angetretenen
Eiterung und ausgedehnten Necrose des subcutanen Zellgewebes
der phlegmonöse Charakter erkannt und die Diagnose geändert
werden musste, sind triftige Beispiele hierfür. Auch ich hatte
zwei Fälle von Streptococcus-Phlegmone am Unterschenkel zu beob-
achten Gelegenheit gehabt, wo die klinische Diagnose „Erysipel^
erst am Obductionstische wegen weitgehender Vereiterung des
*) 1. c. pag. 39.
•) 1. c. pag. 41, 42, 43 und 44.
Med. Jahrbücher. 1887. 29 <30
358 Hajek.
subcatanen Zellgewebes richtig gestellt wnrde. Ich werde auf
diese zwei Fälle im Folgenden noch zuräckkommen müssen.
Wenn wir nach unseren Thierexperimenten die Frage auf-
stellen, inwiefern die beiden Streptococcen in ihrer pathogenen
Wirkung verschieden seien, so wird es gut sein, wenn wir die
localen Entzttndungsprocesse von der Beeinflussung des Gresammt-
Organismus trennen und beide für sich in Betracht ziehen. Be-
züglich der localen Symptome der Entzündung können wir nicht
ein einziges Moment anfahren, welches bei der einen Art von
Streptococcus vorkäme und bei der anderen ebenso constant fehlte.
Denn weder die intensive Schwellung, noch das von den meisten
Autoren aufgestellte Princip der Abscessbildung bei der Phlegmone
sind so aosschliesslich der letzteren eigen, dass sie nicht auch
beim Erysipel, wenn auch seltener, vorkommen könnten. Kurz, es
decken sich häufig die localen Symptome beim Erysipel mit denen
der Phlegmone, und ist in derartigen Fällen, wenn der Strepto-
coccus pyogenes keine Allgemeininfection hervorruft, in der
pathogenen Wirkung kein Unterschied ersichtlich.
Wenn man indess das Gesammtresultat der erzielten localen
Entzttndungsformen übersieht, so ergibt sich eine Stufenleiter, dessen
niedrigste Stufen die Bilder des Erysipels, die höchsten die der
Phlegmone einnehmen, in den mitüeren Stufen grenzen die inten-
sivsten Bilder des Erysipels an die milderen der Phlegmone.
Es würde dies beiläufig folgendermassen lauten:
a) Wandernde Entzündung mit geringer Schwellung.
(äti ^urelcnA vi^rfiitfim
c) Wandernde Entzündung mit intensiver Schwellung.
^/ » jj T) 7) T) Ig:
e) Fortschreitende Entzündung mit Eiterung und Necrosei<|
der Haut. g
Ich will hier nochmals hervorheben, dass, nachdem in den
Versuchen mit den beiden Streptococcen die Bedingungen möglichst
gleich gehalten wurden, der Einwand, dass möglicherweise
die intensiveren Erscheinungen rein zufallige, vielleicht von den
erwähnten Momenten herrührende seien, mit aller Entschiedenheit
(82)
»
H
Vj
üeber das ätiologisclie Verhältnias des Erysipels znr Phlegmone. 359
sich zurückweisen lässt. In der Mehrzahl der Fälle ist bei Parallel-
versachen der Unterschied in der pathogenen Wirkung ein recht
hervortretender. Die mit Erysipel geimpften Kaninchen sind be-
weglich munter, zeigen erst nach mehreren Tagen eine sehr geringe
Röthung, während bei den mit dem Streptococcus pyogenes
geimpften Kaninchen schon nach 24 bis 48 Stunden das Ohr
intensiv anschwillt und am 4.-7. Tage erfolgt der Tod durch
die Allgemeininfection. Letzteres Ereigniss, nämlich die AUge-
meininfection , welche ich nur beim Streptococcus pjogenes und
nicht ein einziges Mal beim Erysipelcoccus beobachtet habe, ist
ein Umstand von grosser Tragweite, welcher mir einen sehr
wichtigen Anhaltspunkt dahin gibt, dass die beiden Streptococcen
in ihren Lebenseigenschaften gegenüber dem Thierorganismus von
principiell verschiedener Bedeutung sind. Dass die Symptome des
Erysipels häufig mit den der Streptococcen-Phlegmone überein-
stimmen, ist allerdings für die Möglichkeit einer klinischen Unter-
scheidung sehr unbequemes Moment, doch vnrd ja hieraus Niemand
für eine Identität der beiden Streptococcen einen Beweis schöpfen
wollen.
Für uns handelt es sich ja vorzugsweise um Entscheidung
der Frage, ob der Streptococcus des Erysipels identisch mit dem
der Phlegmone ist, und da müssen wir doch sagen, dass durch
die gewonnenen Resultate der pathogenen Wirkung ein Unter-
schied, wenn man noch so skeptisch sich verhält, zum mindesten
wahrscheinlich gemacht worden ist.
3. Histologisoher Befand.
Wenn eine Differenz zwischen den beiden Streptococcen-
arten durch die pathogene Wirkung wahrscheinlich gemacht
wurde, so wird diese durch den histologischen Befund vollkommen
sichergestellt.
Wenn schlechtweg von dem histologischen Befunde gesprochen
wird, so will ich jetzt schon bemerken dass nicht so sehr in der
durch die Streptococcen bedingten Gewebsveränderung, als vielmehr
in dem charakteristischen Verhalten derselben den einzelnen Be-
standtheilen des lebenden Gewebes gegenüber das kennzeichnende
29 • (33)
360 Hajek.
Moment liegt, weshalb ich in dem Folgenden stets anf den letzteren
Punkt das Hauptgewicht zu legen gedenke.
Ich will zuerst die histologischen Veränderungen, wie ich
sie am Eaninchenohre angetroffen habe, schildern und erst daran
knttpfend die entsprechenden Bilder beim Menschen anführen.
Wenn wir bei schwacher (beiläufig SOfacher) Vergrössenmg
einen Hautschnitt yom Rande des Erysipels am Eaninchenohre be-
trachten, so fallt uns eine Menge theils rundlicher, theils läng*
lieber Stränge von 2^11infiltraten auf, die insbesondere wegen
ihrer strengen Begrenzung nach aussen ein charakteristisches
Bild zeigen. Bei stärkerer Vergrössernng zeigt sich ein jeder
Strang aus einem Zellinfiltrate bestehend, das die Lymphgefasse
mehr weniger ausfallt. Die Grenzwand nach aussen erweist sich
als die Wandung des Lymphgefässes ; in geringgradigen Fällen
Yon Erysipel sehen wir kaum je das entzündliche Infiltrat die
Lymphgefässwandung überschreiten. Wir können daher den Pro-
cess in diesen Fällen strenge als eine Lymphgefässentzöndung
betrachten.
In intensiveren Fällen jedoch findet man an Stellen, wo
eine massige Schwellung sichtbar gewesen, auch die Binde-
gewebsspalten betheiligt und es sind dann nebst den grösseren,
zuvor erwähnten regelmässigen Strängen in der ganzen Cutis und
Subcutis zerstreut, kleinere circumscripte, unregelmässige
Zellanhäufungen zu erkennen. Je näher man gegen die Epidermis
kommt, umso spärlicher sind diese Zelleninfiltrate, nur in den
Papillen sehen ;wir dasselbe wieder reichlicher auftreten. Auch
die Wandung der Lymphgeifässe pflegt in diesen Fällen von
der Entzündung überschritten zu werden. Geht das Erysipel mit
sehr intensiver Schwellung — wie ich es in den früher
erwähnten drei Fällen beobachtet habe — einher, so begegnet
man an manchen Stellen einem mehr weniger diffusen Zell-
infiltrate, in welchem die stets am meisten betheiligten Lymph-
gefasse als Knotenpunkte erscheinen. Dies rührt daher, dass die
Entzündung, wie schon hervorgehoben, stets in den Lymphgefässen
beginnt, dort am intensivsten ist und gegen das umgebende Ge-
webe allmälig abklingt. Ein fibrinöses Exsudat findet man sehr
selten. Nur in einzelnen Lymphgefässen begegnet man in den
(34)
üeber das ätiologische Yerliältnisfl des Erysipels znr Phlegmone. 3gl
intensivsten Fällen von Erysipel einem spärlichen Fibrinnetz. Eine
Necrose der Gewebselemente ist nie zn constatiren.
Tafel I repräsentirt ein Erysipel mit intensiver Schwellung
(bei SOfacher Vergrösserong) ; bei a ist der Knorpel; beiderseits
von demselben sehen wir zahlreiche Lymphgefässe b mit zelligem
Infiltrate erfüllt. Die meisten Lymphgefässe werden dnrch die
Entzündung überschritten c. In der Cutis überall circumscripte
Zellanhäuftmgen sichtbar d.
Das eben entworfene Bild entspricht der Acme des Ent-
zündungsprocesses , anatomisch der Stelle, wo das Erysipel im
Fortschreiten begriffen ist. In einiger Entfernung vom Bande, wo
das Erysipel bereits in makroskopisch sichtbarem Ablaufen be-
griffen ist, involvirt sich das zellige Infiltrat auch rasch, und zwar
zuvörderst in den Lymphgefassen ; deshalb findet man an diesen
Stellen nicht mehr die Zellstränge, das ist die durch das zellige
Infiltrat ectatischen Lymphgefässe, vor, sondern dieselben sind
mehr weniger coUabirt, der zellige Inhalt spärlicher, das Lumen
an mehreren Stellen ganz frei. Es kann wohl keinem Zweifel
uDterliegen, dass das rasche Schwinden des zelligen Infiltrates
durch die directe Abfuhr mittelst des Lymphstromes bewerkstelligt
wird. Die'Möglichkeit der Involution durch regressive Metamorphose
des zelligen Inhaltes, wie dies andere Autoren beobachtet haben
wollten, ist wohl nicht zu bestreiten, konnte aber in meinen zahl-
reichen Präparaten von ihr keine Andeutung wahrnehmen.
Was den Befund der Erysipelcoccen im Gewebe anbelangt,
80 will ich gleich hervorheben, dass die Constatirung derselben
in den meisten Fällen schwer, in manchen mit Sicherheit kaum
möglich ist. Je frischer der Process in der befallenen Partie und
je intensiver derselbe an und für sich ist, umso grösser auch
die Chancen des Coccenbefundes.
Immer begegnet man den Coccen, die gewöhnlich in kürzeren
Ketten von 4 — 6 Gliedern anzutreffen sind, zwischen oder auf
(vielleicht in ?) den Lymphzellen liegend, zerstreut und in relativ
spärlicher Anzahl. Deshalb sind auch die Lymphgefässe der
Eauptsitz der Coccen, während dieselben in den Spalträumen
des Bindegewebes, welche von Vielen zwar auch als der Anfang der
Lymphgefässe aufgefasst werden, nur ausnahmsweise — auch nnr
(35)
362 Hajek.
dann — zn finden sind, wenn dortselbst ein erhebliches Zell-
infiltrat Yorliegt, das mit dem zelligen Inhalte eines Lymphge-
fässes in Verbindung steht.
In den circomscripten Zellanhäofungen der Cutis sah ich
im Kaninchenohr niemals C!occen, geschweige denn ohne jedwedes
Zellinfiltrat selbstständig im Gewebe auftreten.
Um die Erysipelcoccen im Gewebe sichtbar zu machen, ist
jedwede Färbung mit einer wässerigen Anilinfarbstoiflüsung gut,
am zweckmässigsten erscheint indess die Gramm'sche. Nur darf
man die Entfärbung nicht zu weit treiben, d. h. niemals so lange, bis
die Schnitte sehr blass oder gar farblos geworden sind, sonstigen-
falls wird man kaum je in die Lage kommen, auch nur einen
Erysipelcoccus mit Sicherheit im Gewebe zu constatiren.
An diesem Umstände scheiterten anfangs alle meine Ver-
suche, die Erysipelcoccen nachzuweisen. In den ersten fünf
Kaninchenohren mit experimentell erzeugtem Erysipel konnte ich
trotz des positiven Ergebnisses der von zwei Fällen vorgenonmienen
Abimpfung keine Coccen im Gewebe constatiren. Da aber das
Vorhandensein der Coccen durch das positive Ergebniss des
Cultivirens erwiesen wurde, musste die Methode der Färbung als
mangelhafte erkannt werden. Durch wiederholte Versuche zeigte
es sich dann, dass der Schnitt nicht ganz entfärbt werden darf,
es dtlrfen nicht auch die Zellkerne vollkommen entfärbt sein,
weil in diesem Stadium auch schon gewöhnlich den Mikrococcen
der Farbstoff entzogen ist.
Aus dem Umstände, dass bei einer Entfärbung von gewisser
Intensität auch die Coccen mitentfärbt werden, bei geringfügiger
Entfärbung dagegen die noch gefärbt gebliebenen Zellkerne die
Coccen verdecken, erhellt die Schwierigkeit, welche sich dem
Nachweise der Coccen entgegenstellt. Die geringe Entfärbung hat
überdies noch den Nachtheil, dass durch das Ueberbleiben von
kömigen Farbstoffiiiederschlägen eine Differentialdiagnose zwischen
diesen und den ohnehin nur spärlich vorkommenden Coccen
geradezu unmöglich wird. Man muss immer viele Schnitte mit
wechselnden Entfarbungsgraden untersuchen, bis man mit Sicherheit
die Anwesenheit von Coccen zu constatiren vermag.
(86)
üeber das fttiologisdie Verhältniss des Erysipels Enr PUegmone. 363
Aus dem geschilderten Verhalten des Erysipelcoccus erhellt
zumindest, dass das lebende Gewebe für den Eiysipelcoecus
keinen besonders günstigen Nährboden abgibt, indem er nur
relativ spärlich und beschränkt auf dem Erysipelwall zu finden
ist. Dass wir femer dem Erysipelcoccus nur in den Lymph-
gefässen oder höchstens noch in den Bindegewebsspalten immer
nur in Gegenwart von zelligem Infiltrate begegnen, zeigt auch
auf einen geringen Grad yon activer Energie; nie sieht man die
Erysipelcoccen das Gewebe direct durchbrechen, und wir müssen
uns daher yon der pathogenen Wirkung des Erysipelcoccus die
Vorstellung machen, dass derselbe nur dorthin gelangt, wo er
mittelst des Lymphstromes hingeschwemmt wird, wo er dann an
Ort und Stelle die Entzündung hervorruft.
Taf. U, bei lOOOfacher Vergrösserung gezeichnet, zeigt uns
aus einem mit intensiver Schwellung einhergehenden Erysipel die
Stelle, wo um ein arterielles G^fäss a mehrere Lymphgefässe b
gelagert sind. Das zellige Infiltrat ist hier so reichlich, dass die
Lymphgefässwandungen von demselben auf ziemlich weite Strecken
tiberschritten werden und auch die Adventitia der Arterie zellig
infiltrirt und stark aufgelockert ist c. Und trotz dieses intensiven
Entztindungsprocesses sehen wir nur in den Lymphgefässen zer-
streut liegende kurze Ketten von Erysipelcoccen auf (vielleicht
in?) und zwischen den Lymphzellen liegend.
Wesentlich anders gestaltet sich das Bild bei dem durch
den Streptococcus pyogenes hervorgerufenen Entzündungsprocess.
Auch hier sieht man häufig die Lymphgefasse als die primär
und am stärksten betheiligten Stätten des pathologischen Processes,
aber durchaus nicht immer. Sei dem übrigens, wie es woDe,
Thatsache ist, dass, während beim Erysipel das zellige Infiltrat
der dominirende Factor des Entztindungsprocesses ist, bei der
Streptococcus-Phlegmone die Coccen die Ftihrerrolle tibemehmen.
Während bei Erysipel das zellige Infiltrat über die Coccen bei-
weitem überwiegt, ist bei der Phlegmone gerade das G^gentheil
der Fall. Beim Erysipel finden wir die Lymphgefasse mit Exsudat-
Zellen vollgepfropft und nur hie und da auf und zwischen den
Zellen in relativ spärlicher Anzahl Coccen ; bei der Streptococcus-
Phlegmone sind die Lymphgeffüsse mit Coccenhaufen erftlllt, die
(87)
364 Hajok.
dortselbst wahre Colonien bilden, nebst ihnen aber gar kein oder
nar ein sehr spärliches Zellinfiltrat. Dasselbe ist mit den Gewebs-
interstitien der Fall, in denen wir beim Erysipel gewöhnlich
nur einem zelligen Infiltrate begegnet sind, während wir hier
dichtstehende Haufen von Coccen finden, die mitunter an ihrer
Peripherie gleichwie auf unseren kUnstlicben Nährböden schlingen-
und rankenförmige Hervorragungen zeigen. Die Coccen sind sehr
intensiv gefärbt und kann man das Präparat nach der Gramm-
sehen Methode vollständig farblos machen, ohne dass die Coccen
mitentfärbt werden. Der Streptococcus pyogenes beschränkt sich
weiterhin nicht nur auf die genannten Stellen. Das Wachthums-
vermögen der Colonien ist nach allen Richtungen hin ein solch'
unbeschränktes, dass die Coccen in Form von dichtgedrängten
Zügen, allerdings in erster Linie in der Richtung der G^webs-
spalten sich vordrängen, sodann aber auch ganz unbekümmert
um den Verlauf der Gtewebszüge, dieselbe nach allen Richtungen
hin durchbrechen. Nach und nach werden alle Partien der Cutis
von einem engen Netze dicht aneinander gruppirter Coccenzüge
durchwachsen. Auch isolirte rundliche und eckige Colonien sind
in der Cutis sichtbar, die wegen ihrer Grösse und intensiver
Färbung schon bei SOfacher Vergrösserung als compacte Flecken
zu sehen sind. Die in den Lymphgefässen wuchernden Colonien
durchbrechen häufig zu gleicher Zeit an mehreren Stellen die
Lymphgefässwandungen und schicken ihre Fortsätze radienförmig in
das umliegende Gewebe hinein. So entstehen unregelmässig stern-
förmige Züge von Coccen, die einerseits die Cutis in den ver-
schiedensten Richtungen durchwuchem, andererseits durch Aus-
läufer mit Coccencolonien in anderen Lymph- und Blutgefässen
im Zusamenhange stehen, und mehr weniger bei jeder einiger-
massen fortgeschrittener Phlegmone zu finden sind. Ja, es scheint
mitunter, dass in dem Gesichtsfelde des Mikroskopes mehr Coccen
colonien als noch restirende Gewebs- und Entzündungselemente vor-
handen sind. An gut entfärbten Schnitten sieht man bei solch*
intensiven Fällen schon mit unbewaffnetem Auge dunkle Flecken
mit hellen durchsichtigen Partien abwechseln. Die dunklen Flecke
sind nichts Anderes, als die im Gewebe mitunter zu Stecknadel-
kopfgrösse angewachsenen Colonien.
(38)
üeber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 365
Am bezeichnendsten ist indess die dem Streptococcus pyo-
genes innewohnende Eigenschaft des Vordringens bei Coccen-
hänfen, die um die Blutgefässe gelagert sind, ausgesprochen.
Wahrend beim Erysipel die Blutgefässwände von einer Coccen-
invasion ausnahmslos frei bleiben und ihre Affection höchstens
in einem dichten zelligen Infiltrate der Adventitia sich kund-
gibt, sehen wir bei der Streptococcus-Phlegmone häufig die
Gefasswand stellenweise von dichten Gruppen der Strepto-
coccen durchwuchert, die Gefasswand verfällt der Necrose und
die Coccen fdllen einen bedeutenden Theil des Gefässlumens
aus. Es werden Arterien von massig dicker Wandung durch-
wnchert, aber vorzugsweise sind die Venen wegen ihrer schwächeren
Wandung betroffen ; letztere sind mitunter in ihrer ganzen Peripherie
und Dicke in die Mikrococcenhaufen aufgegangen. Indess sieht
man die Blutgefässe häufig — wenn der Ausdruck erlaubt ist —
nur angenagt; der Durchbruch derselben ist eine Charakteristik
einer lang andauernden, intensiveren Phlegmone, und, da Kaninchen
in den meisten Fällen die Acme des Entzttndungsprocesses nicht
überleben, wird es uns nicht befremden, wenn wir dem Durcb-
brnche der Blutgefässe doch nur relativ selten begegnen. Es ist
femer zu bedenken, dass im Gewebe der Cutis die Gefässwände
die verhältnissmässig am meisten Widerstand . entgegensetzenden
Partien sind und dass in Folge dessen die Betheiligung der
übrigen Gewebstheile schon sehr weit gediehen sein kann, noch
ehe die ersteren in ihren äusseren Partien von den Colonien
geschädigt sind.
Die primäre Betheiligung der Lymphgefasse gilt auch nicht für
alle Fälle. Wenigstens sah ich des Oefteren , dass schon nach
4SstUndiger Dauer des Entzündungsprocesses die ganze Cutis
durchsetzt war von isolirt stehenden Colonien, während man
gerade in den Lymphgefässen die Coccencolonien vermisste. Auch
darf man sich nicht vorstellen, dass die früher erwähnte Aus-
füllung der Lymphgefässe durch Coccencolonien und der gänz-
liche Mangel von Exsudatzellen gleich im Beginne des Processes
statthat. Im Beginne sind die Colonien klein, Exsudatzellen können
vorhanden sein und nur nach und nach wird ihre Anzahl in dem
Hasse geringer, als die Coccencolonien grösser und reichlicher.
(39)
366 Hajek.
Charakteristisch ist flir die Streptococcus-Phlegmone die Art
des Wachsthnms ; das Auftreten von Colonien gleich im Beginne
des Processes und das Unabhängigwerden ihrer Ausbreitung^
Yon den Lymphgefässen und Bindegewebsspalten. Die inten-
siveren Fälle zeichnen sich yon den milderen Fällen lediglich
durch das reichere Vorkommen solcher Coccenhaufen und durch
die Bildung yon Fortsätzen aus. Der Unterschied ist somit nur
ein gradueDer. Das Princip des Wachsthums ist yon den leichtesten
Fällen der Phlegmone bis zu den schwersten ein und dasselbe.
Als ich im Beginne der histologischen Untersuchungen die
früher geschilderten Bilder des Erysipels mit den klinisch ähnlich
yerlaufenden Streptococcus-Phlegmonen yerglichen habe, dachte
ich mir, dass diese hervorstechende Differenz zwischen den beiden
nur auf Gradunterschiede zurttckzuftthren sei, dass man demnach
bei Erysipelen mit starkerSchwellungdie gleiche Anordnung
der Coccen, wie bei der Streptococcus-Phlegmone, finden werde.
Das ist aber durchaus nicht der Fall. Taf. n repräsentirt ein
Erysipel mit intensiver Schwellung. Taf. ni eine Streptococcus-
Phlegmone mit massiger Schwellung. Ein flüchtiger Blick genügt
schon, um den erwähnten Unterschied zu erkennen ; ich fand denn
auch diesen Unterschied bei allen meinen untersuchten Fällen
bestätigt.
Taf. m, Yergrösserung 800fach, zeigt das Bild der Strepto-
coccus-Plegmone bei massig intensivem Processe. Bei a ist ein
Lymphgeföss zum grössten Theile von Coccencolonien erfüllt, ohne
LymphzeUen. Bei b ist ein Lymphgef^s durch die Coccenvege-
tationen durchbrochen, letztere wuchern in das umgebende Oewebe
hinein. Bei c sind isolirt stehende Colonien ohne merkliche Ent-
zündung der Umgebung vorhanden. Bei d bilden dieselben läng-
liche, der Längsachse der Fibrillenbündel parallel verlaufende
dichte Züge.
Zu welchem Schlüsse berechtigt uns das geschilderte Ver-
halten der Erysipelcoccen und des Streptococcus pyogenes?
Meiner Ansicht nach zu dem Schlüsse, dass die beiden frag^
liehen Streptococcen im Thiergewebe ihrer verschiedenen Art ent-
sprechende, ganz specifische Eigenschaften darbieten, wie dies in
der relativ passiven Rolle des Erysipelcoccus gegenüber dem
(40)
üeber das ätiologische Verhältniss des Erysipels ztir Phlegmone. 3g 7
mächtig das Gewebe durchsetzenden und dortselbst ein üppiges
Wachsthum kundgebenden Streptococcus pyogenes gegeben ist.
Kurz, das Princip des Wachsthums der beiden
Goccenarten im lebenden Gewebe ist verschieden.
Und wenn wir das lebende Gewebe als einen Nährboden auf-
fassen, so müssen wir sagen, dass der Erysipelcoccus darin schlecht,
der Streptococcus pyogenes dagegen sehr gut gedeiht. Ich habe
schon früher erörtert, dass das scheinbar gleichförmige Wachsthum
auf unseren künstlichen Nährböden noch nichts gegen die diffe-
rente Art der beiden Streptococcen beweist; jetzt will ich noch
hinzufügen, dass es des Reagens eines lebenden Gewebes bedarf
um die differenten Lebenseigenschaften derselben zur Anschauung
zu bringen.
Nach den geschilderten Befunden des differenten Ver-
haltens des Erysipelcoccus gegenüber dem Streptococcus pyogenes
am Kaninchenohre war es zu erwarten, dass beim Menschen
ebenfalls dieselben principiellen Unterschiede — vielleicht nur
mit unwesentlichen Abweichungen — vorhanden seien.
Um aber einen solchen Beweis tadellos sicher zu führen,
ist es nothwendig, dass die am Menschen untersuchten Fälle von
Erysipel und Streptococcus-Phlegmone auch durch das Experiment
am Eaninchenohre geprüft werden; denn vorderhand haben wir
ja keine anderen sicheren Anhaltspunkte, um uns über die Art
der Streptococcen, die wir beim Menschen vorfinden, zu orientiren.
Es ist daher nothwendig, wenn man einen Fall von menschlichem
Erysipel oder einer Streptococcus-Phlegmone bezüglich der Bacterien-
vegetation in der Haut prüft, die das Erysipel, resp. die Phlegmone,
am Menschen bedingenden Streptococcen auf das Eaninchenohr zu
tiberimpfen. Erst durch eine Uebereinstimmung der am Menschen
und Kaninchenohre gewonnenen Befunde wird ein jedem Einwände
entrücktes Resultat erzielt werden können. Ich habe 6 Fälle von
menschlichem Erysipel untersucht; sie waren alle typische, in
Restitution übergehende, wenn auch in einem Fall der Tod in
Folge Complication mit einer Pneumonie erfolgte.
Es stimmt der histologische Befund sowie die Art der Coccen-
vegetation vollständig mit dem Befunde am Kaninchenohre überein.
In beiden Fällen ist das Beschränktsein des Processes auf die
(41)
368 Hajek.
Lymphgefasse und die Bindegewebsspalten , das stete Gebunden-
sein der relativ spärlich vorkommenden Erysipelcoccen an das
zeliige Infiltrat zu constatiren. Ein geringer Unterschied scheint
mir darin zu bestehen, dass beim Menschen vorzugsweise die
Lymphgefasse in der oberen Cutisschichte , weniger die in der
Tiefe betrolBFen werden ; auch ist der Papillarkörper beim Menschen
häufiger Sitz einer erheblicheren — jedoch stets auch nur cir-
cumscripten-zelligen Infiltration. Diese Differenzen sind jedoch
unwesentliche und sind zum guten Theile durch den etwas ab-
weichenden Bau der menschlichen Haut von der des Eaninchen-
ohres bedingt.
Leider war ich nur in einem Falle der untersuchten Ery-
sipele in der Lage (das betreffende Erysipel begann im Gresichte
und wanderte über den ganzen Stamm) durch Ueberimpfimg eines
Hautstückchens auf Agar-Agar eine Reincultur zu erhalten und
mit derselben an fünf Eaninchenohren ein Erysipel zu erzeugen,
dessen histologischer Beftmd mit dem der menschlichen Haut
vollständig übereinstimmte. Doch ist auch ein Fall von einem
gewissen Werthe, zumal ja die Uebereinstimmung keine zufallige
sein könnte, was schon das constante Ergebniss an mehreren
Eaninchenohren zur Genüge documentirte.
Für die histologische Untersuchung der Fälle von Strepto-
coccus-Phlegmone am Menschen war es aber unbedingt nothwendig,
das Resultat der histologischen Untersuchung durch Anlegung
einer Reincultur zu controUiren , nicht nur deshalb, um durch
die Verimpfnng der Cultur auf das Kaninchenohr die Ueberein-
stimmung der Coccenvegetationen zu constatiren, sondern um in
erster Linie zu zeigen, dass der betreffende Fall der Phlegmone
von dem Streptococcus allein herrührt. Denn ich brauche ja nicht
hervorzuheben, dass für unsere Frage der Differenz zwischen
Eiysipel und Phlegmone bezüglich letzterer nur der Streptococcus
pyogenes in Betracht kommt, da ja die übrigen Arten von
Phlegmone durch die bei ihnen vorhandenen, verschiedenen
Krankheitserreger hinlänglich charakterisirt und als verschieden-
artig vom Erysipel erwiesen sind.
Der erste Fall betrifft eine Streptocoocus-Phlegmone mit auffallend
erysipelähnlichem Charakter.
(42)
lieber das ftüologisclie VerbAltniss des Erysipels zur Phlegmone. 369
Nenhauser A., 71 Jahre alt, mittelgross, ziemlich kräftig gebaut,
giebt bei ihrer Anfiiahme in das Erankenhans an, dass sie seit acht
Tagen krank sei, fiebere nnd seit damals eine schmerzhafte Empfindimg
am linken üntersehenkel habe. Die Untersuchung ergiebt Röthung und
müssige Bchwellnng der unteren H&lfte des linken Unterschenkels, an
der inneren Seite oberhalb des Sprunggelenks eine mit Serum ge-
ftlllte Blase.
In der Umgebung keine Verletzung oder Geschwüre aufzufinden.
Temp. 40. Wftbrend der folgenden Tage wandert die Entzündung
hoher gegen das Kniegelenk hinauf. Das Fieber dauert an und die
Patientin stirbt unter CoUapserscheinungen.
Obwohl während des Lebens* nirgends eine circumscripte,
besondere Schwellung sichtbar und nirgends eine Flnctuation con-
statirbar war, zeigte sich bei der Section folgender Befund : Nebst einer
geringfügigen älteren Endocarditis der Mitral- nnd Aortenklappen
in den inneren Organen keine nennenswerthe Veränderung. Der
linke Unterschenkel und Fuss ist angeschwollen. Die Haut bläulich-
roth, die Epidermis am Unterschenkel theils in Form von schlaffen
Blasen abgehoben, theils fehlend; dort, wo die Cutis blossliegt,
ist sie stark geröthet, stellenweise zu einer graugelben weichen
Masse zerfallen. Das Unterhautzellgewebe des betreffenden Unter-
schenkels Yon eitrigem und fibrinösem Exsudate durchsetzt. Ein
Hautstückchen yon dem Rande der entzündeten Partie untersucht^
dort, wo noch keine eiterige Infiltration des subcutanen Binde-
gewebes, sondern nur seröse Durchfeuchtung vorhanden gewesen,
ergab nebst einer hochgradigen zelligen Infiltration des sub-
cutanen Gtewebes jene Form der Cocceninvasion, wie sie früher
als für den Streptococcus pyogenes beschrieben worden war,
während die eigentliche Cutis sich noch ziemlich frei zeigte.
Schnitte von der Stelle, wo schon in der Tiefe Eiter gewesen,
ergaben fibrinöse Exsudation in die eigentliche Cutis nnd zahl-
reiche Coccencolonien dortselbst.
Die Uebertragung des Eiters auf Agar-Agar und Gelatine
ergab eine Reincultur des Streptococcus, mit welchem an vier
geimpften Kaninchenohren, der für den Streptococcus pyogenes
charakteristische histologische Befund erwiesen werden konnte.
Der zweite Fall betraf ein mit chronischer Nephritis behaftetes,
höchst marantisches Individuum, das an mehreren Stellen seines
(43)
370 Hajek.
Körpers Decubitus hatte. Von dem Decubitus des linken Malleolas
internus ging eine mit massiger Schwellung verknüpfte entzünd-
liche Böthung aus. DieObduction ergab als anatomischen BeAmd
an der entzündeten Haut des lipl'.en Unterschenkels starkes Oedem
des Unterhautzellgewebes, Schwellung der Haut, aber nirgends
Eiterung. Hier konnte man selbst nach dem anatomischen Befunde
noch im Zweifel darüber sein, ob man es mit Erysipel oder
Phlegmone zu thun habe. Die noch bei Lebzeiten des Patienten
vorgenommene Abimpfung durch ein excidirtes Hantstückchen
ergab eine R. C. von einem Streptococcus, der sich durch Ver-
impfung auf diei S^ninchenohren und den hierbei gewonnenen
histologischen Beftmd als der Streptococcus pyogenes erwies. Dem-
entsprechend ergab auch die histologische Untersuchung eines
Hautstückchens am Unterschenkel die charakteristische Ein-
lagerung des Streptococcus pyogenes.
Wollte man all' das, was bisher über die Erysipelhistologie
publicirt wurde, anfuhren, so hiesse dies eine grosse Arbeit ohne
entsprechenden Vortheil stiften. Es liegt jedoch in der Literatur
über die Histologie des Erysipels so viel Belehrendes, dass ich
nicht umhin kann, die wichtigsten Momente derselben anzuführen,
zumal durch meine Resultate ein Fingerzeig geliefert wird, wie
es kam, dass die verschiedenen Autoren so vielfach widersprechende
Resultate zu Tage förderten.
Ein Hauptcharakterzug, der mehr weniger alle histologischen
Arbeiten über Erysipel durchzieht, ist, dass in ihnen sowohl das
von mir geschilderte Bild des Erysipelas als der Streptococcus-
Phlegmone erschöpft ist.
Billroth ^), einer der Ersten, die das Erysipel auf Mikro-
organismen untersuchten und nach ihm Ehrlich^), Lukomsky'},
M. Wolff*), Tillmanns*) erwähnen, dass es ihnen nicht bei
^)IJnter8ac]iiuigen üb. dieVegetationaformenvonCoccobacteriaseptica. 1874.
*) Billroth und Ehrlich, XJnteraachungen über Coccobacteria septica.
Arch. fftr klin. Chirurgie. Bd. 20, pag. 403.
') W. Lukomsky, Unterenchimgen über Erysipel. Virchow*s Archiv.
1874. LX.
*)M. Wulff.
') T i 1 1 m a n n 8 , Deutsche Chirurgie. 1880, Lief. 5.
(44)
üeber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 371
allen Fällen von Erysipel gelangen sei, Coccen aufzufinden. In
gewissen Fällen gelang es jedoch einigen der Autoren, nicht nur
in den Lymphgefassen und Spalträumen des Bindegewebes,
sondern auch in den Blutgefässen Coccen in grosser Menge zu
constatiren. Billroth folgerte aus diesem Umstände, dass es
offenbar Erysipele auch ohne Gegenwart von Coccen gebe. Ins-
besondere Tillmanns') kommt es merkwürdig vor, dass er auch
in vom Erysipelwall des lebenden Menschen ausgeschnittenen
Hautstückchen keine Coccen finden konnte; er glaubt, es seien
auch ursprünglich keine Coccen vorhanden gewesen, denn in seiner
Färbungstechnik könne der negative Befund unmöglich liegen,
wenn er auch sehr richtig vermuthet, dass eine geringe Anzahl
von Coccen sehr leicht übersehen werden dürften. Ich für meinen
Theil möchte aber doch glauben, dass entweder der letzterwähnte
Punkt oder die mangelhafte Technik daran Schuld getragen. Als
triftigsten Beweis kann ich folgenden Erysipelfall vom Menschen
anführen : Als ich meine zweite Erysipelcultur anlegte, schnitt ich
ein Stückchen vom Erysipelrande am Vorderarme heraus, selbst-
verständlich unter Beobachtung aller erforderlichen Cautelen und
theilte es in zwei Stücke; die eine Hälfte wurde in Agar-Agar
geworfen, die andere behufs histologischer Untersuchung zurück-
behalten. Aus dem ersten Stückchen keimten bei Bruttemperatur
nach 48 Stunden grauweisse Colonien hervor (Colonien des Strept.
erysipel.). Die andere grössere Hälfte des excidirten Hautstückes
wollte aber Anfangs nach keinerlei Farbungsmethode in Schnitten
Coccen erkennen lassen. Erst nach Untersuchung sehr zahlreicher
Schnitte gelang es mir, bei einem gewissen Entf&rbungsgrade
zwischen den dicht aneinander liegenden Zöllen innerhalb eines
Lymphgefässes einzelne Diplococcen und kurze Ketten zu finden.
Nichts wäre nun leichter möglich gewesen, als diese wenigen Coccen
zu übersehen und nur das positive Resultat der Cultivirung auf
Agar-Agar liess mich nicht davon abstehen, nach vielen vergeb-
lichen Mühen noch weiter nach Coccen zu fahnden. Ich habe ja
schon früher hervorgehoben, dass der Erysipelcoccus im Gewebe
den Entfärbungsmitteln nur wenig Widerstand entgegenzusetzen
0 1 c. pag 111.
(46)
372 Hajek.
vermag, und dass es nnr gat Glück ist, wenn man schon bei
dem ersten Versuche den richtigen Entfarbnngsgrad getroffen hat.
Wenn aber Billroth and Ehrlich in ihren späteren
Untersuchungen, bei den sogenannten phlegmonösen Erysipelen, auch
in den Blutgefässen Coccen constatiren konnten, so vermuthe ich^
dass sie keine Erysipele, sondern höchstwahrscheinlich durch den
Streptococcus pyogenes bedingte erysipelähnliche Phlegmonen
vor sich gehabt haben. Dass die klinischen Symptome sehr häufig
einander bei beiden gleich sind, habe ich ja zur Genüge hervor-
gehoben und eine mögliche Verwechslung durch die citirten Fälle
Bosenbach's und die meinigen illustrirt. Wenn überdies von
den erwähnten Autoren hinzugefügt wird, dass es die sogenannten
schweren, phlegmonösen Erysipele gewesen, bei welchen der
von ihnen constatirte Coccenbefund vorkommt, so wird meine Ver-
muthung umsomehr der Sicherheit entgegengeftihrt.
Zu damaliger Zeit, als die Mehrzahl der erwähnten Autoren
ihre histologischen Untersuchungen veröffentlicht haben, war man
noch sowohl über die Aetiologie des legitimen Erysipels, als über
die der eiterigen Entzündungsprocesse im Unklaren. Heute, wo
wir über den mycotischen Ursprung dieser Frocesse nicht den
geringsten Zweifel mehr hegen, müssen wir, wenn uns in der
histologischen Untersuchung anatomisch gleichartiger Frocesse
solch' differente Coccenbefimde vor's Auge treten, vermuthen, dass
wir es hier mit verschiedenen Frocessen zu thun haben;
denn es ist mit einer logischen Denkungsweise nicht gut in Ein-
klang zu bringen, wie von Fall zu Fall, bei anscheinend gleicher
anatomischer Beschaffenheit, die die Ursache des Erankheits-
processes tragenden Coccen solch' wesentlich verschiedene Rollen
übernehmen sollen; diese ist eben nur dadurch erklärlich, dass
die beiden Streptococcen verschiedener Art sind.
Gleichartige Frocesse können eben durch verschiedene Ur-
sachen bedingt sein, wie schon seit lange her bekannt ist.
Der Hinweis auf den pyämischen Charakter der untersuchten
Erysipelfalle ist fUr die Beurtheilung des damaligen Standpunktes
um so entscheidender, als nach dem geschilderten Verhalten des
Erysipelcoccus im lebenden Gewebe es mindestens sehr zweifelhaft
ist, ob das Erysipel überhaupt je eine Fyäraie hervorrufen könne.
(46)
üeber das ätiologische Verhältniss des Erysipels zxir Phlegmone. 373
Die positiven Ergebnisse von Tillmanns^) stimmen in
jedweder Beziehung mit meinen Erfahrungen über den Strepto-
coccus pyogenes überein, weshalb ich sie mit dem Wortlaute des
Autors anführen will.
„Zuweilen, und zwar besonders, wie mir scheint, bei mit
Pyämie complicirten Erysipelen findet man an den Randstellen
des Erysipelherdes, entsprechend auf der Acme der Entzündung,
die Bindegewebsspalten, die Lymph- und die kleinen Blutgefässe
mit Coccenvegetationen erfüllt. Die mit Mikroorganismen erfüllten
Lymphgefässe bilden oft zackige Contouren dar, deren Zacken,
wie auch Lukomsky sah, sich mit sternförmigen Mikrococcen-
anhäufungen im Gewebe verbinden. Letztere bedecken auch die
Fibrillenbündel, dringen reihenweise zwischen die letzteren, theilen
sich eventuell als feines Netzwerk, z. B. zwischen die einzelnen
Fettzellen u. s. w., an anderen Stellen liegen grössere Coccen-
anhäufungen mitten im Bindegewebe. Die Coccen sind gewöhn-
lich nicht sichtbar an jenen Stellen, wo der erysipelatöse Process
in der Abnahme begriffen oder bereits abgelaufen ist. Die Menge
der vorhandenen Bacterien ist zuweilen sehr bedeutend. Das Ver-
halten der ansehnlicheren Coccenanhäuflingen in den Gelassen
und im Gewebe zu der nächsten Umgebung ist verschieden, ent-
weder sie sind, wie ich beschrieben habe, von einer mehr oder
weniger dichten zelligen Infiltration umgeben, oder aber letztere
fehlt vollständig, scheinen keinerlei nachweisbaren Veränderungen
hervorgerufen zu haben. In einer dritten Kategorie von Bildern
sind die Bacterien von einem kernlosen necrobiotischen Herde
umgeben und erst auf diesen folgt eine zellige' Infiltration als
demarkirende Entzündung oder Eiterung etc."
Auch die histologischen Veränderuogen, welche Tillmanns
in den citirten Zeilen darstellt, stimmen vollständig mit denjenigen,
welche ich bei dem Streptococcus pyogenes vorgefunden habe.
Sie sind in der That wechselnd und von Fall zu Fall verschieden.
Hinzufügen möchte ich nur, dass die fibrinöse Exsudation in aus-
gedehnten Partien des Gewebes, der Haut sowohl, als des sub-
cutanen Gewebes, ein häufiges Vorkommniss ist.
») 1. c. pag. 110.
Med. Jahrbücher. 1887, ^q (47;
374 Hajek.
An einer anderen Stelle hebt derselbe Autor hervor: „Es
will mir aber scheinen, dass es vorzugsweise mit Pyämie com-
plicirte Fälle sind, wo die Mikrococcen gefunden werden. Lu-
komsky^ dem wir wohl die ersten ausführlichen Angaben über
das Vorkommen der Mikrococcen bei Erysipel verdanken, scheint
auch vorzugsweise pyämische Fälle untersucht zu haben/
Klarer kann wohl die Provenienz der von den genannten
Autoren histologisch untersuchten Erysipele kaum angegeben werden.
Diese Bildergleichen auf ein Haar meinen mikroskopischen Bildern
der Streptococcus-Phlegmone. Der Hinweis auf den phlegmonösen
Charakter bei dem positiven Ergebnisse der Untersuchung auf
Bacterien, dagegen auf die leichteren Formen bei dem negativen
Befunde ist eine werthvoUe Bestätigung dessen, was ich früher
über die verschiedenen Eigenschaften der beiden Streptococcen
auseinandergesetzt habe.
Ich glaube daher, dass die negativen Coccenbefunde von
Billroth, Ehrlich, Tillmanns und M. Wolff von Eiysi-
pelen, die positiven dagegen von Streptococcus-Phlegmone her-
rühren, insbesondere diejenigen Lukomsky's, der lauter letal (!)
endigende Erysipele untersuchte.
Von den neueren Untersuchungen über die Histologie des
Erysipels sind insbesonders die Befunde Koch's^) von Wichtig-
keit. Unter den 7 Erysipelfällen , die der erwähnte Autor histo-
logisch untersuchte, ist einer, dessen Krankengeschichte er genau
mittheilt und dessen typischer klinischer Verlauf einigermassen den
legitimen Erysipelcharakter des betreflFenden Falles verbürgt. —
Die in diesem Falle an verschiedenen Partien der Haut vorge-
nommene histologische Untersuchung ergab die gleichen Verhält-
nisse des Coccenbefundes , wie ich sie von meinen Fällen ge-
schildert habe.
Doch hat auch Koch in zweien der tödtlich verlaufenden
Fälle die Mikrococcen in den Lymphgefässen auch in grosser
Menge vorgefunden, aliein diese Bilder, von welchen er selbst
zugibt, dass sie einigermassen denen von Lukomsky, welcher
nur tödtliche Fälle untersuchte, gliechen, möchte ich nicht mehr
') Koch, Mittbeilungeii aus dem kaiserl. Geäundheitsamte. I. Bd.,
Berlin 1884.
(48)
üeber das ätiologische Verbältniss des Erysipels zur Phlegmone. 375
als dem Erysipel angehörig betrachten. Da aber die Kranken-
geschichten der betreffenden Fälle nicht mitgetheilt sind, so fehlt
uns jeder weitere Anhaltspunkt zur Entscheidung der Frage, ob
dieselben klinisch einem legitimen Erysipele oder einer Strepto-
coccus-Phlegmone entsprachen. Ist es aber nicht auffallend, dass
es auch hier nur die tödtlichen Fälle gewesen, wo die Coccen
in Form von Haufen vorkamen?
Wenn ich demnach auch zugeben muss, dass die histo-
logischen Befunde, wie ich sie zuvor geschildert, in ihren Einzel-
heiten schon von früheren Autoren gesehen worden sind, so ist
doch die Erkenntniss, dass dieses verschiedenartige Verhalten im
lebenden Gewebe als constanter Ausdruck verschiedener
Lebenseigenschaften des Streptococcus erysipelatis und des Strepto-
coccus pyogenes aufzufassen sei, durch meine systematischen
Untersuchungen herbeigeführt worden.
Nachdem nun die differente Art der beiden Streptococcen
auf Grund der geschilderten vitalen Eigenschaften im Gewebe
nachgewiesen war, fragte es sich, ob dieses Princip der Unter-
suchung nicht auch für das Studium anderer Mikroorganismen
geeignet sei. Ich habe auch dasselbe bei dem Studium von zwei
anderen Mikroorganismen , nämlich dem Diplococcus pneumoniae
und dem Staphylococcus pyogenes aureus befolgt, und zwar des-
halb, weil es bei unserer Frage interessant war, zu erfahren, wie
die übrigen Entzündungserreger sich in dieser Beziehung ver-
halten.
Ich habe schon bei den Thierexperimenten angeführt, dass
der Diplococcus pneumoniae am Kaninchenohre eine mit inten-
siver Schwellung einhergehende, wandernde Entzündung erzeugen
kann. Wie verhält sich nun hierbei der Diplococcus pneumoniae
im Gewebe? Ganz so, wie der Streptococcus pyogenes. Er tritt
ebenfalls in Colonien auf, bildet dichtgedrängte Züge, durch-
wuchert das ganze Gewebe, bricht in seltenen Fällen auch in
die Blutgefässe durch und erzeugt dann eine AUgemeininfection.
Etwas anders ist es mit dem Staphylococcus aureus. Ich
möchte hier nur einige Bemerkungen über seine specifisch patho-
gene Wirkung einflechten. Der Staphylococcus aureus erzeugt
häufig bekanntlich entweder selbstständig oder in Vergesellschaftung
30* <*»>
376 Hajek.
mit dem Staphylococcns albns oder auch mit dem Streptococcus
pyogenes Entzündung und Eiterung. Die durch ihn allein her-
vorgerufenen Entzündungen zeichnen sich nach übereinstinmienden
Aussagen der meisten Autoren durch die Neigung, circumscript
zu bleiben, aus.
Ich habe nun mit einem Staphylococcns aureus, gezüchtet
aus einer Endocarditis ulcerosa, und mit einer anderen, aus einer
frischen Variolapustel gewonnenen *), je drei Kaninchenohren mit
4 — 10 Theilstrichen einer Pravaz'schen Spritze subcutan inficirt
und in fünf Fällen eine auf die Injectionsstelle und dessen un-
mittelbare Umgebung beschränkte Rüthung, mit massig inten-
siver Schwellung hervorgerufen. Es entstand, wenn ich den Ver-
gleich brauchen soll, nahezu eine fumnkelähnliche Geschwulst,
deren Kuppe sich am dritten Tage wcisslich verfärbte, platzte,
und eine geringe Menge dicklichen Eiters entleerte. Der Eiter
enthielt in reichlicher Menge den Staphylococcns aureus. — Bei
Dreien mit 10 Theilstrichen der Cultur aus der Variolapustel
geimpften Kaninchenohren entstand aber eine fast das ganze Ohr
einnehmende Röthung und Schwellung; in den mittleren Partien
war die Schwellung am stärksten, auch trat hier weissliche Ver-
färbung und Durchbruch des Eiters auf. Die Kaninchen ge-
nasen alle.
Die an zwei amputirten Kaninchenohren vorgenommene histo-
logische Untersuchung ergab die Beschränkung der Coccen auf
die Stelle der Abscedirung, zumindest auf die der dichtesten
Zelleninfiltration. Der Staphylococcns aureus tritt im Gewebe in
^) Guttmann (Tagebl. der Berliner Naturforscherversammlung. 1886,
pag. 144) hat ebenfalls ans einer Variolapustel den Staphylococcns pyogenes
anrens gezüchtet nnd hält denselben als eine die eigentliche Variola secundär
complicirendes Agens, welches überall dort auftritt, wo Eiterung ist. Diese An-
sicht findet auch in neueren Erfahrungen Weichselbaum's eine Stütze, der
in zwei Fällen von hämorrhagischer Variola, sowohl von den Hämorrhagien,
resp. Papeln der Haut, als auch aus dem Herzblut e, der Milz und der Leber den
Streptococcus pyogenes in Reincultur gewann; auch in drei weiteren Fällen
von Variola confluens, von denen zwei mit lobulärer Pneumonie complicirt waren,
hat der letzterwähnte Autor aus dem Blute den Streptococcus pyogenes gezüchtet.
Die Verschiedenheit der bei der Variola gefundenen Coccenarten weist noch mehr
darauf hin, dass dieselben nur eine secundäre Rolle übernehmen.
(50)
üeber das ätiologisclie Verhältniss des Erysipels zur Phle^one. 377
Fonn von kleinen Häufchen, ähnlich den anf unseren künstlichen
Nährsubstanzen sich entwickelnden Colonien, auf.
Er unterscheidet sich aber von dem Streptococcus pyogenes
dadurch, dass er keine in's Gewebe ausstrahlenden Züge bildet, er
besitzt nicht die rücksichtslose Invasionsfähigkeit des Streptococcus
pyogenes.
Zum Schlüsse wollen wir noch einige Fragen prüfen, die
schon von jeher den Streitapfel in der Lehre vom Erysipel
und der Phlegmone a])gaben. Wenn ich auch bisher keine ge-
nügende Gelegenheit gehabt habe, alle diese Fragen an der Hand
klinischer Fälle zu einem bestimmten Abschlüsse zu bringen, so
will ich doch wenigstens durch einige Andeutungen die Richtung
kennzeichnen, in welcher man fortfahren soll, um durch die er-
wiesene DiiSerenz zwischen den beiden Streptococcen über die
Natur wichtiger Krankheitsformen Aufschluss zu erlangen.
1. Abscessbildung. Dass die localen klinischen Symptome
bei dem Erysipel und der Streptococcus-Phlegmone häufig sich
decken, habe ich schon früher hervorgehoben, und es fragt sich
nur, ob es nicht doch zuweilen ein locales Symptom giebt, das
mit Bestimmtheit den einen Process ausschliesst , respective dem
anderen allein zukommt. Ein solches Symptom wurde seit Fehl-
eisen in dem Auftreten einer Abscedirung gesehen, welche er
für alle Fälle von Erysipel leugnete; doch mit Unrecht. — Wir
können nach den Resultaten unserer Thierexperimente mit Be-
stimmtheit sagen, dass Abscessbildung, wenn auch selten, doch
auftreten kann. Nur ist die Art des Auftretens gewissermassen
charakteristisch für das Erysipel. Wir sahen an den Kaninchen-
obren immer erst nach Abklingen der örtlichen Entzündungs-
erscheinungen die circumscripten, vereiternden Knoten sich bilden.
Auch bleibt beim legitimen Erysipel die Eiterung stets circum-
script, während sie bei der Strcptococcusphlegmone mehr diflFus
und häufig gleichzeitig an mehreren Stellen [auftritt. Ich bin nun
selbst der Ansicht, dass einzelne am Kaninchenohre beobachtete
Erscheinungsformen sich nicht ohne weiters auf den Menschen
übertragen lassen; auch habe ich die ei-wähnte circumscripte Ab-
scessbildung bei Ery8i{)el nur nach subcutaner Injection gefunden,
welcher Modus der Infection beim Menschen doch nur ausnahms-
(51)
378 Hajek.
weise Yorkommen dürfte. Ob beim menBchlichen Erysipel unter
gewissen Verhältnissen Abscessbildong entstehen könne, liesse sieb
einfach dnrch die Züchtung des Erysipelcoccos ans einem solchen
Abscesse erweisen. Einen solchen Fall hatte ich bisher nicht zn
beobachten Gelegenheit.
Wenn man die histologischen Yerändernngen beim Erysipel
zum Ausgangspunkte einer Betrachtung wählt, so lässt sich
nicht leugnen , dass bei intensiven Fällen von Erysipel
häufig eine dichtzellige Infiltration in der Snbcutis stattfinden
kann.
In der Cutis selbst sind jedoch stets nur circumscripte Zellen-
infiltrate zu constatiren, so dass, wenn auch eine Eiterung der
Snbcutis nicht von vorneherein in dem Bereiche der Unmöglich-
keiten liegt, man eine gleichzeitige Vereiterung der Cutis, wodurch
der eventuelle Durchbruch des in der Tiefe lagernden Abscesses
erst erfolgen könnte, nicht annehmen kann. Ich muss gestehen,
dass durch die klinische Beobachtung einige Anhaltspunkte hierfür
geboten werden, indem wir an Stellen des Körpers, wo die Snb-
cutis locker ist, gewöhnlich intensive Schwellung und nicht selten
in der Tiefe Fluctuation constatiren können. Dies ist besonders
an den Augenlidern der Fall. Wenn mir auch ein Durchbruch
des Abscesses in Folge der mangelnden Vereiterung der Cutis
selbst nicht wahrscheinlich ist, so lässt sich doch auch erklären,
warum mitunter dennoch ein Durchbruch erfolgen könnte. Es ist
bekannt, dass beim Erysipel mit der Propagation der Entzündung
die Restitution der Anfangs befallenen Partien Hand in Hand
geht. Wenn nun einmal — ich möchte abermals auf die Schwellung
der Augenlider hinweisen — bei besonderer Acuität des Processes
die Schwellung eine bedeutendere ist, so, dass die Haut unter
der Spannung in ihrer Ernährung leidet und dazu auch der
erysipelatöse Process langsam fortwandert, was eine längere Dauer
der Spannung bedingt, dann entsteht in Folge der langandauemden
Circulationsstörung eine Necrose der Haut und es kann der in
der Tiefe befindliche Eiter durchbrechen. Durch Zuthun eines
derartigen mechanischen Momentes könnte somit ein Abscess zum
Durchbruche gelangen. Indess will ich meiner gegebenen Erörterung
nur den Werth einer rein theoretischen Deduction beimessen.
(52)
Ueber das ätiologische Yerhältniss des Erysipels zur Phlegmone. 379
Eine andere Frage von grossem Interesse wäre, zu erfahren,
ob durch den Erysipelcoccus allein, ohne Mitwirkung eines anderen
Krankheitsagens , der Tod erfolgen könne , und wenn ja, welche
Momente hierbei massgebend seien. Man kann sich die Beein-
flussuDg des Gesammtorganismus durch die Erysipelinfection in
dreifacher Weise denken.
1. Durch Intoxication seitens eines vom Erysipelcoccus aus-
geschiedenen giftigen Productes. Wenn es uns auch zur Zeit
noch nicht möglich ist, den ausgeschiedenen Körper näher zu
kennzeichnen, so werden wir doch durch die Betrachtung des
Krankheitsverlaufes zur Annahme eines solchen gedrängt. Schon
der am Beginne zumeist auftretende Schiittelfrost, ferner das
hohe Fieber während des ganzen Verlaufes lassen keine
andere Annahme — indem die Coccen selbst im Blute vermisst
werden — übrig. Todesfälle von wandernden Erysipelen mit
lang andauerndem Fieber, ohne dass man im Blute Coccen findet
und ohne irgend eine besondere Organveränderung, als trübe
Schwellung der parenchymatösen Organe, dürften in diese Kategorie
des Erysipeltodes zu rechnen sein.
2. Durch allgemeine Infection, d. i. Hineingelangen des
Erysipelcoccus in das Blut, was indess von vorneherein unwahr-
scheinlich ist, da es überhaupt nicht ereichtlich ist, wie die Ery-
sipelcoccen in die Blutbahn gelangen sollten. Die Erysipelcoccen
überschreiten nämlich niemals das Gebiet der Lymphgefässe und
Bindegewebsspalten ; von einem Durchbrnch der Blutgefässwandung
kann daher niemals die Rede sein. Und indem eine directe Com-
municatiou der Lymphgefässe mit den Blutcapillaren noch durchaus
nicht als erwiesen gelten kann, müsste man bei dem Erysipel-
coccus erst das Passiren der grösseren Lymphgefässe, und erst
vermittelst dieser die Aufnahme in das Blut annehmen. Jetzt,
nachdem die difierente Art der beiden Streptococcen durch be-
stimmte Merkmale erwiesen wurde, wird auch die definitive Ent-
scheidung dieser Frage durch die bacteriologische Ausnützung
geeigneter klinischer Fälle erfolgen können. Für alle Fälle aber
wird man sich nicht mit dem Nachweise eines Streptococcus im
Blute begnügen dürfen, weil ja von dem Streptococcus pyogenes
380 Hajek.
bekannt ist, dass er häufig Krankheitsprocesse secnndär complicirt
und leicht in das Blut aufgenommen werden kann. Ein hierher-
gehöriger Fall ist von v. Norden») beobachtet worden, der bei
einem Erysipelaskranken Streptococcen aus dem Blute gezüchtet
hat. Die Resultate der mit diesem Streptococcus vorgenommenen
Thierexperimente — der histologische Befund ist nicht genügend
ausführlich — lassen mich den Streptococcus pyogenes ver-
mnthen.
3. Durch Coirrplicationen in inneren Organen, bedingt durch
den Erysipelcoccus. Wenn auch heutzutage von mehreren Klinikern
der Lehre einer crysipelatösen Meningitis, Pleuritis, Pneumonie,
Endocarditis etc. noch gehuldigt wird, so wird die Statthaftigkeit
der ätiologischen Zusammengehörigkeit alF dieser Krankheiten
mit dem Erysipel doch erst in Zukunft auf Grundlage der an-
gegebenen Differenzen zwischen den beiden Streptococcen ent-
schieden werden können. Man wird in all' diesen Fällen in ähn-
licher Weise vorgehen müssen, wie ich dies in einem Falle von
ein Gesichtserysipel complicirender Pleuritis sero-fibrinosa gethan
habe, wo ich die ätiologische Zusammengehörigkeit beider er-
wiesen zu haben glaube. Der Fall folgt:
Maczek M., 42 Jahre alt, Kutscher, dem Trünke ergeben, von
kräftigem Körperbau, kam mit Gesichtseryäipel in's Spital; die Rose
wandert vom Gesiebte rasch auf dou Nacken. Am 10. Tage der
Krankheit das Erysipel am unteren Rande des Thorax; stets hohes
Fieber, Morgens 38*5 — 39*0, Abends 400—410, Delirium. Am
10. Tage an der rechten Thoraxseite Dämpfung und geschwächtes
Athmen. Am 12. Tage auch linkerseits Dämpfung. Patient etwas
ieterisch, beschleunigtes, oberflächliches Athmen, Puls klein, Collaps,
Tod. Die Obduction ergiebt: In der linken Pleurahöhle beiläufig ein
Liter einer trüben , stark ieterisch gefärbten Flüssigkeit. Die Pleura
der linken Lunge fibrös verdickt, mit spärlichen Fibringerinnungen
bedeckt; die linke Lunge comprimirt, in derselben theiis lufthaltige,
theils luftleere Partien. In der rechten Pleurahöhle eine geringe
Menge einer ieterisch gefärbten Plttssigkeit, die rechte Lunge allent-
halben lufthaltig.
Drei Stunden nach dem Tode wurde von der linken Pleura-
höhle bei Beobachtung der gewöhnlichen Cautelen auf Agar
*) V. Norden, Mtinchener med. Wochenschrift. 1887, Nr. 2.
(Ö4)
üeber das fttiologisclie Yerb<niss des Erysipels siir Phlec^one. 3gl
überimpft und auf Platten ausgegossen, es keimten nur Coloniea
von dem Streptococcus auf, mit welchem von der 5. Generatiou
an auf 5 Eaninchenohren Impfungen vorgenommen wurden. Es
entstand jedesmal eine wandernde Entzündung ohne erheb-
liche Schwellung. Die histologische Untersuchung erwie»
in allen Fällen Übereinstimmend jenes Verhalten der Coccen, wie-
ich es beim Erysipel geschildert habe.
Dagegen hatten wir eine, das Gesichtserysipel complicirende,.
tödtlich endende Pneumonie zu untersuchen Gelegenheit gehabt^
wo man, nach dem klinischen Verlaufe zu urtheilen, keinea
Anstand genommen hätte, die Pneumonie als eine vom Ery-
sipel abhängige aufzufassen. Wir wurden indess eines Anderen
belehrt.
Dierscher A., 26 Jahre alt, wird mit G^ichtsrose, 40'70 Körper»
temperatur aufgenommen. Die localen Symptome sehr intensiv^
Augenlider stark Odematös. Das Erysipel wandert über den Nacken
und Stamm auf die Extremitäten. Am 7. Tage der Krankheit fällt
die Abendtemperatur auf 37*6; am nftehsten, d. i. am Tage als da»
Erysipel gerade im üebergange von dem Thorax auf das Abdomen be-
griffen war, leichtes FrostgefOhl und abermaliges Ansteigen der Tem-
peratur auf 38*9 , gleichzeitig Stechen auf der rechten Thoraxseit»
and Hasten. Die physikalische Untersuchung ergiebt dortselbst etwa»
tympanitisohen Schall and ELnisterrasseln. Patientin wird binftilig^
Pals kaum ftihlbar. Am 14. Tage der Krankheit bei fortdauerndem
hoben Fieber zwischen 39 und 40'ö, als das Erysipel an den oberen
nnd unteren Extremitäten angelangt, erfolgte der Tod. Obductions*
befand: Croupöse Pneumonie des rechten Oberlappens, acuter Milz-
tamor und trflbe Schwellung der Leber und der Niere.
Die histologische Untersuchung eines vom Rücken aus-
geschnittenen Hautstttckchens ergab das tjrpische Bild des Ery-
sipels; dasselbe war der Fall mit einem Hautstttckchen am
Vorderarme.
Die croupöse Pneumonie war indess durch den Diplococcu»
pneumoniae bedingt worden. Die von der Lunge vorgenommene
Abimpfung ergab nämlich eine R. C. der Diplococcus pneumoniae^
mit welchen 3 Kaninchenohren, subcutan geimpft, mit intensiver
Schwellung reagirten. Die histologische Untersuchung ergab die
Anordnung der Coccen in Colonien und dichtgedrängten Zügen^
wie beim Streptococcus pyogenes.
Med. Jahrbücher. 1887. 3]^ (55)
382 H a j e k. üeber das ütiolof^ische Yerhältniaa des Erysipels sar PUegmona.
Die Pneumonie war demnach in diesem Falle eine Com-
plication und nicht vom Eiysipelcoccns abhängig, trotzdem durch
den klinischen Verlauf dies einigermassen wahrscheinlich war.
Auch bei den übrigen Complicationen wird man in dieser
Art den Beweis der ätiologischen Beziehung derselben zum Eiy-
49ipel fuhren müssen, und es werden diese Untersuchungen gleich*
zeitig die Controle für die Gonstanz der von mir angegebenen
Differemsen zwischen den beiden Streptococcen abgeben.
-Höh-
Druck Ton Ootüiab Qittel * Comp, im Wien.
<56)
lfi«iwrmriliiuL<lalirbiühcr.Jahr^sii{ 1881.
Verlag toi AlFrel Holder k.kHoh Uflnersilala-lludiliardlerinWii
Ifincr mediiDL JalirUulur, Jtlirfan {
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XV.
Zur Frage der Znckerbildung in der Leber.
Von
Dr. M. Abeles.
(Aus dem Laboratorium des Herrn Prof. E. Lydwi( in Wien.)
(Am 10. Hai 1887 von der Bedaction ttbemommen.)
Im Verlaufe der letzten 10 Jahre hat Seegen die Ergeb-
nisse seiner neueren zahlreichen Experimentalstudien über das
Vorkommen und die Bedeutung des Zuckers im normalen thierischen
Organismus in einer Reihe yon Abhandlungen niedergelegt, die unter-
einander sachlich zusammenhängen und deren Gesammtergebniss
im Wesentlichen in der tlehabilitirung der alten Claude
B e r n a r d'schen Lehre besteht, vermöge welcher es eine normale
und wesentliche Function der Leber ist, Zucker zu erzeugen und
dem übrigen Organismus zuzufahren.
Die wichtige Frage über die Quellen und das Schicksal
des Zuckers im physiologischen und pathologischen Zustande des
thierischen Organismus beschäftigt seit langer Zeit eine unge-
wöhnlich grosse Anzahl von Forschem, und es würde hier zu
weit fuhren, die Geschichte derselben in allen Einzelheiten und
mit Nennung aller Autoren durchzugehen. Wenn wir von der alten
Zeit absehen, wo man vom Vorkommen des Zuckers im physio-
logischen Organismus nichtB wusste, sondern sich blos mit dem
Diabetes als Krankheit beschäftigte, so können wir im Allge-
meinen drei Stadien der Frage unterscheiden.
Med. Jahrbücher. 1887. 32 (1)
384 Abeles.
Das erste Stadium ist das der erwähnten Lehre yon
Claude Bernard ^): Die Leber erzeugt stetig Zucker, gibt ihn
durch die Lebervenen an's Blut ab; ein Theil desselben wird
schon in der Lunge, der Rest im übrigen Organismus zerstört,
beziehungsweise verbraucht. C. Bernard fand nämlich nicht nur
in der Leber, sondern auch im Blute der V. cava nach Aufnahme
der Lebervenen jederzeit Zucker, und dieser Zucker nahm im
^yeiteren Laufe der Blutbahn stetig ab, so dass sich in der Ca-
rotis schon weniger, im Pfortaderblut aber nur noch Spuren oder
nichts davon nachweisen liess. In späterer Zeit fand allerdings
C. Bernard 2) selbst im Pfortaderblut beträchtliche Mengen
Zucker, aber immer weniger als in den Arterien und noch be-
deutend weniger als in der V. cav. asc. im Brustraume, und er
hielt seine früheren Schlüsse aufrecht.
Diese Lehre war bekanntlich lange die herrschende. Gestützt
wurde sie noch durch die gleichzeitige Entdeckung des Leber-
glycogens durch Bernard und Hensen, denn damit war auch
das Material gefunden, aus welchem die Leber ihren Zucker bereitet.
Das zweite Stadium wurde durch Pavy^) eingeleitet.
Dieser bestritt zwar nicht die von C. Bernard angegebenen
Thatsachen, erklärt sie aber fUr postmortale Erscheinungen, da
Bernard seine Untersuchungen an getödteten Thieren angestellt
hatte. Wenn Pavy an lebenden Thieren operirte, so fand er
sowohl im Blute der V. cava nach Aufnahme der Lebervenen,
als auch in den Arterien nur eine Spur Zucker und selbst diese
Spur schien ihm von dem Widerstände herzurühren, den das Thier
der Operation entgegensetzte. Auch in der Leber selbst fand er
nur Spuren von Zucker, wenn er sie in einem Zustande unter-
suchte, der dem Leben möglichst nahe stand. Später haben Bock
undHofmann*), ich*), Bleile«) undPavy') selbst an lebenden
*) Le^ns de Physiolog. 1855.
*) Diabet., deutsch von Posner. Berlin 1878.
3) On Diabetes. London 1862.
*) Experimentalstndien über Diabetes. Berlin 1874.
^) Der physiolog. Znckergehalt des Blntes. Medicinische Jahrbücher der
k. k. Gesellsch. d. Aerzte. 1874.
6) Dn Bois' Arohiv. 1874.
') Coronian lectnres on certain points connected with Diabetes. London 1878.
(2)
Zur Frage der Znckerbildung in der Leber. 385
Thieren experimentirt, den Zuckergehalt des Blates der verschie-
denen Gefässgebiete bestunmt, und übereinstimmend gefandeu,
dass der Zucker ein normaler, von der Nahrung unabhängiger
Bestandtheil des Gesammtblutes sei, und dass das der Leber ent-
strömende Blut sich nicht anders verhalte, als das in einem anderen
Theile des Organismus, in Arterien und Venen mit InbegriflF der
Pfoiiader. Man fand allenthalben 0-05 — 0*1 Proc. v. Mering^),
der bei seinen Untersuchungen nicht das Gesammtblut, sondern
nur das Blutserum analysirte, fand gleichfalls bei hungernden
Thieren keinen Unterschied im Zuckergehalte der verschiedenen
Blutproben. Mochte man nun, trotzdem sich das Blut aus den
Lebervenen nicht anders verhielt als z. B. das aus den Extremi-
täten, doch geneigt sein, die Quelle des Zuckers in der Leber zu
suchen, wie P a v y gethan, oder mochte man annehmen, dass der
Zucker aus dem Gesammtorganismus stamme, wie ich es gethan,
der Beweis dafür, dass das eine oder das andere der Fall ist,
war nicht erbracht.
Das dritte Stadium ist das der Rückkehr zur Bernard-
sehen Lehre durch Seegen. Indessen ist diese Rückkehr nicht
wörtlich zu nehmen, denn Seegen hat die Lehre erweitert und
auch modificirt. G. Bernard nahm an, dass der Blutzucker im
Leben oder Tode aus dem Glycogen der Leber stamme. S e e g e n
aber hat in einer gemeinsam mit Eratschmer^) ausgeführten
Arbeit gefunden, dass die Leber (entgegen der Angabe Pavy's
und seiner Nachfolger) schon im Leben eine beträchtliche Menge
Zucker enthält (ungefähr 0*5 Procent), und dass dieser Leberzucker
sofort nach dem Tode bedeutend zunehme, ohne dass dabei das
Glycogen sich vermindere. Bei einem mit Brod gefütterten Hunde
ergab sich 48 Stunden nach dem Tode ein Zuckergehalt von
3*2 gegen 0*4 Procent in der frischen Leber. Die beiden Autoren
gelangten damit zu dem Schlüsse, dass der Leberzucker wenigstens
zum Theile aus einem anderen Material stammen müsse, als aus
Glycogen oder einem anderen Kohlehydrat.
^) Ueber die Abzngswege des Zuckers ans der Darmhöhle. Du Bois'
Archiv. 1878.
') üeber Zuckerbildung in der Leber. Pflüger's Archiv, XXU, abgedrückt
in Seegen Studien über Stoffwechsel. Berlin 1887.
32 * (3)
386 Abeles.
Die Vermuthung, dass das Bildangsmaterial des Zackers ein
stickstoffhaltiger Körper sein könne, lag aus verschiedenen Gründen
nahe. Die bekannte Thatsache, dass Diabetiker der schweren
Form auch bei absoluter Fleischnahmng stetig grosse Quantitäten
Zucker ausscheiden, musste schon lange zum Schlüsse fahren, dass
dies auf Kosten der Eiweisskörper geschehe. Vor Entdeckung des
Glycogens glaubte ja auch C. Bernard, dass die Leber den
Zucker aus Eiweisskörpern bereite. Seegen hielt es aus ver-
schiedenen Gründen für möglich, dass die gesuchte stickstoffhaltige
Substanz, aus welcher der Zucker abgespalten werden könne, das
Pepton sei, und er fand bei einer weiteren Untersuchung ^) in der
That, „dass die Leber im Stande ist, aus Pepton Zucker und
Kohlehydrate, welche in Zucker umwandelbar sind, zu bilden/^
Er verglich den Zuckergehalt von Leberstücken, die eine ge-
messene Zeit in einer Peptonlösung lagen, mit Controlestücken,
die unter übrigens gleichen Bedingungen mit destillirtem Wasser
behandelt waren, er brachte femer fastenden Thieren Pepton
per OS bei, er injicirte Peptonlösung in die V. port. und er be-
handelte Leberstticke mit arteriell erhaltenem Blute und Pepton,
und alle diese Versuche ergaben Zuckerbildung unter Einfluss
des Peptons. Bei Fütterung und Injection in die Pfortader fand
er Mengen, die das von ihm angegebene Normale von ungefähr
0*5 Procent um das Zwei- bis Dreifache tibertrafen.
Auf Grundlage der Ergebnisse der aufgezählten Versuche,
von denen ich nur die wesentlichsten Punkte hervorgehoben, die
aber noch manche interessante Einzelheiten enthalten, nimmt
See gen als „unzweifelhaft" an, „dass die Zuckerbildung in der
Leber eine physiologische Function sei".
In einer weiteren Arbeit 2) beschäftigte sich Seegen damit,
den Zuckergehalt des Blutes der Pfortader und Arterien einerseits,
und den der Lebervenen andererseits zu vergleichen, um so über
den Umfang der zuckerbildenden Thätigkeit der Leber ein Bild
zu gewinnen. Nachdem er zuerst den Zuckergehalt in Arterien
^) Pflüger's Archiv, XXY, abgedruckt in S e e g e n , Stadien über Stoff-
wechsel. 1887.
') Zaoker im Blute, seine Quelle und seine Bedeutung. Pflüger's Archiv,
XX.Xiy ; abgedruckt in S e e g e n , Studien u. Stoffwechsel.
(4)
Zur Frage der Znckerbildnng in der Leber. 387
und Venen im Allgemeinen mit 0' 1—0*15 Procent bestimmt hatte,
ging er an seine eigentliche Aufgabe. Er experimentirte nur an
hungernden oder mit Fleisch genährten Hunden und entzog ihnen
nach einer von v. Mering angegebenen und von v. Basch
moditicirten Methode sowohl Pfortader- als reines Lebervenen-
blut. Es wurde ein Schnitt in der Linea alba gemacht, die Milz
hervorgezogen und von einer Milzvene ans eine mit einem Stab mon-
tirte Canüle zur Porta vorgeschoben. Dann wurde die V. cav. asc.
im Bauchraume oberhalb der Nierenvene unterbunden, der Brust-
raum rechts so weit geöffnet, um eine Ligatur um die Cava ober-
halb der Lebervenen anlegen zu können. Sodann wurde vom
Bauchraume aus eine lange, mit Stab versehene Canüle so weit
in die Cava vorgeschoben, bis die Spitze im Brustraume oberhalb
des Zwerchfells und unterhalb der Ligatur gefühlt werden konnte.
Dann wurden die Stäbe aus den Canülen entfernt und das Blut
in Massgefässen* aufgefangen, und zwar zuerst aus der kleinen
an der Porta und dann aus der in der Cava steckenden Canüle.
Da die Cava oberhalb und unterhalb der Leber unterbunden war,
so konnte aus der langen Canüle nur Lebervenenblut abfliessen.
Aus vergleichenden Analysen stellte es sich heraus, dass
das Pfortaderblut im Mittel 0"119 Procent, das Lebervenenblut
O230 Procent Zucker enthalte. Seegen bestimmte auch das
Blutquantum, das in der Zeiteinheit aus der V. port. ausströmt,
und berechnete daraus, wie viel Zucker in 24 Stunden von der
Leber dem Organismus zugeführt werde. Bei drei Thieren von 7,
10 und 41 Kilo betrugen diese Mengen 179, 233—433 Gramm.
Die Zuckerbildung ist nach Seegen demnach eine
der wichtigsten Functionen des Stoffwechsels.
In weiteren Experimentalstudien ') über das Verhalten des
Zuckers unter dem Einflüsse verschiedenartiger Ernährung hat
Seegen gefunden, dass ausser Eiweisskörpern auch
Fett Bildungsmaterial für den Leber-, also auch den Blutzucker
abgebe. Er hat Leberstticke in ähnlicher Weise, wie er es mit
Pepton gethan, mit Fett behandelt und hat ebenso Fütterungs-
1) Ueb. Zucker im Blute mit Bücksicht auf Emährang. üeber die Fähigkeit
der Leber, Zacker aus Fett zu bilden. Pfiüger's Arch. XXXIX; abgedruckt in
S e e g e n , Stadien über Stoffw.
(5)
388 Abele3.
versuche angestellt und in beiden Fällen eine bedeutende Zunahme
des Leberzuckers constatiren können.
In meiner oben citirten, im Jahre 1874 erschienenen Arbeit i)
über den physiologischen Zuckergehalt des Blutes habe ich an-
gegeben, dass der Zucker ein normaler Bestandtheil des Blutes
sei, dass er sich in allen Gefässgebieten in ungefähr gleicher
Menge vorfinde, und dass das Blut des rechten Herzens oder der
V. cav. nach Aufnahme des Lebervenenblutes sich in dieser Be-
ziehung nicht unterscheide. Die absoluten Zahlen, die ich ge-
funden, waren etwas kleiner, als die der anderen Autoren, und
der Vorwurf, den Seegen gegen mich erhebt, dass ich mich
einer zu complicirten Methode bedient habe, mag berechtigt sein.
Wir besassen damals noch nicht die ausgezeichneten Enteiweissuugs-
methoden von heute, wie z. B. die von Schmidt-Mülheim,
allein, da ich eine beträchtliche Reihe vergleichender Analysen
ausgeführt hatte, so stand immerhin zu erwarten, dass, falls das
Blut thatsächlich aus der Leber Zucker aufnimmt, sich in den
gefundenen Mittelzahlen ein Unterschied zwischen Blut dies- und
jenseits der Leber ergeben werde, was aber nicht der Fall war.
Allerdings hatte ich auch nie reines Lebervenenblut, sondern nur
Herz- oder Cavablut untersucht, und dieser Umstand, zusammen-
genommen mit der UnvoUkommenheit der chemischen Methode,
mochten ein irriges Resultat herbeigeführt haben, und ich nahm
deshalb die Versuche wieder auf. Ihre Anzahl ist vergleichsweise
zu denen Seegen's eine kleine, überdies beschränken sie sich
lediglich auf Blutanalysen, allein die Ergebnisse sind solche, dass
ich glaube, mit der Veröffentlichung derselben hervortreten zu sollen. ^)
^) Medic. Jahrb. d. k. k. Gesellsch. d. Aerxte. 1874.
*) Ich habe eigentlich den ersten einschlägigen Versuch (mit Kr. I be-
zeichnet) schon vor längerer Zeit, zunächst zu meiner eigenen Belehrung an-
gestellt. Da ich Zahlen fand, die mit den S e e g e n'schen ganz übereinstimmten,
30 hielt ich meine alten Resultate für falsch und ich nahm die zuckerbildende
Function der Leber als erwiesen an. Herr Prof. S e e g e n , der von dem Ver-
suche Eenntniss hatte, meinte jedoch, es sei im Interesse dieser wichtigen phy-
siologischen Frage erwünscht, dass die Thatsachen auch von anderer Seite be-
stätigt werden, und so nahm ich in diesem Jahre die Arbeit wieder auf. Ich
gelangte dabei zu abweichenden Schlüssen.
(6)
Zur Frage der Zuckerbildimg in der Leber. 389
Ich habe ausschliesslich an mittelgrossen und grossen Hunden
experimentirt , die ]ö— 18 Stunden keine Nahrung eingenommen
hatten, mit Ausnahme eines Thieres (Nr. II), das drei Stunden
vor dem Versuche mit Fleisch gefüttert worden war. In Bezug
auf den vivisectorischen Theil der Arbeit bin ich im Anfange so
vorgegangen wie Seegen. Die ersten zwei Operationen führte
Herr Prof v. Basch, die folgenden Herr Doc. Dr. Gärtner
nach V. Basch's Methode aus. Im weiteren Verlaufe der Arbeit
verliess ich aus Gründen, die sich bald ergeben werden, diese
Methode und trachtete nun nach einem von Prof. Stricker
geübten Vorgange, auf den ich später zurückkommen werde, reines
Lebervenenblut zu gewinnen. Herr Prof Stricker war so freund-
lich, die Operationen auszuführen. Den genannten Herren sage
ich hiermit meinen Dank.
Im chemischen Theile der Arbeit ging ich, abgesehen von
kleinen Modificationen, so vor wie See gen (Enteiweissung nach
Schmidt-Mülheim). Das aus den Gef ässen ausströmende Blut
{20 — 50 Ccm.) wurde im Messcylinder aufgefangen und sofort in
eine grosse Pörzellanschale, die mit einer verdünnten Lösung von
essigsaurem Natron gefüllt war, gegossen. Die Lösung enthielt
15 Gramm essigsaures Natron. Für die erwähnten Blutmengen
ist es nicht nöthig mehr zu nehmen, und man kann dann zum
Schluss die Flüssigkeit auf ein kleines Volum eindampfen, ohne
dass das Salz auskrystallisirt. Zu diesem in der verdünnten Salz-
lösung vertheilten Blut setzte ich in der Kälte eine kleine Menge
Eisenchloridlösung, so viel, dass die Flüssigkeit schwach sauer
reagirte. Ich habe dann nicht weiter neutralisirt, sondern einfach
zum Sieden erhitzt. Dabei scheidet sich alles Eiweiss sehr schön
ab, die Lösung geht klar und oft wasserhell durch das Filter
und gibt meist mit Essigsäure und gelbem Blutlaugensalz keine
Trübung mehr. Das auf dem Filter befindliche Goagulum wurde
dann, nachdem es schon gut gewaschen war, mit dem Filter in
einer Presse scharf ausgepresst. Die aus der Presse ausfliessende,
meist trübe Flüssigkeit wurde mit dem Filtrat, das früher auf
ein kleineres Volum eingedampft wurde, vereinigt, demselben
nochmals drei Tropfen Eisenchloridlösung zugesetzt, aufgekocht,
filtrirt und dann auf ein kleines Volum eingedampft, sodann ge-
(7) .
390
A b e 1 6 8.
messen und durch ein nicht angefeuchtetes Filter filtrirt und der
Zucker mittelst Titrirnng bestimmt.
Da ich bei den ersten Versuchen die Beobachtung machte,
dass beim Zufliessen der aus dem Blute dargestellten zuckerhal-
tigen Flüssigkeit in die alkalische Fehling'sche Lösung sich
ein flockiger Niederschlag ausscheidet, der das Titriren etwas
stört, so setzte ich bei allen folgenden Versuchen der gemessenen,
noch nicht filtrirten Flüssigkeit eine kleine Menge einer Lösung
Yon kohlensaurem Natron (l — 2 Gem.) zu. Es fällt dann ein weisser,
flockiger Niederschlag heraus, der wahrscheinlich zum grossen
Tbeile aus Phosphaten besteht. Das auf die angegebene Weise
gewonnene Filtrat ist gewöhnlich schwachgelb gefärbt und eignet
sich sehr gut zum Titriren. Die Fehling'sche Lösung, deren
ich mich bediente, war mit einer Olprocentigen Zuckerlösung
genau gestellt worden. 2 Gem. Eupferlösung entsprachen
0010 Zucker. Gewöhnlich wurden für jede Bestimmung drei
Titrationen vorgenommen.
Ich lasse nun die einzelnen Versuche folgen.
Versuch L
Einem grossen Hunde werden ohne Narcose zuerst aus der
Carotis, dann aus der V. port. und aus den Lebervenen nach
der beschriebenen Methode Blutproben genommen und untersucht.
Gefissgebiet
Carotis . .
V. port. .
V. hepat. .
Menge des
Blutes
in Cc.
47
42-5
48-5
Menge der
dAraus darge-
stellten Zacker-
lÖBung in Cc.
Absolnte
Menge des
gefandenen
Zuckers
Zucker in
100 Tbeilen
Blat
Anmerkung
68
63
65
0056
0043
0-097
0120
0-102
0-200
Versuch II.
Grosser Hund, wie früher behandelt.
GefäsBgebiet
Menge des
Blutes
in Cc
Menge der
daraus dai*ge-
stellten Zucker-
lösuDg in Cc.
Absolute
Menge des
gefandenen
Zuckers
Zucker-
gebalt in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
Carotis . .
V. port. .
V. bepat. .
(6)
40
45
45
65
61
0-043
0095
0-095
0-210
venmglfickt
Zur Frage der Zuckerbildnng in der Leber.
391
Diese beiden Versuche stimmeD ganz mit den Angaben
Seegen's überein. Das Lebervenenblnt enthält angefähr noch
einmal so viel Zacker als das Portablut. In beiden Fällen war
znerst das Blut aus der Arterie und der Pfortader und dann erst
das der Lebervenen entnommen. Im folgenden Fall war die zeit-
liche Anordnung eine andere, es wurde das Blut zuerst aus
der Porta, dann aus den Lebervenen und zuletzt aus der Carotis
genommen.
Versuch in.
Mittlerer Hund, mit Morphin, das in die V. jugul. injicirt
wurde, narcotisirt. Es wird Blut zuerst aus der Pfortader, dann
aus den Lebervenen und zuletzt aus der Carotis genommen. Aus
der Letzteren floss es langsam, das Thier begann zu agonisiren.
GefäcBgebiet
Menge des
Blates
in Cc.
Menge der
daraus darge-
stellten Zncker-
lösung in Co.
Absolute
Menge des
gefondenen
Zuckers
Zucker in
100 Tbeilen
Blut
Anmerkung
V. port.
V. hepat.
Carotis .
49
39
14.5
49
50
29-5
0-061
0-135
0-029
0-124
0-345
0-200
Das Resultat dieses Versuches ist bemerkenswerth durch
den grossen Zuckergehalt überhaupt und besonders durch den des
Carotisblutes. Es war auch daran zu denken, ob nicht das Morphin
dabei von Einfluss war. Da aber vom Arterienblut vor der
Injection keine Probe genommen worden war, so liess sich dies
vorläufig nicht entscheiden und blieb einem späteren Versuch
vorbehalten. Der nächste Versuch wurde jedenfalls ohne Narcose
vorgenommen und hatte den Zweck zu erfahren, ob der schwere
Eingriff, der zur Gewinnung des Lebervenen blutes nöthig ist,
nicht schon an und fiir sich eine Steigerung des Zuckergehaltes
im Blute im Allgemeinen und speciell selbst in der V. port. zur
Folge habe. Es sollte deshalb zuerst aus der V. jugularis, dann
aus den Lebervenen, dann neuerdings aus den V. jugul. und
schliesslich aus der V. port. Blut entnommen werden. Dies gelang
aber nur theilweise, da gegen Ende der Operation das Herz nur
noch schwach arbeitete, so dass es eben nur noch möglich war,
aus der V. jugul. und lienalis zusammen 30 Cc. Blut zu erhalten,
(9)
392
Abeles.
wovon ungefähr die Hälfte auf jede der beiden Venen kommt.
Dieses Blut gerann sehr schnell, konnte aber doch gut verarbeitet
werden.
Venmoli IV.
Grosser Hund, nicht narcotisirt.
Gefttaagebiet
Menge des
Blates
in Co.
V. jug. . . .
V. hepat. . .
V. jug. n.
lienal. . . .
40-5
400
30
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösimg in Co.
Absolute
Menge des
geftmdenen
Zuckers
Zucker-
gehalt in
100 Tbeilen
Blut
Anmerkung
99
68
67
0-063
0090
0062
0-155
0-226
0-207
(tropft lang-
sam, gerinnt
sehr bald
Das Resultat dieses Versuches ist sehr auffallend. Das
Lebervenenblut ist wieder reicher an Zucker als dasjenige,
welches vor demEingriffe aus derV. jugul. erhalten wurde,
allein nach demselben finden wir in der Mischung aus V. jug.
und V. lienal. beinahe so viel als in den Lebervenen.
Es ist hier der Platz, hervorzuheben, dass auch See gen
sich die Frage vorlegte, ob das Plus an Zucker in den Leber-
venen nicht die Wirkung des schweren Eingriffs sei. Dieser Ge-
danke drängte sich ihm auf, als er einmal zufällig vergessen
hatte, wie gewöhnlich noch vor Eröffnung des Bauchraumes
Carotisblut zu nehmen und dies erst zum Schlüsse des ganzen
Versuches that. Dieses Blut enthielt noch mehr Zucker als selbst
die Lebervenen. Seegen wollte erfahren, welcher der einzelnen
Acte des Versuches einem solchen Einfluss haben könnte, und
er fand bei Controlversuchen, dass der rechtsseitige Pneumothorax,
der gemacht werden muss, um zur V. cav. im Brustraume zu
gelangen, ftir den Blutzucker irrelevant sei, dass aber die Unter-
bindung der V. cav. im Bauchraume den Zuckergehalt in der
Carotis steigere. Für diese merkwürdige Erscheinung gibt See gen
keine genügende Erklärung, sondern er erwartet von weiteren
Untersuchungen Aufschlüsse darüber. Vermuthungsweise spricht
er aus, dass der von der Leber in normaler Weise erzeugte
(10)
Zur Frage der Zackerbildung in der Leber. 393
Zucker unter dem Einflüsse des Eingriffes nicht in demselben
Masse im Organismus verbraucht wurde, wie sonst. Indessen
trachtete er doch sich auf einem andern als dem bisherigen Wege
reines Lebervenenblut zu verschaffen, indem er nämlich den
Bauchraum eröffnete, die Leber tief herabzog und dann mit einer
Stichcanüle eine Lebervene anstach. In drei gelungenen derartigen
Versuchen fand er abermals ungefähr die doppelte Zuckermenge
als in der Pfortader. Er hält also daran fest, dass die Leber die
physiologische Function habe, Zucker zu erzeugen, und zwar in
dem von ihm gefundenen Ausmasse.
Bei einer späteren Gelegenheit, und zwar bei den oben
erwähnten Fütterungsversuchen mit Fett, führte Seegen noch
eine weitere Reihe vergleichender Blutanalysen aus, wobei er
das Blut aus einer Lebervene mittelst directen Einstichs „bei
abgeklemmter V. cav."* entnahm. Die Resultate stimmten mit den
früheren.
Nach dem Resultate des letzten Versuches und nach genauer
Erwägung der Seegen'schen Thatsachen konnte ich vorläufig
seine Schlüsse nicht annehmen, sondern hielt es für nothwendig
die Versuche fortzusetzen. Bevor ich aber weiter ging, wollte
ich sehen, inwiefern die Morphinnarcose oder der Pneumothorax
den Blutzucker beeinflussen.
Versuoli V,
Einem grossen Hunde wird zuerst aus der V. crur. Blut
genommen, dann in dieselbe Morphin in für die Narcose
genügender Menge injicirt. Nach 20 Minuten wurde aus der
V. crur. der anderen Extremität Blut genommen. Sodann wird
rechtsseitiger Pneumothorax gemacht und durch einige Zeit nicht
künstlich respirirt, so dass starke Dyspnoe eintritt. Während
derselben wird aus der V. jug. eine Blutprobe genommen, dann
wird die Lunge kräftig ventilirt (das Thier war natürlich
trachäotomirt) und darauf neuerdings aus der V. jug. Blut ge-
nommen.
(U)
394
Abele».
GefftcBgebiet
Menge des
Blutes
in Cc.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
Idsuog in Cc.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker-
gehalt in
100 Theilen
Blut
^9
Anmerkung
V. crur. dext.
V. crur. sin.
V. jng. a) .
V. jug. h) .
37
36-5
30-5
36
68
63
66
65
0041
0055
0054
0065
0110
0150
0-177
0180
<
vor NarcoM
20 Hinuten
nach Beginn
der Naroose
Dyspnoe
Lunge ventilirt
Es ergibt sich aus diesem Versuche, dass die Dyspnoe keine
auffallende Wirkung ausübt, dass sich aber Morphin als Narcoti-
cum nicht verwenden Hess. Nach 20 Minuten langer Dauer der
Narcose steigt der Blutzucker um mehr als 30 Procent und im
weiteren Verlaufe sogar über 60 Procent. Es war also nöthig,
nochmals am nicht narcotisirten Thier das Verhältniss des Zucker-
gehaltes in Carotis und Porta vor und nach Entnahme des Leber-
venenblutes zu vergleichen.
Versuch VI.
Grosser, nicht narcotisirter Hund. Die Reihenfolge der Blut-
entnahme war Carotis a, Porta a, Lebervene, Carotis b, Porta b.
Qefässgebiet
Menge des
Blutes
in Cc.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösung in Cc.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker-
gehalt in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
Carotis a) .
V. port. a)
V. hepat. .
Carotis h)
V. port. 6>
47
44-5
48
38-5
36
73
67
73
68
62
0067
0-142
0-062
0139
0180
0-375
0096
0-250
0-060
0-166
Es zeigt sich, dass von Anfang an der Zuckergehalt in der
Carotis und der V. port. beinahe gleich ist, dass in beiden der-
selbe während der Dauer des Versuches zunimmt, und zwar
besonders stark in der Arterie. Das Lebervenenblut ist wieder
sehr reich an Zucker.
Alle bisher angeführten eigenen Versuche stehen mit den
von Seegen angegebenen Thatsachen nirgends in Widerspruch.
(12)
Zur Frage der Zackerbildang in der Leber. 395
leb habe mich der yon ihm benutzten Methode bedient und auch
ungefähr dieselben Zahlen gefunden wie er. Neu habe ich nur
hinzugefügt, dass bei Unterbindung der V. cay. im Bauchraume
der Zucker nicht nur in den Arterien, sondern auch in der Pfort-
ader bedeutend anwächst. Allein ich kann die Lehre, dass die
Leber im physiologischen Zustande stetig Zucker erzeuge und
Yollends, dass sie es in dem Ausmasse thue, wie Seegen angibt,
nicht als erwiesen betrachten. Es ist ja möglich, dass der Blut-
zucker ganz oder zum grossen Theile aus der Leber stammt, und
es gibt einige Gründe, die dafür sprechen, dass dem so sei, allein
einen zwingenden Beweis können wir meines Erachtens aus allen
bisher sichergestellten Thatsachen nicht ableiten. Seegen nimmt
die zuckerbildende physiologische Function der Leber als feststehend
an und betrachtet die Zunahme des Blutzuckers in der Carotis
nach Unterbindung der V. cav. als einen nebensächlichen unauf-
geklärten Punkt. Ich denke aber, so lange dies nicht klargelegt
ist, hat die Annahme, dass das Plus an Zucker im Lebervenen-
blute ein Product des Insultes des Organes sei, zum mindesten
ebensoviel Berechtigung, wie die Vermuthung Seegen's, dass
bei Unterbindung der Cava der in normaler Weise erzeugte Zucker
nicht verbraucht werde. Warum sollte gerade nur der Verbrauch
alterirt werden und nicht auch die Erzeugung ? Pavy und seine
Anhänger nahmen an, dass die Leber während des Lebens so
gut wie keinen Zucker enthalte; Seegen und Kratschmer^)
fanden zwar in der Leber, die möglichst schnell nach dem Tode
desThieres untersucht ward, ungefähr 0*5 Procent Zucker; aber
es unterliegt keinem Zweifel, dass sofort nach dem Tode eine
rapide Zuckerentwickkng beginnt. Die Leber, die ein so reges
Leben zu führen hat, ist auch in ihrem Stoffwechsel empfindlich,
und es ist in hohem Grade möglich, dass die Zuckerbildung,
die von Pavy eine postmortale genannt wurde, schon intra
mortem beginnt oder selbst auf traumatische oder toxische
Schädlichkeiten von geringer Intensität eintritt.
Der directe Beweis, dass der Blutzucker aus der Leber
stamme, ist ohne vergleichende Blutanalysen nicht möglich, und
0 1. c.
(!3)
396 AbeleB.
damit diese unanfechtbar seien, ist es nothwendig, dass man sich
Lebervenenblat verschaffe, ohne das Organ za sehr zu beleidigen.
Ich habe dies durch directes Katheterisiren der Lebervenen bewerk-
stelligt. Die Methode von der V. jug. aus in's rechte Herz oder
in die Nähe der Einmündung der Lebervenen zu gelangen, ist
bekanntlich alt (Magendie, C. Bernard), aber man kam
immer nur in die Nähe der Lebervenen, niemals in eine
solche hinein. Seit einiger Zeit jedoch wird von den Herren
Ikalowicz und PaP) im Stricker^schen Laboratorium
behufs gewisser Studien die directe Sondirung der Lebervenen
geübt, und Herr Prof. Stricker war so freundlich, diesen Theil
des Versuches jedesmal für mich auszuführen. Es wurden dazu wieder
mittlere und grosse hungernde Hunde genommen, die mit Chloro-
form narcotisirt waren. Es wurde mit einer eigens dazu gefertigten
Canüle die am Ende eine kleine Krümmung hatte, von der rechten
y. jug. aus eingegangen. Man traf zuweilen in's rechte Herz, in
welchem Falle die Canüle wieder etwas zurückgezogen und unter
Vermeidung des Herzens bis an's Zwerchfell und in eine
Lebervene eingeführt wurde. Wenn das Thier so gelagert war,
dass das Herz etwas nach links sank, so drang das Instrument
gewöhnlich direct an's Ziel. Es kam auch vor, dass man an den
Lebervenen vorbei tiefer in die Cava gelangte, dann wurde ein
wenig zurückgezogen und eine Lebervene aufgesucht. Man merkt
an dem Umstände, dass die Sonde mit In- und Exspiration
sich rhythmisch bewegt, dass sie in einer Lebervene steckt, es
fliesst auch dann das Blut nicht nur um Vieles schwächer, als
wenn man sich in der Cava befindet, sondern der Strom sinkt
und steigt entsprechend den Respirationsphasen , aber die voll-
ständige Gewissheit, dass man wirklich in der Lebervene war,
verschafft man sich erst durch die Palpation. Es wird, nachdem
die ersten Blutproben genommen waren, ein kurzer Einschnitt in
die Linea alba gemacht und mit zwei Fingern in den Bauchraum
eingedrungen. Fühlte man die Sonde nicht in der Leber, so muss
sie besser eingeführt und anderes Blut genommen werden. Nach
^) S. Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien, Sitzung von
13. Mai 1887.
(14)
Zur Frage der Zuckerbildung in der Leber.
397
Vollendung des Yersnehs wurde die Sonde in der Richtang in der
sie stak, durch die Leber durchgestossen, und bei der Secticm konnte
man sich überzeugen, dass man sich in der Lebervene befand
und die V. cav. ganz unverletzt war. Es wurden selbstverständlich
nur jene Versuche verwerthet, bei denen man in unzweifelhafter
Weise sehen konnte, dass man mit der Sonde wirklich in der
Lebervene war. Bei dieser Methode wird nicht das Blut der
Pfortader, sondern das aus Venen oder Arterien mit dem Leber-
venenblut verglichen.
Ich tiberzeugte mich zuerst durch einen Vorversuch, dass
die Chloroformnarcose den Blutzucker nicht beeinfiusst.
Versuch VII.
Einem kleinen Hunde wird Blut aus der Carotis genommen.
Darauf wird das Thier chloroformirt, 20 Minuten in der Narcose
belassen und wieder Blut genommen.
Ctofäeegebiet
Menge des
Blutes
in Cc.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
15sung in Cc
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
Carotis a) .
Carotis bj .
38
35
50
50
0050
0-046
0131
0131
{
vor Chloro-
form
l'nach Chloro-
form
\
Der Blutzucker wird demnach durch Chloroform nicht ver-
mehrt. Die absolut genaue Uebereinstimmung ist wohl nur eine
zufällige. Wenn auch die heutigen Methoden genauere Resultate
liefern als die älteren, so muss man meines Erachtens Differenzen
von 5 — 10 MUgr. und selbst wenig darüber in 100 Cc. Blut als
in den Fehlergrenzen gelegen ansehen.
Es folgen nun die eigentlichen Versuche.
Versuoli Vm.
Mittlerer Hund, chloroformirt. Es wird Blut aus derV.jug.,
dann in zwei gesonderten Portionen aus der V. hepat. genommen.
(16)
898
Aböles.
GeflUsgebiet
I Menge des
Blatee
||
in Ce.
Menge der
darans dsrge-
steUteniZacker-
löinng in Co.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zacken
V. jag. . .
V. hep. a)
V. hep. b)
38-5
36
40
65
62
68
0-048
0053
0^1
Zocker in
100 Theilen
Blnt
0124
0146
0177
Anmerknng
Es zeigt sich dass das mittelst einfacher Sondirang dem
Thiere entzogene Lebervenenblnt sich nur unerheblich von dem
der V. jug. unterscheidet. Die zweite Portion des Lebervenen-
blutes ist gesättigter, woraus hervorgeht, dass während der kurzen
Dauer der Operation die Zuckererzeugnng lebhafter war.
VerBuoh IX.
Grosse Hündin, chloroformirt. Zuerst wird Carotis-, dann
Lebervenenblut genommen. Es dauert relativ lange, bis es gelingt,
in die Lebervene einzudringen.
Gefftssgebiet
Menge des
Blntes in
Ccm.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösang in Ccm.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
CarotiB
j V. hepat.
42*5
41
67
59
0-057
0-066
0-134
0160
Versuoh X.
Grosser Hund, chloroformirt. Die Reihenfolge der Blutent-
nahme wurde diesmal umgekehrt. Es wurde zuerst Blut aus der
Leber und dann ans der Arterie genommen. Die erste Portion
tropft sehr langsam, so dass die Sonde sich mit Coagulum ver-
stopft. Sie wird entfernt und 10 Minuten gewartet, damit die
Leber sich erholen kann. Bei der zweiten Einführung fiiesst das Blut
rhythmisch und gut. Dann wird Blut aus der Art. crur. genommen.
Gefilssgebiet
Menge des
Menge der
daraus darge-
Zuckers in gt^llten Zucker-
^^^' 'lösung in Ccm.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
V. hep. aj
V. hep. b'
Art. cmr.
(16)
12
34
35
70
62
0-058
0-050
'\wi
f ve
wird nicht
verarbeitet
0170
0143
Zar Frage der Zackerbildong in der Leber.
399
Verauoh XI.
Sehr grosse Hündin, chloroformirt. Es wird durch die V. jug.
wie gewöhnlich eingegangen nnd Blut in zwei Portionen genommen.
Beim Nachfühlen im Bauchraume zeigt sich, dass die Sonde nicht
in der Leber steckt. Sie wird zurückgezogen, einige Zeit gewartet,
damit die Leber sich erholen kann, und nun in eine Lebervene
eingegangen und 3 Blutproben genommen.
Gefässgebiet
Menge des
Zuckers
in Ccm.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösung in Ccm.
Absolute
Menge des
gefondenen
Zuckers
Zucker in
100 Theileu
Blut
Anmerkung
V. hep. a)
V. hep. h)
V. hep. c)
30
26
30-5
52
65
70
0-035
0039
0-057
0-116
0150
0-186
Versaoh XII.
Grosser Hund, chloroformirt. Es wird zuerst eine Probe aus
der Art. crur. und dann zwei aus der V. hepat. genommen.
Gefiasgebiet
Art. cmr,
V. hep. a)
V. hep. h)
Menge des
Blutes in
Ccm.
Menge der Absolute
daraus darge- | Menge des
stellten Zucker- gefondenen
lösung in Ccm.! Zuckers
Zucker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
24-5
25
57
57
0040
0-063
0163
0-252
vemnglüokt
Versuoh Xin.
Ich füge noch einen Versuch hier an, den ich gewisser-
massen zufällig angestellt habe. Herr Prof. Stricker narcotisirte
einen mittelgrossen Hund mit Ghloralhydrat und führte ihm zum
Zwecke anderer Studien die Canüle in eine Lebervene ein und
Hess durch kurze Zeit Blut abfliessen. Ich nahm dann erst eine
Probe aus der Lebervene und darauf aus der Carotis.
Gefässgebiet
1
1
1
.Menge des
Blutes in
Ccm.
Menge der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösung in Ccm.
Absolute
Menge des
gefundenen
Zuckers
Zucker in
100 ,Theilen
Blut
Anmerkung
V. hep. . .
Carotis . .
35
42
69
74
0-036
0041
0-103
0-097
—
Med. Jahrbücher. 1887.
33 (17)
400 Abelei.
Alle die angeführten Versuche , bei welchen die Entziehimg
des Lebervenenblntes mittelst directer Sondimng bewerkstelligt
wurde, zeigen mit grosser Uebereinstimmung , dass der Zucker-
gehalt des Lebervenenblntes nicht wesentlich grösser ist, als iler
im übrigen Kreislauf, sofern es gelingt, das Blut in kurzer Zeit
und mit möglichster Schonung der Leber zu gewinnen. Aber die
fortdauernde Einwirkung selbst des geringen Insultes, den die be-
schriebene Methode mit sich bringt, hat zur Folge, dass der
Zucker im Lebervenenblnte rapid anwächst. In dem Versuche mit
Chloralhydrat (XIII) und in der ersten Portion Lebervenenblut
im Versuche XI finden sich Zahlen, die mit den sonst in der
Pfortader gefundenen geradezu übereinstimmen, während umgekehrt
die dritte Portion im Versuche XII einen Zuckergehalt aufweist,
der dem von Seegen gefundenen entsprechen würde. In den
anderen Versuchen zeigt sich allerdings ein gewisses Plus in der
Leber gegenüber Arterien und Venen, aber es ist zu bedenken,
dass es nur selten gelingt, die Sonde so glücklich einzuflihren,
dass das Blut sofort leicht und relativ schnell wirklich aus der
Leber abfliesst. In dem Versuche XII befand sich die Leber bei
Entnahme der ersten Portion schon in einem solchen Zustande,
wie im Versuch XI kaum bei der zweiten. Man hat es bis zu
einer gewissen Grenze in der Hand, den Zuckergehalt zu steigern,
wenn man langsam manipulirt. Dasselbe ist auch bei den Ver-
suchen nach S e e g e n der Fall. Je längere Zeit zwischen Unter-
bindung der V. cav. im Bauchraume und dem Abflüsse des Leber-
venenblntes verstreicht, desto höher ist der Zuckergehalt des
letzteren.
Auffallend wenig Zucker findet sich in den Lebervenen und
im Blute überhaupt im Versuche mit Chloral (Xm), trotzdem die
Sonde schon mehrere Minuten stak. Ob dabei die Art des Anästhe-
ticums eine Rolle spielt, kann ich vorläufig nicht entscheiden.
Ich habe schon hervorgehoben, dass auch Seegen es fUr
nöthig hielt, die Resultate, die sich ihm bei Unterbindung der
V. cav. im Bauchraume ergaben, durch Versuche, die nach einer
anderen Methode angestellt waren, zu controliren. Er eröffnete zu
diesem Zwecke weit den Bauchraum, zog die Leber herunter,
trachtete einer Lebervene ansichtig zu werden and entnahm ihr
(18)
Zur Frage der Znckerbildnng in der Leber.
401
mit einer Stichcanüle Blut. Die Analysen bestätigten ihm die
froher gefundenen Thatsachen.
Diese Methode schien mir nicht ganz zweckentsprechend,
da dabei die Leber bedeutend gezerrt und gedrückt wird. Auch
ist es nicht aasgeschlossen , da man nicht so tief in das Gefäss
eindringt, als bei der oben erwähnten Sondirungsmethode , dass
Cavablut regurgitirt und sich dem abfliessenden Lebervenenblut
beimengt. Ich habe aber doch zwei derartige Versuche (ohne Ab-
klemmung der Cava) angestellt und dabei die Vorsicht gebraucht,
sehr grosse Thiere zu wählen, um wenigstens rasch einer Leber-
yene ansichtig zu werden und einstechen zu können. Die Resultate
stimmten mit den bei directer Sondirung gefundenen tiberein.
Versuch XIV.
Sehr grosse , alte Hündin , etwas marastisch , chloroformirt.
Es wird Blut zuerst aus der Art. crur. und nach Eröffnung des
Bauches aus einer V. hepat. in 4 Portionen genommen. Bei Er-
öffnung des Bauchraumes fand man Zeichen von alter überstan-
dener Peritonitis.
Gefässgel iet
tfenge des
Blutes
in Ccm.
Men{;e der
daraus darge-
stellten Zucker-
lösang in Ccm.
Absolute
Menge des
gefandenen
Zuckers
Zncker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
Art. crur. .
37-5
71
0-039
0-104
__^
V. hep. a) .
—
—
—
—
verunglückt
V. hep. h) .
34
62
0038
0-IJ2
—
V. bep. cj .
34
52
0042
0123
—
V. hep. d) .
30
52
0-043
0-146
Versuch XV.
Grosse Hündin, chloroformirt. Es wird Blut aus der Art.
crur. und drei Portionen aus der Lebervene genommen. Nach
Entnahme der ersten Portion ist die Canüle verstopft und es wird
eine zweite Lebervene angestochen. Zwischen Entnahme der
zweiten und dritten Portion wird ebenfalls eine Pause von 2 bis
3 Minuten gemacht, ohne dass die Canüle aus der Vene ent-
fernt wird.
33 ♦ (19)
402
Abeles.
Gefässgeblet
Menge des
Blates
in Ccm.
Menge der
daraus darge-
stellten Zacker-
lösnng in Ccm.
Absolute
Menge des
gefundenen
^Zuckers
Zucker in
100 Theilen
Blut
Anmerkung
Art. crur.
V. hep. aj
V. hep. b)
V. hep. c)
39-5
37
45
43
65
63
61
61
0053
0-052
0-074
0-083
0134
0-140
0164
0-193
In diesen beiden Versnehen mittelst Einstichs zeigt sich
übereinstimmend mit dem früheren mittelst Sondirang ausgeführten,
dass die erstgenommenen Blutproben ans den Lebervenen in Bezug
auf Zucker sich nicht wesentlich anders verhalten, als das Blut
der Arterien, während die späteren Proben desto reicher an Zucker
sind, je später sie entnommen sind.
Es lässt sich aus diesen Thatsachen nicht mit logischer
Nothwendigkeit der Schluss ableiten, dass die Leber unter physio-
logischen Bedingungen keinen Zucker erzeuge, jedenfalls lässt sich
sagen, dasS diese Thätigkeit der Leber in dem Yon
Seegen angenommenen Ausmasse nicht existirt. Ich
habe schon die Möglichkeit zugegeben, dass das Blut stetig aus
der normal functionirenden Leber und ausschliesslich aus dieser
so viel Zucker aufnimmt, als im Organismus verbraucht oder aus-
geschieden wird. Diesen Gedanken hat schon Pavy angedeutet,
und der Umstand, dass verhältnissmässig nicht zu
schwere Eingriffe den Zucker geh alt des Leber venen-
blutes sofort steigern, macht es bis zu einem ge-
wissenGrade wahrscheinlich, dass in der Norm viel-
leicht auf gewisse physiologische Reize hin, etwas
Aehnliches, wenn auch in sehr abgeschwächtem
Masse, vor sich gehe. Aber unsere heutigen vergleichenden
Blutanalysen berechtigen uns weder zur Annahme, noch ziu- Ab-
lehnung dieser Theorie. Ohne bestätigende Blutanalysen aber
bleiben alle indirecten Beweise unzureichend. Seegen ^) hat
auch die Leber aus dem Kreislauf ausgeschaltet und dann ge-
funden , dass der Blutzucker dabei stetig abnehme. Dasselbe
») 1. c.
(2'>)
Zur Frage der Znckerbildnng in der Leber. 403
haben vor Jahren B o c k ^) und H o f m a n n und nenerdings M i n-
kowski^) gefunden. Ich habe damals die Versuche von Bock
und Hofmann nachgemacht und die Angaben nicht bestätigen
können. Allein, ich will annehmen, dass bei meinen Versuchen
technische Fehler mit unterlaufen sind und die Leber nicht
ganz ausgeschaltet war, und dass bei wirklicher Ausschaltung
der Blutzucker thatsächlich verschwindet. Dennoch kann ich den
daraus gezogenen Schluss, dass die Leber die einzige Quelle des
Blutzuckers sei , nicht für richtig halten. Der Eingriff ist ein so
gewaltiger, dass wir gar nicht wissen können, was dabei im
sterbenden Organismus vorgeht. Ueberdies haben Bock und H o f-
mann^) bei tracheotomirten Katzen und Cecil Schulz*) bei
ebenso behandelten Kaninchen, die einfach dlirch 36 Stunden
aufgebunden waren, die gesanmiten Kohlehydrate ans dem Or-
ganismus verschwinden sehen. Dabei war von einer Ausschaltung
der Leber keine Rede.
Als eine bedeutende Stütze seiner Theorie betrachtet S e e g e n
die Ergebnisse seiner Versuche mit Pepton und Fett. Dass Leber-
stücke mit Peptonlösung , beziehungsweise Fett und arteriell er-
haltenem Blute mehr Zucker entwickelten als ControlstUcke ohne
Pepton oder Fett, ist in der That eine sehr merkwürdige Er-
scheinung, aber es ist nicht zu vergessen, dass es sich um Leber-
stücke handelt^ die vom Organismus völlig gelöst waren. Hof-
meister, der die Fähigkeit der Leberzellen, Zucker zu erzeugen,
als erwiesen annimmt — und fUr die Leber im postmortalen Zu-
stande wird die Zuckerbildung von keiner Seite bestritten —
deutet den Einfluss des Peptons dahin, dass die Leberzellen in
diesem günstigen Nährmateriale gewissermassen thätiger sind, als
in einer indifferenten Flüssigkeit. Ob diese Deutung richtig und
namentlich, ob das, was fUr Pepton gelten mag, auch ohne
weiteres auf Fett übertragbar ist, vermag ich nicht zu ent-
scheiden. In Bezug auf Pepton möchte ich doch daran erinnern,
dass diese Substanz unter Umständen auch toxisch wirkt. Diese
') 1. c.
') lieber den Einfluss der Leberezstirpation anf den Stoifwecbsel. Archiv
f. ezp. Path. XXI, pag. 41.
•)
*) Beitr. z, Gescliiclite d. Glycogens. Inangnral-Dissert. Berlin 1877.
(21)
404 Abel es.
schon durch Hofmeister und Schmidt-Mülheim bekannte
Thatsache hatte auch S e e g e n Gelegenheit, bei seinen Versuchen
zu bestätigen. Thiere, denen er Peptonlösungen in die V. port.
iigicirte, verfielen „in einen eigenthilmlichen soporösen Zustand/
in welchem sie verblieben. Ob nicht diese toxische Eigenschaft
des Peptons bei der Zuckerbildung in der Leber eine Rolle spielt,
lässt sich nicht bestimmen. Wie dem auch sei, aus den einschlä-
gigen S e e g e n'schen Versuchen geht nur hervor, dass nach Ein-
wirkung von Pepton oder Fett auf die Leber des getödteten
Thieres oder nach Fütterung mit diesen Substanzen die Leber
zuckerreicher gefunden wird als gewöhnlich. Was in vivo dabei
vorgeht, wissen wir nicht, jedenfalls belehren uns die Blutana-
lysen nicht darüber. Denn der Blutzucker ist von jeder Nahrungs-
einnahme unabhängig, sowohl in den Lebervenen, wie in den
Arterien. Das Pfortaderblut macht insofeme eine Ausnahme, als
sein Zuckergehalt sich nach reichlicher Einnahme von Kohle-
hydraten für kurze Zeit steigern kann (v. Mering, Seegen),
sonst aber verhält es sich wie das übrige Blut.
Ein beträchtlicher Ueberschuss an Zucker im Lebervenen-
blut gegenüber dem aus einem anderen Gefässgebiet ist ein intra-
mortaler Vorgang und auf Rechnung des Insultes zu setzen.
Je intensiver und je länger dieser wirkt, desto mehr Zucker
wird man finden. Ob das kleine Plus, das ich nach der von mir
angewandten Methode gefunden habe, der Ausdruck einer physio-
logischen Function der Leber oder ob auch dies nur Eunstproduct
sei, wird sich erst entscheiden lassen, wenn die Methoden noch
besser ausgebildet sein werden.
Ich fasse noch einmal das Gesammtergebniss dieser Arbeit
zusammen :
Esistmöglich und bis zu einem gewissen Grade
wahrscheinlich, dass dieLeber im physiologischen
Zustande stetig oder auf gewisse physiologische
Reize hin kleine Mengen Zucker bilde. Aus ver-
gleichenden Blutanalysen lässt sich dies bisher
nicht erweisen. Keineswegs besteht die physio-
logische Zuckerbildung in der Leber in dem von
Seegen angegebenen Masse.
(28)
Zur Fnge der ZDokerblldniig in der Leb«r.
i|
DftranB
Ver-
d^Tfe-
Abaolat«
Zucker
■DChl-
aea-eebi« 1^«^°;^
■MUM
Menge du
in IM
TbeUen
Anmerkimt
msr
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Zaokar«
Blut
l|
InCcm
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■! *'
68
0-0->6
0120
I.
T. p.rt.
• «s
63
0-043
0102
1
T. l.p.
.]] 48-5
65
0-097
0-200
Carot. .
.; 40
—
—
_
U.
T. p.rt.
. 45
66
0043
0-095
1
T. h.,.
. 46
fll
0-095
0-210 1
T. port.
. 49
49
0-061
0-124 !/
i
in.
y. h.p.
. 39
50
0-135
0-345, "°n.l--
3
i
Carot. .
145
295
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43
61
0083
0-193
•HöK-
(24)
XYL
Ueber einige seltene Muskelyarietäten,
Von
Oberarzt Dr. Hermann Hinterstolsser«
(Aus dem zweiten anetomisclien Institute [Prof. Toldt] zu Wien.)
(Am 27. Mai 1887 Ton der Redaction übernommen.)
(Hierzu Tafel XIV, XV, XVI, XVU.)
1. Varietäten der Peronealgnippe.
1. Verschmelzung beider Peronei zu einem
einzigen Muskel. (Zweiter bisher bekannt gewordener Fall;
beobachtet am 19. Dec. 1883.) Tafel XIV, Fig. 1.
Am linken Unterschenkel eines Mannes finden sich beide
M. peronei zu einem mächtigen, doppelt gefiederten Muskel ver-
einigt, welcher vom lateralen Gondyl des Schienbeines vom äusseren
hinteren Bord des Wadenbeines, vom Köpfchen bis über das untere
Dritttheil herab, seinen Ursprung nimmt. Der Muskelbauch nimmt
also das ganze Ursprungsfeld beider Peronei ein. In der Mitte
des Unterschenkels tritt die Endsehne auf der äusseren Muskel-
fläehe hervor. Sie verbreitert sich allmälig und tritt 6 Cm. über der
Enöchelspitze frei aus dem Fleische. Diese platte, breite Sehne
verläuft in der Peronealrinne hinter dem äusseren Knöchel, schlingt
sich um letzteren herum, erreicht den Tarsusrücken und spaltet
sich im Bereich des Retinaculum inferius in zwei Sehnenschenkel
(1)
408 HinterBtoiiser.
oder „Secandärsehnen**, welche von da an normale Verlaufs- und
Endigongsweise beider Peronei einhalten : der eine etwas stärkere
Schenkel läuft an der Aussenseite des Fersenbeins zur Rinne des
Würfelbeines, durchzieht die Sohlentiefe und heftet sich an die
Basis des Metatarsale I. Die dorsale Secundärsehne endigt am
Tnber Metatarsalis V. An der rechten Extremität finden sich
beide Peronei isolirt und verhalten sich normal.
Den ersten Fall dieser interessanten Muskelyerwachsung
beschrieb W. Gruber. i) Ein Fall von Ringhoff er*), den
Testut') hierher rechnen will, erscheint umsomehr zweifelhafter
Natur zu sein, als der Fund bei Zergliederung einer Missgeburt
(Peropus) gemacht wurde. Ringhof fer nennt ihn Peroneus
communis — trotzdem das Wadenbein vollständig fehlte. — Von
vergleichend anatomischen Analogien über das Vorkonmien einer
Union der M. peronei bei Säugern ftlhrt Grub er*) nur zwei
Fälle an: bei Didelphis cancrivora nach Cuvier^); bei Ory-
cteropus capensis nach G a 1 1 o n. ') Bei wenigen Säugern ist nur
ein einziger Peroneus vorhanden ; so bei den Einhufern (P. long.),
Cheiropteren, Echidna. ^)
2. Partielle Goalition der Peronealsehnen im
Bereich des vom Retinaculum beigestellten Canales
(beobachtet am 30 Dec. 1884), Fig. 2.
Die Muskelbäuche beider Peronei der linken Unterextre-
mität eines Mannes bieten nach Ursprung, Lage und Gestalt
keinerlei Abweichung dar. Die Sehnen beider aber vereinigen sich
gleich nach ihrem Eintritt unter das obere malleolare Haftband,
also mit dem Beginne der hier einfächerigen synovialen Sehnen-
scheide. Auf die Länge von 4Va Cm. sind beide Sehnen untrenn-
bar miteinander verschmolzen zu einem breiten platten Sehnen-
') Virchow'a Archiv. CVII, 485.
') Dasselbe. XIX, 28.
") Testat, Les anomalies mnscTÜaires chez rhomme. 1884, pag. 738.
♦) 1. c.
») Cuvier, Anat. comp. 1849, Fol. PI. 174, e.
^ Transact. of the Linneau Soc. of London. Vol. XXVT, pag. 598.
») Meckel, vergl. Anat. m,626, 629, und W. Gruber, Beobachtungen
etc. VII, pag. 76 -77.
(2)
üeber einige seltene Moskelvarietäten. 409
bände, wobei sie ihre Fasern theilweise gegenseitig auswechseln.
Nachdem sich nun die gemeinsame Sehne um den Malleolos
hemmgeschlnngen , spaltet sie sich in zwei Schenkel, die von
nun ab ihren gewohnten Verlauf nehmen ; an dem gleichen Orte
spaltet sich auch der snpramalleolar einfache Synoyialsack in
zwei isolirte von den betreffenden Sehnenschenkeln durchzogene
Scheidensäcke. Die FussrUckensehne des P. breyis fehlt. Der
rechte Unterschenkel bietet dieselben Verhältnisse. Diese Fusion
der Sehnen in ihren Verlauf schliesst sich an den vorher be-
schriebenen Fall eng an. Man kann dieselbe fttglich im Sinne
einer unvollendeten Differenzirung der Feronealschicht auffassen.
Analoge Fälle sind bisher nicht bekannt geworden.
3. Ein Peroneus brevis secundus mit Insertion
seiner in zwei Schenkel gehaltenen Sehne am Cal-
caneus (beobachtet am 12. Febr. 1884), Fig. 3.
Im oberen Dritttheil der äusseren Wadenbeinkante entspringt
fleischig ein halbgefiederter Muskel, welcher zwischen beide Peronei
der Norm eingeschaltet, dem P. brevis auflagert. Nachdem seine
Sehne frei geworden, spaltet sie sich über dem äusseren Malleolns
mit Beginn der Peronealscheide in zwei Schenkel. Diese platten
bandartigen Secundärsehnen weichen auseinander und nehmen
die Sehne des P. brevis zwischen sich auf. Während die Sehne
des P. brevis, den Knöchel umschlingend, dem Tarsus zustrebt,
ziehen die genannten Sehnen in gerader Richtung nach abwärts,
wobei die erstgenannte Sehne vor sie zu liegen kommt; sie
treten an den Aussenbord des Calcaneus heran und lösen sich
in dem das Retinaculum inferius darstellenden Bandapparate auf,
d. h. sie strahlen in die Insertionsstellen des letzteren fächerig
aus. Der P. longus deckt den anomalen Muskel im ganzen Verlauf.
Die Varietät fand sich nur am linken Unterschenkel. Rechts
waren normale Verhältnisse. Die FussrUckensehne des P. brevis
fehlte beiderseits.
Mit dem reducirten P. dig. quinti ^) lässt sich die beschriebene
Varietät nicht gut in Beziehung bringen. Wir sehen darin einen
sehr eigenthtimlichen Fall eines Accessorius zum P. brevis und
*) W. Grub er, Beobacht. VIT, pag. 41—82.
(8)
410 Hinterstoisser.
können ihn wohl auch mit dem Peroneocalcanens extemus in Be-
ziehung bringen. Die Spaltung der Endsehne des Anomalns ist
jedenfalls eine bemerkenswerthe und ist ein derartiger Fall bisher
nicht bekannt geworden.
n. Ein Fall von Tibio-peroneo-oaloaneos internal.
Fig. 4. (Am linken Unterschenkel eines Mannes beobachtet am
18. Febr. 1887.)
Die tiefe Wadenmuskelgruppe erscheint bei der Präparation
im unteren Viertel von einer anomalen doppeltfiedrigen Muskel-
platte bedeckt. Es bieten sich folgende Verhältnisse dar: Die
Muskelplatte setzt sich aus zwei Köpfen zusammen, welche 4 Cm.
über der Malleolarebene unter Bildung einer Längsraphe in einen
Bauch zusammenfliessen. Der mediale Kopf entspringt hoch über
dem inneren Knöchel vom unteren Drittel der inneren Tibiakante.
Die Ursprungslinie seiner Fasern verläuft an der Tibia herab,
weicht dann schräg auf das Lig. laciniatum ab. Der Ursprung
des äusseren (fibularen) Kopfes, der dem ersteren an Mächtigkeit
nahezu gleichkommt, reicht nicht ganz so weit an der Fibula
hinauf. Seine Fasern nehmen ihren Ausgang von der hinteren
inneren Knochenkante bis gegen den äusseren Knöchel herab,
theilweise auch vom Lig. intermusculare extemnm zwischen Peroneal-
und Wadenmuskelgruppe. Unter spitzem Winkel treffen sich
beide Köpfe und stellen nun einen breiten, platten, doppeltge-
fiederten Muskelbauch dar , der sich nach abwärts verschmälert
und sich mit einer kurzen starken Sehne an der Innenseite des
Calcaneus anheftet.
Offenbar ist diese Varietät nach Analogie des Peroneo-
calcanens internus (Macalister >) zu deuten. Darüber besteht
wohl kein Zweifel, dass letzterer als ein reducirter M. accessorius
longus des gemeinsamen Zehenbeugers anzusehen ist ^) ; bekannt-
lich variiren die Ursprünge des genannten Accessorius ad accesso-
0 Transact. of Boy. Iriflli Acad. 1871.
') L'aooesBoire jaxnbier, accessorius secnndtis (Humphry), acoessorius ad
accessorium (Turner); Peroneocalcanens intemns Macalister = accessorius ad
calcan. Krause.
(4)
lieber einige raltene Mnskel Varietäten. 411
rimn ungemein 'häufig. Derselbe kann von der Fibula, Tibia,
von der tiefen Wadenfascie, vom Soleus, vom Flexor hallucis
(fibulariB), Elex. dig. com. long, (tibialis) und vom Peroneus brevis
seinen Abgang nehmen. Dabei kann er ein zwei und mehrköpfiger
Mnskel sein. Turner^) beschreibt einen Fall, der mit unserem
Tibioperoneocalcaneus bis auf die abweichende Insertion überein-
stimmt: „Das innere Bündel des zweiköpfigen Muskels entsteht
vom inneren hintern Rand der Tibia, ein Weniges unter deren
Mitte, das äussere von der Fibula zwischen den Ursprüngen des
Flexor hallucis und des kurzen Peroneus ; beide Köpfe vereinigen
sich zu einem Bündel, das mit der vorderen Portion des Garo
qnadrata (Accessorius ad flexorem. dig. com. long.) fleischig
zusammenhängt. ^
In der Norm ist der Accessorius zur Garo quadrata ange-
deutet durch den inneren (medialen) Ursprungskopf der letzteren,
welcher meist getrennt von der an der unteren Galcaneusfläche
haftenden Portion vorkommt und sich erst weiter nach vorne mit
hr vereinigt. Diese mediale Portion wird nun nicht selten selbst-
ständiger und kann sich so in ihren Anfängen auf die Unter-
schenkelregion hinauf erstrecken. In manchen Fällen nun verliert
sie sogar vollständig den Zusammenhang mit der Garo quadrata
(Accessorius) und heftet sich mit ihrer Sehne am Galcanens an.
Eine solche Reduction lässt den Peroneocalcaneus internus entstehen
und auch unser Tibioperoneocalcaneus findet die gleiche Deutung.
m. Ein Bupemnmerärer acoessorisoher Fibnlarkopf des Boleus
mit eigenthümliohem Sehnenverlanfe.
Beobachtet am 1. Februar 1887.») Fig. 5.
Aus dem Fleische des fibularen Soleusursprunges des linken
Unterschenkels eines Mannes entspringt 4^2 Cm. unter dem
Fibulaköpfchen ein 1 ^/a Gm. breiter, 5 Cm. langer Muskelbauch ;
seine Faserung entspricht der Bündelrichtung des Stammmuskels ;
sich allmälig verschmälernd läuft er in eine Va Cm. breite,
0 Transact of Boy. Soc. of Edinburgli. 1865.
*) Das betreffende Präparat verdanke ich der Güte des Herrn Prosector
Dr. Hochstetter.
(5)
412 Hinterstoisger.
platte, dünne Sehne aus, welche durch einen halbmondfönnigen
Schlitz der Gastrocnemiuseehne tritt, so dass er oberflächlich der
Achillessehne anfliegt, im weiteren Verlauf aber an deren äusseren
Rand nach abwärts zieht. Im unteren Unterschenkeldritttheil
beginnt sich die Sehne aufzulösen; während sie durch allseitig
anstrahlende Fasern mit der tiefen Wadenfascie in festen Contact
tritt, streicht der hauptsächlichste Fascikel, von der Fascie
isolirbar, abwärts, sendet seine Faserantheile theils an die äussere
Seite der Tibiaepiphyse (hintere Eapselwand des oberen Sprung-
gelenks), theils an die äussere obere Calcaneusfläche. Die fascielle
Faserausbreitung geht unmittelbar in's Retinaculum peron. superior
über. Die Gesammtlänge des Muskels beträgt 24Va Cm. (Fibula
29 ^a Cm.); 10 Cm. unter seinem Ursprung durchbohrt er die
Gastrocnemiussehne. Der Schlitz der letzteren wird hergestellt
von einer inneren 4Vs Cm. langen Sehnenportion des medialen
Kopfes und einer äusseren kurzen, dem lateralen Kopf ent-
sprechenden. Dergestalt wird die Lücke durch einen scharf-
randigen nach aussen unten offenen, sichelförmigen Bogen begrenzt.
Die Achillessehne wird zum grössten Theile vom besonders stark
entwickelten Soleus aufgebracht. Der Plantaris verhält sich normal.
Der beschriebene Muskel fungirt als Strecker des Fusses
und Anzieher der Unterschenkelfascie und zugleich als Kapsel-
spanner. Der beispiellose Sehnenverlauf lässt die Deutung dieser
Anomalie um so schwieriger erscheinen, als es so ziemlich an
brauchbaren vergleichend anatomischen Daten gebricht. Der
Soleus secundus der Autoren ^) nimmt immer von der inneren
Portion des Stammmuskels (Linea obliqua tibiae) seinen Anfang
und ist als Plantarisvarietät betrachtet worden. Es ist aber
bekannt, dass bei einigen Säugern und sogar noch beim Orang
der Soleus nur einen fibnlaren Kopf hat. Andererseits trennt sich
auch beim Menschen in seltenen Fällen die Fibularportion als
separater Muskel von der Tibialen ab. Damach kann das Auf-
treten dieser Anomalie neben und aus einem normal entwickel-
ten Soleus auf einen Rückschlag in den Orangtypus bezogen
*) Craveilhier, Trait« d'Anat. descr. I, 763. — Pye Smith und
Davies Colley in Gay's Hosp. Reports. 1870 u. 1872. — Beawik Perrin,
Med. Times and Qaz. Dec. 1872.
(6)
üeber einige seltene Muskelvarietäten. 413
werden. Freilich findet hierbei die anfTallige Perforation der Gastro-
cnemiuBBehne keine ausreichende Erklärang. Ich möchte diesen
Bupernumerären Muskel als Soleus secundus externas
(S. accessorius) bezeichnen.
IV. Zwei Beltene Varietäten von Muskeln der Hand.
1. Ein überzähliger M. lumbricalisl., am Verde r^
arm von dem Indexbändel des Flex. dig. com. subl.
entspringend (20. September 1885 an der linken Hand eines
Mannes beobachtet), Fig. 6.
Ein langer spulrunder Fleischschwanz, der im untersten
Vierttheil des Vorderarms sehnig vom Fleisch des Indexbündels
des oberflächlichen Beugers entspringt, zieht unter dem Lig.
carpi transversum mit dem Packet der Beugesehnen in die Hohl-
hand, wo er auf den normalen Lumbricalis I. zu liegen kommt
Mit letzterem verschmilzt seine kurze Sehne knapp vor dessen
Anheftung am Radialzipfel der Streckeraponeurose des Zeige*
fingers. — An derselben Hand ist der M. lumbricalis III. distal
in zwei Köpfe gespalten, von denen der ulnare zum Radialzipfel
der Streckaponeurose des IV. Fingers, der radiale zum Ulnarzipfel
der des HI. Fingers läuft.
Ebenso findet sich am Vorderarm eine durch einen isolirten
Fleischschwanz des Flexor poUicis vermittelte Sehnenanastomose
zwischen dem genannten und dem Flex. dig. com. prof. Die
kurze Sehne jenes Fleischschwanzes spaltet sich in zwei Fascikel,
von denen eines wieder der Sehne des Daumenbeugers zustrebt,
das andere mit der tiefen Zeigefingerbeugesehne sich vereinigt.
2. Insertion der oberflächlichen Beugesehne
des IV. Fingers an der Sehnenrolle des Metacarpo-
phalangealgelenkes (Capitulum metacarpi IV.) und
in der Sehnenscheidenwand (beobachtet am 17. Jänner 1886), Fig. 7.
Die Sublimissehne des IV. Fingers einer linken Hand
(männliches Individuum) liegt in der Hohlhand normal über der
Prolundnssehne , läuft aber etwa 2 Cm. oberhalb des Metacarpo-
phalangealgelenkes unmittelbar in die radiale und hintere Wand
der hier beginnenden Vagina tendinis über, während die tiefe
(7)
414 Hinterstoisser.
Bengesehne über der genannten in den Scbeidensack schlüpft.
Die oberflächliche Bengesehne breitet sich platt und fslcherförmig
ans, der hauptsächlichste Antheil läuft an die SehnenroUe des
Metacarpophalangealgelenkes, ein radialer Antheil geht direct in's
radiale Lig. capituli (welches zur Sehnenrolle des Mittelfingers
zieht). Ein schwächerer Faserantheil läuft in die radiale Sehnen-
scheidenwand aus und lässt sich durch deren Schräg- und Quer-
faserung zur Mittelphalange verfolgen; endlich heftet sich ein
mittlerer Fascikel des Fächers an den Radialzipfel der Strecker-
aponeurose des Ringfingers ; an demselben Zipfel inserirt sich der
Interosseus internus lU., während der hierher gehörende Lumbri-
calis ni. einen unten näher bezeichneten Weg einschlägt.
Die dorsale (ossale) Wand des Sehnenscheidencanals bietet
eigenthümliche Verhältnisse dar. Während sonst die synoviale
Haut dem Knochen glatt auflagert, erhebt sich hier ein vom
Grundglied in einem Faserfächer entspringender Strang, der sich
zum 2. Fingerglied erstreckt; er theilt sich in zwei auseinander-
weichende Fascikel, die ihrerseits von den Wandungen der
Scheide Zuzüge erhalten. Diese ligamentösen Fascikel zeigen im
Allgemeinen dasselbe Verhalten, wie die normalen Sehnenschenkel
des Flexor perforatus : sie endigen in der Mitte des Mittelgliedes,
sie ahmen das normale Chiasma tendinosum nach.
Die Beugewirkung der Sublimissehne Dig. IV. ist gering, sie
strafft nur die ligamentöse Sehnenscheide. Hingegen ist der
Metacarpus IV. durch Anspannen der Sehnen sehr beweglich. Femer
wird dabei der Mittelfinger dem Ringfinger genähert und hier durch
die Wirkung des entsprechenden Interosseus extemus verstärkt.
Ausserdem finden sich noch folgende Varietäten an der-
selben Hand: Extensor dig. tertii proprius, Ext. dig. V. proprius
duplex ; Abductor poUicis long, entsendet eine accessorische Sehne
zum Muskelfleisch des Abductor brevis pollicis. Der Lumbricalis
m. inserirt sich am Ulnarzipfel der Mittelfingerrückenaponeurose ;
der Mittelfinger hat also auf jeder Seite einen Lumbricalis. Dem
Ringfinger fehlt der Spulmuskel.
Die Sublimissehne des V. Fingers wird schon in der Vola
manus von der Profundussehne bedeckt und inserirt sich unge-
spalten am mittleren Fingerglied.
(8)
üeber einige seltene Maskelvarietäten. 415
Die oben beschriebene Anomalie der Sehneninsertion des
Snblimis steht ganz vereinzelt da. Wir sehen darin eine bisher
gar nicht beobachtete Rednction desMnskels; dieselbe mag
wohl schon durch die gelegentlich vorkommende straffere An-
beftnng der Snblimissehne an die ligamentösen Wandungen der
Scheide angedeutet sein. Beim Hunde findet sich wohl eine
directe Verbindung und theilweis3 Insertion der Sublim issehne
an die Sehnenscheidenwand. Das Chiasma tendinosum scheint ohne'
wesentliche Veränderung in jenen sich regelmässig durchflechten-
den, der ossalen Wand des Canals angehörenden Fascikeln,
erhalten geblieben zu sein.
y. Von den überzähligen C^aatroonemlasköpfen und von den
Varietäten der üntersohenkelbenger.
Eigene Beobachtungen:
1. Dritter Kopf des M. gastrocnemius, von der
Fascia poplitealis entspringend (27. Mai 1885), Fig. 8.
Von der äusseren Seite der fasciellen Scheide des Gefäss-
nnd Nervenpacketes der Ejiiekehle einer linken unteren Extremität
entsteht in einer kurzen platten Sehne ein MuskelbUndel, das den
unteren Poplitealwinkel kreuzt und in den medialen Kopf des
Gastrocnemius übergeht, denselben um ein Beträchtliches verstärkt.
Nerven und Geisse bedeckt dieser anomale dritte Kopf. Im
Winkel, den sein Innenrand mit dem medialen Kopf bildet, zweigt
der Nervus communicans surae tibialis ab.
2. Dritter Kopf des Gastrocnemius, von der
inneren Lefze der Linea aspera femoris entsprin-
gend (10 Jänner 1887), Fig. 9.
Diese Varietät fand sich an beiden unteren Extremitäten
eines Mannes.
Ueber den Femurcondylen entspringt von der medialen Lefze
der Linea aspera bis gegen den inneren Condyl herab, ein starker
Fleischbauch, der, sich rasch verbreiternd, in seinem Verlauf durch
die Regio poplitea den offenen Convergenzwinkel der beiden
Gastrocneminsköpfe ausfüllt. Derselbe wölbt sich ttber den inneren
Kopf etwas hervor und deckt die Gebilde der Kniekehle; seine
Med. Jahrbücher. 1887. 34 (9)
416 Hinterstoisser.
kurze dicke Endselme inserirt sich in der sehnigen Baphe, in welcher
die einander zostrebenden Fasern der beiden Köpfe endigen, ver-
webt sich mit ihr innig und lässt sich anf der vorderen dem
Solens zugewendeten Seite derselben eine Strecke weit isolirt
nach abwärts verfolgen. Die Länge des Maskeis beträgt 14 Cm.,
die grösste Breite 4 Cm., bei einer durchschnittlichen Dicke von
einem Centimeter. Das betreffende Präparat hat mir Herr Pro-
iBector Dr. F. Hochstetter freundlichst zur «Beschreibung über-
lassen.
3. Ueberzähliger Mnskelschwanz des M. biceps
femoris mit Insertion an der Gastrocnemiussehne
(9. März 1883), Fig. 10.
Vom langen Kopf des Biceps femoris, und zwar von dessen
Innenrand, entspringt etwas unter der Oberschenkelmitte ein circa
Vi\ Cm. breites Muskelbündel fleischig und läuft zwischen den
Gastrocnemiusköpfen nach abwärts. Dasselbe geht unter der Knie-
kehle in eine rabenfederkieldicke spulrunde Sehne über, deren
Fasern schliesslich, fächerförmig ausstrahlend, in der aponeurotischen
Verbreiterung der Gastrocnemiussehne sich inseriren Beim An-
spannen dieses Muskelbündels spannt sich die Achillessehne.
Diese Varietät wurde an beiden Beinen genau in derselben Ent-
faltung angetroffen.
4. Ein vom M. semitendinosus sehnig entsprin-
gender anomaler Muskel mitlnsertioninder Gastro-
cnemiussehne (11. Februar 1884), Fig. 11.
Ein anomaler Muskel entspringt in einer langen, dünnen,
spulrunden Sehne am obersten Ende der Inscriptio tendinea des
M. semitendinosus ; in deren ganzen Länge ist die Sehne deutlich
als isolirbarer zarter Strang zu verfolgen und hängt mit ihr durch
feinste Fäserchen überall zusammen; am unteren Ende der
sehnigen Einzeichnung des M. semitendinosus wird diese Hauptsehne
frei, zieht hart an den Lateralrand des genannten Muskels nach
abwärts in einer Gesammtlänge von 20 Cm. und geht im oberen
Kniekehlenwinkel in das Fleisch des Anomalns über. Dieser
haftet ausserdem mit einer zarten sehnigen Platte an der Sehne
des Semimembranosus und mit einem dritten dünnen, breiten
Sehnenbande an dem medialen Antheil der Fascia lata. So er-
(10)
lieber einige seltene Muskel Varietäten. 417
hält dieser Muskel drei proximale Anheftongsstelleii. Der Fleisch-
bauch selber nimmt rasch an Dicke zu, erreicht in der Mitte der
Kniekehle eine Breite von 27« Cm., kreuzt, in oberflächlicher Schichte
gelegen, die Regio poplitea, strebt hierauf dem unteren Winkel
des Rhomboids zu, kommt hierbei zwischen beide Gastrocnemius-
köpfe zu liegen, schmiegt sich zudem dem medialen Kopfe an.
4Vs Cm. unter dem Convergenzwinkel der Gastrocnemiusköpfe
entwickelt sich die 4 Cm. lange Endsehne, die sich an der apo-
neurotischen Sehnenausbreitung des medialen Kopfes anheftet,
wobei sie sich in fächerartig ausstrahlende feine Fasern auflöst,
welche sich namentlich medial mit der Gastrocnemiussehne yer-
weben. Die Länge des Fleischschwanzes beläuft sich auf 1 6 Cm. ;
beim Anziehen wird die Achillessehne angespannt.
Indem ich im Nachfolgendem eine bereits von Testut^)
Yorgeschlagene Grnppirung aller bisher beobachteten Varietäten
dieser Art, theilweise von neuen Gesichtspunkten ausgehend, zu
geben versuche, will ich die darüber vorhandenen Literatur-
angaben, soweit sie, diesen Gegenstand betreffend, mir bekannt
geworden, an gehörigem Orte einschalten. Die meisten jener ab-
weicherden Muskeln, welche, ausgehend von den Unterschenkel-
beugem, mit dem Triceps surae in directe oder indirecte Ver-
bindung treten, sind bisher als dritte oder ttberzählige Köpfe des
Gastrocnemius bezeichnet worden. Dieser Name gebtihrt aber nur
einem geringen Theile abweichender Muskeln der Ejiiekehle, die
niemals mit den Unterschenkelbeugem zusammenhängen. Daher
kann man im Allgemeinen alle hier in Betracht kommenden
Muskelvarietäten in zwei Gruppen einreihen.
1. Gruppe. Ein supernumerärer Muskel ent-
springt im Bereich der Kniekehle von der Linea
aspera (von deren medialer oder lateraler Lefze),
oder vom Planum popliteum, von der ligamentösen
hinteren Kapselwand, von der fasciellen Nerven-
gefässscheide, von der Fascia poplitealis selbst; er
geht fleischig in einen oder den andern derGastro-
cnemiusköpfe (meist in den medialen) über, dessen
*) 1. c. pag. 650.
34* (11)
418 Hinterstoisser.
Fleischmasse verstärkend, oder erinserirt sich mit
entwickelter Endsehne an der Gastrocnemiusraphe
oder Achillessehne.
Nur den solchermassen sich verhaltenden anomalen Muskel-
bauchen gebührt mit Recht der Name von dritten Gastrocnemius*
köpfen. Ihre verschiedenartigen Formen weisen auf den ur*
sprünglichen Zusammenhang, auf die Verschmelzung beider Köpfe
zu einem einzigen Muskelkopf hin. Allerdings finden sich bei
den Säugern hierfür wenig deutliche Belege, denn bei ihnen ist
der oberflächliche Wadenmuskel immer zweiköpfig. Bei einigen
Vögeln aber ist diese Verschmelzung sehr wohl noch nachweislich.
Hier ist sehr häufig der innere Kopf dem äusseren unmittelbar
nahe geruckt durch die Ausbreitung seines Ursprunges auf das
Planum popliteum.^) Aehnlich zerfällt beim Strauss^) der äussere
Gastrocnemiuskopf in zwei , einen äusseren längeren und einen
kürzeren tieferen, der vom unteren Theile der hinteren Oberschenkel-
fläche beginnt. Bei den niederen Thieren aber ist die Differe nzirung
der Wadenmuskeln (Fussstrecker) von den Zehenbeugern überhaupt
nicht vollzogen; so hat unter den Sauriern das Krokodil allein
einen dem Triceps surae zu vergleichenden Muskel: der Gastro-
cnemius ist einköpfig (Caput extemum höherer Thiere) ; der Soleus
ist von ihm bis auf die Insertion am Fersenbein völlig isolirt.
Beim Menschen ist die eben beschriebene Art von dritten
Gastrocnemiusköpfen nicht so selten. Hierher gehören Beobachtungen
von Krause^), Smith, Howse und Davies Colley*),
H. Virchowß), Ferrier und Walsham«), Quain^), Köl-
liker und Flesch»), Wood»»), Chudzinskii«) und Fall
1 und 2 von mir oben kurz beschrieben.
^) AI ix, Essai sur Tapp, locomot. des Oiseaux, pag. 451.
2) Meckel, Vergl. Anat. III, 374.
«) Handb. Supplem. 1880, pag. 113.
^) Guys Hosp. Eep. 1870.
^) Sitzungsber. d. Jena'schen Ges. f. Med. a. Nat. 1877.
«) Transact. of Roy. Irish Acad. 1871 n. St. Barthol. Hosp. Rep. 1880, XVI, 87.
') Arteries, pl. 85.
•) Varietätenbeobachtungen. Würzburg 1879.
») Proc. of the Boy Soc. of London. 1868, pag. 516.
'^) Revue d'Antbropolog. 1882, pag. 622.
(12)
üeber einige seltene Mnskel Varietäten. 419
n. Gruppe. Sie umfasst alle jene Fälle von ano-
malenMuskeln, welche von einem oder dem anderen
der Unterschenkelbenger ihren Abgang nehmen.
Sie gehen theils fleischig unvermittelt aus ihnen
hervor, theils treten sie durch eine Ursprnngssehne
mit ihnen in Zusammenhang. Distal heften sie sich
immer sehnig an, gehen nie fleischig in die Bäuche
des Triceps surae über; ihre Sehne inserirt sich
entweder in der Gastrocnemiussehne oder weiter
abwärts in der Achillessehne oder sie erstreckt
sich gar bis an den Calcaneus, oder läuft bald
höher bald tiefer in die Wadenfascie aus. Jene, die
ihre Sehne der des Triceps surae zusenden, hat man allgemein
noch als dritte Köpfe des Gastrocnemius betrachtet; die in die
oberflächliche Wadenfascie ausstrahlenden nannte man Tensores
fasciae suralis, was sie ihrer Wirkung nach wohl sind.
Dennoch sind wir berechtigt, sie alle als Abkömmlinge der
Unterschenkelbeuger zusammenzufassen, ob sie nun an der Waden-
fascie, am Triceps surae oder am Calcaneus ihr Ende finden.
Es kommt ihnen dabei keineswegs eine selbstständige Bedeutung
zu. Vergleichend anatomische Untersuchungen geben die Hand-
habe zu weiterer Ausführung und Schlüssen. Da sich im Allge-
meinen die Insertionen der Unterschenkelbeuger bei den meisten
niederen Thieren viel tiefer herab erstrecken als beim Menschen
und in dieser Hinsicht die mannigfaltigsten Uebergänge der End-
sehnen derselben in die Fascie sowohl , als in die Achillessehne
und aufs Fersenbein vorfinden, da wir femer noch beim Menschen
vielfach variirende Ausstrahlungen von Fascikeln der Beuger-
sehnen in die Unterschenkelfascie 0 beobachten, so sind wir zum
Schlüsse gekommen, dass auch jene seltenen von den Unter-
schenkelbeugem abgehenden Muskelbäuche in's Reich der Ueber-
bleibsel oder Rudimente, vielleicht auch der Ruckschläge zu
rechnen sind. Die tief herabreichenden Beuger niederer Thiere
halten den Unterschenkel immer in einer mehr weniger starken
*) Bardeleben, Mnskeln und Fascie. Jena'sclie Zeitscbr. für Naturwiss.
1881, Bd. XV.
(13)
420 Hinterstoisfer.
Flexion im Knie, verhindern hierdnreh den fortdauernden aat-
rechten Gang (Meckel.^) Mit der fortschreitenden Weiterent-
wicklung des aufrechten Ganges, mnssten nothgedrnngen die weit
ausgreifenden Beuger ihre Arme proximal zurttckziehen. Während
sie bei niederen Thieren femer breite Muskelplatten darstellen,
sind sie im Laufe ihrer Umwandlung und Beduction allmälig
schmäler und dickbäuchiger geworden, wobei sie aber weniger
an Kraft als an Ausdehnung ihrer Wirksamkeit einbüssen mussten.
Aber noch von einem anderen Gesichtspunkte aus erweckt die Be-
trachtung dieser Varietäten unser besonderes Interesse. Es ist bekannt
dass bei der grossen Mehrzahl der niederen Thiere die sogenannte
Beugergruppe des Unterschenkels entschieden weit weniger die
Beugewirkung intendirt, dass sie vermöge ihrer mittelbaren oder
unmittelbaren Ausdehnung auf das Fersenbein, als dreigelenkige
Muskeln im eigentlichen Sinne Sprungmuskeln von wechselnder
Stärke und Kraft darstellen. Deshalb können wir mit gutem
Rechte jene Anomalien beim Menschen als Reste einer einst-
mals ausgedehnten und kräftigen Sprungmusculatur
ansehen. Der Qnadrupedentypus der Sprungmuskeln lässt sich
zudem constant sogar bis zum Orang hinauf verfolgen. *)
Wir wiederholen also nochmals, dass wir diese zweite Art
von Varietäten als Rückschlagsformen oder auch als Rudimente
betrachtet wissen wollen.
Daran reihen wir einige zootomische Daten, die zumeist den
Biceps femoris in Betracht ziehen.
Bei der Hyäne ist der äussere Wadenbeuger (Biceps) viel
grösser als der innere, kommt, wie letzterer, von den Schwanz-
wirbeln; unter ihm liegt, in seiner ganzen Länge auch vom
Schwanz kommend, ein dünner Muskel, mit dem er sich vereinigt
und an den Umfang der Achillessehne ansetzt. — Bei der Katze
setzt sich der Biceps an der ganzen Länge des vorderen Schien-
beinrandes an, nicht an's Wadenbein, und schickt einen hinteren
Zipfel an die Achillessehne. Beim Bären heftet sich der dicke
breite Muskel blos an's Fersenbein, ähnlich beim Coati, Wasch-
') 1. c. 600 ff.
') C. Langer , Die Mnacolator der Extremitäten des Orang. Sitcongsber.
der k. Akad. d. Wissensch. 1879, Bd. LXXIX.
(14)
üeber einige seltene Hnskelvarietäten. 421
baren, Figchotter (Meckel.^) Beim Hnnd erstreckt sieh der
innere und äussere Beuger bis zur Ferse, ihre breiten Sehnen
hüllen den Gastrocnemius grossentheils ein; stärkere Sehnen-
bündel senden sie zu beiden Seiten der Achillessehne herab,
welche sich mit ihr vor ihrem Fersenbeinansatz vereinigen. Bei
den Einhufern schickt femer der Semitendinosus eine lange
Sehne nach unten, die sich vor der Achillessehne mit der Biceps-
Behne vereinigt und zum Fersenhöcker zieht. Bei den Cavien
entsteht der Semitendinosus von den Schwanzwirbeln, geht durch
eine breite Sehne von der inneren Unterscbenkelfläche zum Fersen-
bein. Beim Känguruh hat derselbe Muskel einen mit dem
Semimembranosus gemeinsamen, am Sitzhöcker haftenden Ur-
sprungskopf, der sich alsbald in zwei Bäuche trennt ; diese gehen
in lange breite Sehnen über, welche, an der Wade herabsteigend,
die Achillessehne einschliessen und sich am Schien- und Fersen-
bein inseriren.
Die morphologische Stellung genannter Varietäten erscheint
hiermit klargelegt. Ganz im Allgemeinen lässt sich jeder der ano-
malen Muskeln dieser Art als M. ischio-calcaneus benennen.
Dabei kann man complete und incomplete Formen unter-
scheiden. Zu den completen mag man jene Abkömmlinge der
Beuger nehmen, die theils das Fersenbein zur Anheftung direct
aufsuchen, theils auch an der Gastrocnemius- und Achillessehne
sieh anheflien; zu den incompleten Formen aber zähle ich jene
aberranten Beugerfleischbäuche, welche in der Schenkelfascie
endigen. Für letztere, welche bisher mit dem Namen Tensores
fasc. suralis (poplitealis) genannt wurden, kann ftiglich der Name
M. ischio-aponeuroticus gelten.
Literataraagaben :
1. Abkömmlinge des Biceps femoris: a) Complete Fonnen des M. iscliio-
calcanens:
Kelch, Beiträge lor path. Anat. 1813, Art. XXXYI.
W. O ruber, Beobachtungen a. d. menschlichen nnd yergl. Anat. 1879,11,
pag. 66—58 (3 FaUe).
') 1. c.
(16)
422 HinterstoiBBer. üeber einige seltene Moskelyarietaten.
Halliburton, Jonrn. of Anat. and Physiolog. 1881, XY, pag. 296.
Mein Fall Nr. 3.
bj Inoomplete Formen, M. ischio-aponeuroticns :
W. Grab er, Bnll. de l'Acad. dee Sciences de St Petersbonrg. T. XXY,
pag. 230 (üeber die nngewdhnlichen M. tensores fksciae snralis).
Tnrner, Jonni. of Anat. and Phys. 1872, pag. 442.
2. Abkömmlinge des Semitendinosns :
a) Complete Form: Mein Fall Nr. 4.
h) Incomplete Formen (Ischio-aponenroticns).
W. Grab er, BnU. de l'Acad. d. Sc. d. St. Petersbonrg. 1872, pag. 290^
und 1873, pag. 184 (2 FMle).
Testat, Les anomalies moscalaires, pag. 643.
3. Abkömmlinge des Semimembranosos, bekannt sind awei incomplete
Formen, die aber eine andere Deatong nicht aosschliessen (M. tenaores fasciae
poplitealis).
Sandifort, Tbesaar. diss. Roterodami. 1769, pag. 250.
Giacomini, Annotasioni sopra Tanat. del ne|;ro 1882, pag. 49.
•♦leH-
(16)
xvir.
Casuistischer Beitrag zur Lehre von der
Epilepsie.
Von
Dr. Ludwig Wick,
k. k. Regimentsarzt Im Wiener Invalidenhanse.
(Am 14. April 1887 von der Redaction übernommen.)
(Hiezu Tafel XVIU bis XXm).
Krankheitsbilder , welche die Theorie strenge scheidet, um
za ihrem Yerständniss zu gelangen, welche die Natur in der
differentesten, anscheinend jede Gemeinsamkeit ausschliessenden
Form, in Erscheinung treten lässt, verknüpft sie selbst mitunter
durch allmälige Uebergänge und Mittelformen, welche dann fttr
die Theorie von besonderer Wichtigkeit werden.
Eine solche Mittelform stellt nachstehender Krankheitsfall
dar, welcher Hemicranie, Epilepsie und Gastroxie zu einen
Erankheitsbild verbindet, wodurch natürlich diese sonst sehr
differenten Erankheitsformen als Ausfluss derselben Quelle, als
Symptome eines und desselben Grundprocesses erscheinen müssen.
Da ich in der Literatur keinen ähnlichen Fall verzeichnet
finde, so möge mir eine grössere Ausführlichkeit in der Beschreibung
und Besprechung derselben gestattet sein.
Anamnese.
Josef Grober, gegenwärtig 25 Jahre alt, gibt an, seine
Mutter sei im 56. Lebensjahre an einem Herzleiden gestorben,
(i)
424 Wick.
Bein Vater, welcher Lehrer ist, leide viel an Kopfschmerz, zeit-
weise Schwindel, seine übrigen acht Geschwister seien gesond.
Er selbst habe in seinem 10. — 12. Jahre durch mehrere
Wochen an Wechselfieber gelitten, welches an seinem damaligen
Aufenthaltsort: Niedersill im Pinzgau endemisch ist, sei aber
weiterhin gesund geblieben, bis er an die Lehrerbildungsanstalt
nach Innsbruck kam.
Dort habe er öfters an Augencatarrh gelitten und bekam
am Ende des ersten Schuljahres 1879 folgenden Anfall.
Zur Zeit der Prüfung hatte er sich geistig mehr angestrengt,
bekam darauf Kopfschmerz und Erbrechen, welches 10 — 12 Tage
dauerte; als er darauf an einem dieser Tage des Morgens
aufstand, verspürte er eine zuckende Bewegung am Arm, mit der
Empfindung eines starken Kitzels und unmittelbar darauf drehte
es ihn und er stürzte zu Boden, wo er das Bewusstsein verlor,
Schaum vor dem Munde, mit den Armen herumgeschlagen
haben soll.
Er schlief darauf ein, und war, als er aufwachte , wieder
bei vollem Bewusstsein, ohne Erinnerung an das Vorgefallene.
Denselben Tag blieb er noch im Bette liegen, den zweiten
Tag darauf stand er auf und fuhr am dritten nach Hause.
Im October 1880 wurde er wieder eines Tages von Kopf-
schmerz und Erbrechen befallen, welches etwa 2 Wochen dauerte;
in der ersten konnte er noch herumgehen, in der zweiten musste
er jedoch liegen bleiben und an einem Tag soll er auch delirirt
haben.
In weiterer Folge dieses Zustandes fühlte er, dass er nicht
mehr so wie früher zu geistiger Thätigkeit Güdg sei und ver-
liess daher die Lehrerbildungsanstalt.
Im März 1881 wurde er von einem 3. Anfall betroffen.
Dieser begann mit Appetitlosigkeit, fieberhaften Erscheinungen,
wie Frost, abwechselnd mit Hitze, worauf etwa nach einer Woche
Kopfschmerz, Erbrechen eintrat Nachdem so wieder einige Tage,
also im Ganzen etwa 12 — 14 Tage vergangen waren, wurde
er in einer Nacht, gegen die Frübstunden hin, von seinen Ange-
hörigen nach einem Schrei bewusstlos, mit Händen und Füssen
herumschlagend; ausser Bette auf dem Boden liegend, gefunden«
(2)
Gasnistischer Beitrag bot Lehre von der Epilepsie. 425
Das Bewnsstsein kehrte erst am 4. Tag wieder znriiek. Als er
dann aus diesem Zustand erwachte, konnte er nicht sprechen, da
Zunge und Zahnfleisch geschwellt waren, und war angeblich durch
mehrere Tage hindurch auf beiden Augen blind. Der behandelnde
Arzt soll den Zustand als Qebimentzttndung bezeichnet, ein anderer
auch an eine Vergiftung gedacht haben. Er erholte sich auch von
diesem Anfall wieder gänzlich und wurde noch im selben Jahre
assentirt Während seines Truppendienstes erkrankte er im Jahre
1882 an Lungenentzündung, genas davon wieder, ftihlte sich aber
fortan etwas geschwächt, kurzathmig, und wurde daher fernerhin
zum Schreibgeschäft verwendet.
Aber auch hier konnte er nicht weiter dienen, da er bei
dieser Beschäftigung drückende Schmerzen im Kopf bekam und
auch sonst sich immer schwächer fühlte. Er wurde daher auch
von diesem Dienste abgelöst und in das Invalidenhaus bestimmt.
Als er hier im September 188S eintraf, wurde er zum In«
spectionsdienst verwendet, welcher unter Anderem öfters Nacht-
wachen mit sich brachte. Er erkrankte darauf, und nun wurde
der erste jener gleich zu beschreibenden Anfälle beobachtet.
Demselben folgten dann innerhalb drei Jahren noch 6 solche,
die sich mehr weniger nur durch ihre Intensität unterschieden.
Zur ausftihrlicheren Beschreibung des allgemeinen Verlaufes
derselben wähle ich den zweiten hier beobachteten Anfall, weil
in diesem die Erscheinungen am besten ausgeprägt waren, und
den X., weil er als Beispiel eines milderen Verlaufes dienen mag.
Krankheltsverlanf. (Tabelle 1.)
Ich schicke kurz voraus, dass der erste der von uns beob-
achteten Anfälle Ende September 188S auftrat, der Verlauf war
ein milder, weder eine Bewusstseinsstörung noch eine motorische
Reizung wurde constatirt.
Der V. Anfall begann angeblich am 27. December 1883
mit EopfiBchmerz, Appetitlosigkeit und später Erbrechen. Erst am
31., als die Erscheinungen intensiver wurden, meldete er sich
krank und wurde sogleich in das Spital bestimmt.
Den nächsten Tag, 1. Jänner 1884, wurde folgender Status
praesens notirt:
(8)
426 Wick.
Der Mann ist von kleiner Statur, sonst kräftiger Körper-
beschaffenheit, gut entwickelter Musculatnr and Emäbrong. Das
Gesicht im Ganzen blass, nnr die Wangen an umschriebenen
Stellen geröthet, die Ohrmuscheln intensiv roth und
höher temperirt; die Lidbindehaut beiderseits geröthet,
Pupillen beiderseits gleich weit, auf Beschattung wenig reagirend,
nicht verengt; dabei bedeutende Lichtscheu. Er klagt über
drückenden Kopfschmerz am Vorderkopf, am meisten in
der Stimgegend auf beiden Seiten, ausserdem besteht Brech-
neigung; die Zunge etwas weissUch belegt. Die Domfortsätze
der ersten 4 Brustwirbel sind druckempfindlich, ebenso ist ein
tiefer Druck hinter dem Unterkieferwinkel schmerzhaft. Die
Herzdämpfung beginnt am linken Stemalrand und in der Para-
Sternallinie an der 4. Rippe und reicht fast 1)is zur Papillarlinie.
Die Leberdämpfung beginnt am Stemalrand an der 5. Rippe, in
der Papillarlinie, am unteren Rand der 6. und reicht bis zum
Rippenbogen. Die Milzdämpfnng beginnt in der Axillarlinie am
unteren Rand der 9. Rippe, erreicht nicht den Rippenbogen.
Herzstoss weder tastbar noch sichtbar. Mitral- und Aortentöne
rein, zweiter Pulmonalton gespalten. Unterleib eingezogen, nicht
schmerzhaft, mit Ausnahme der Magengegend gegen stärkeren
Druck. Hautreflexe vorhanden, Patellarreflexe beider-
seits fehlend. Puls 64, Temperatur in der Achselhöhle 36*6,
Hammenge von gestern Nachmittag bis heute Früh 300C!cm.,
spec. Gew. 1*026, Farbe lichtgelb. Hat seit gestem Alles erbrochen,
Aufsetzen vermehrt den Kopfschmerz und die Brechneigung.
4 Uhr V. P. 54, T. 36-7, hat seit Früh nicht urinirt.
2. Jänner, mane VH. Eri(fikheitstag.
P. 50, T. 36*6. In der Nacht kein Schlaf, allgemeine
Mattigkeit, um die Brost in der Gegend des Rippenbogens ein
Geftlhl der Spannung, welches ihn zwingt, die Lage öft;ers zu
wechseln. Hammenge über Nacht 420 Ccm., spec. Gew. 1-032.
4 Uhr, P. 50, T. 37. Hat sein Getränk theilweise er-
brochen, sonst nichts zu sich genommen, Durst brennend, Ge-
schmack schlecht, gibt an, dass es ihm im Mund stinke. Kopf-
schmerz stärker, das Gesicht Mass, nnr die Ohrmuschel dunkel
geröthet.
(4)
Casnistischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 427
Erweist sich an den Fnsssohlen ausserordentlich kitzlich,
bei leiser Berlihrnng werden die Füsse raschestens zurückgezogen.
Gibt an, manchmal in beiden Armen eigenthümUche Stösse, wie
elektrische Znknngen zu bekommen. Etwas später Abends tritt
Erbrechen einer grösseren Menge einer schleimigen, sänerlich
riechenden, mit kleinen Mengen grünlicher Galle vermengter
Flüssigkeiten ein. Lackmuspapier wird davon ziegelroth gefärbt.
Ueber Tag kein Urin. Zur Ableitung wurden beide Unterschenkel
und Fttsse in P r i e s s n i t z-Umschläge eingehüllt.
3. Jänner, mane (Vni.), P. 52, T. 36-5.
In der Nacht Nachlass der Kopfschmerzen und kurzer
Schlaf. Gegen Früh Zunahme der Kopfschmerzen, der Lichtscheu.
Trotz guter Umhüllung sind die Füsse unter dem Umschlage
kalt. Hammenge von gestern Abends her 380 Gem., spec. Gew.
r036, bei Salpetersaurezusatz fallt schon in einer Minute salpeter-
saurer Harnstoff in der violett werdenden Flüssigkeit heraus. Ueber
Tag Erbrechen, auf eine Irrigation geringer Stuhlgang. 4 Uhr
V. P. 50, T. 36-5.
7 Uhr V. Ohne besondere Ursache Verschlimmerung des
Zustandes, so dass der Inspectionsarzt geholt vmrde. Patient er-
kennt denselben nicht, bringt auf Anrufen nur unverständliche
Worte heraus, das Athmen wird stertorös, P. 50, fadenförmig,
das Gesicht ganz blass, die Extremitäten kalt. Ist am Stamm so
empfindlich , dass er auf Berührung convulsivische Bewegungen
macht. Wird hierauf frottirt und eingepackt, was ihn zum lauten
Schreien bringt.
11 Uhr V. hat inzwischen, wie der Wärter atissagt, phan-
tasirt. Die Extremitäten kalt, das Athmen aussetzend.
12 Uhr V. P. 42, noch sehr schwach jedoch deutlicher wie
früher zu fühlen, Hände und Füsse noch kalt, der Stamm bereits
warm; Sensorium noch etwas benommen, spricht etwas wirr
und abgebrochen, manches Wort ganz unverständlich, sucht
sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, da er nach
einer späteren Angabe eine hochgradige Spannung um den Brust-
korb fühlte.
3 Uhr Morgens : Das Bewusstsein vollständig zurückgekehrt,
Extremitäten und Stamm warm, gibt an, dass er früher sprechen
(ö)
428 Wick.
wollte, aber nicht das richtige Wort fand, dass er in beiden
Armen heftige Stösse verspürt habe.
4. Jänner (IX.), m. P. 42, etwas kräftiger, T. 36*6. Hatte
gestern den Tag ttber keinen Urin entleert, erst heute Früh
420 Ccm., spec. Gew. 1*038, bei Zusatz von Salpetersäure dieselbe
Erscheinung wie gestern. Ist von Gesicht noch blass, die Ohr-
muscheln geröthet, aber nicht höher temperirt, die Pupillen
massig erweitert. Gegenwärtig kein Kopfschmerz, die Znnge
feucht ohne Belag. Die Brustdornfortsätze weniger druckempfind-
lich, die Empfindlichkeit am Stamm geringer, an den Fusssohlen
noch gesteigert. Herztöne rein begrenzt, laut.
4 Uhr V. P. 42, T. 36-5. Kein Kopfschmerz, Sensorium
frei, kann bereits Gedanken festhalten, hat Nachmittag eine
Stunde gut geschlafen, verträgt auch das Licht etwas. Noch viel
Durst, ein brennendes Gefühl im Unterleib, dargereichte Milch
wurde erbrochen.
5. Jänner (X.), P. 42, noch sehr schwach, T. 36*6, Ham-
menge seit gestern 400 Ccm., spec. Gew. 1*033, massenhaft Sediment
von faamsauren Salzen ; auf Salpetersänrezusatz entsteht nur mehr
ein violetter King, färbt sich aber die ganze Flüssigkeit nicht mehr.
Hat vor Mitternacht einigemal erbrochen, so dass gegenwärtig
ein ganzes Lavoir voll ist, theils Wasser, theils Schleim, an der
Oberfläche grünlich gefärbte geronnene Milchreste, Geruch stark
säuerlich, etwas ranzig, Reaction stark sauer. Hat nach dem
Erbrechen einige Stunden geschlafen, fröstelte darauf etwas und
bekam neuerdings Kopfschmerz. Beim Aufsetzen tritt auch noch
Brechneigung ein, Appetit noch keiner vorhanden, viel Durst,
Körperoberfläche warm, auch die Fusssohlen nicht mehr tiber-
empfindlich, erheischt wärmere Bedeckung.
4 Uhr V. P. 45, deutlich tastbar, A.-T. 36*4 R(ectum)-
T. 37*4, verlangt warme Milch, da er glaubt, diese jetzt besser
zu vertragen. Seit Früh kein Urin.
6. Jänner (XI.), P, 46, noch schwach, A.-T. 36-1, R.-T. 36*9,
Hammenge, erst nach Mitternacht entleert, 440 Ccm., spec. Grew.
1031, voll von Uraten sedimentirt, hat in der Nacht 3 — 4 Sunden
geschlafen, nach Mittemacht wieder erbrochen. Das Erbrochene
von gleicher Beschaffenheit. Kopf nicht ganz frei von unange-
(6)
Casnifltischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 429
nehmer Empfindung, jedoch nieht in derselben Art wie früher
ergriffen. Extremitäten warm, die Füsse beginnen zu jucken.
4 Uhr V. P. 44, A..T. 363, R.-T. 37-25, hat Nachmittag
noch einmal erbrochen; seit Früh kein Urin. Die Umschläge an
den Füssen entfernt.
7. Jänner (XII.), P. 68, A.-T. 366, R.-T. 374, Hammenge
seit gestern Früh 720 Gem., spec. Gew. 1*031, hatte drei Milch-
portionen vertragen, seit gestern Nachmittag nicht mehr erbrochen,
fast die ganze Nacht geschlafen. Kopf ganz frei von Schmerz,
Sensorium unbenommen, zeigt an den Fusssohlen noch etwas
Ueberempfindlichkeit. Die Fiisse jucken, Herztöne rein, der zweite
Pulmonarton zeigt nur eine Andeutung von Gespaltensein.
4 Uhr V. P. 52, T. 3635, kein Erbrechen, Wohlbefinden.
8. Jänner (XIII.). Haramenge seit gestern 460 Gem., spec. G^w.
1*029, nicht sedimentirt, jedoch zeigt sich auf Zusatz von Salzsäure
ein krystallinischer Niederschlag. Hat in der Nacht geschlafen, ist
gegenwärtig frei von Kopfschmerz und Erbrechen, das Gesicht
von normaler Farbe, der zweite Pnlmonalton undeutlich gespalten,
der zweite Aortenton verstärkt, über beiden Lungen das Athmen
scharf vesiculär, keine Rasselgeräusche. Appetit gut, die Fass-
sohlen lassen sich anfassen, sogar kitzeln.
4 Uhr V. P. 64, T. 368, Abends einmal Erbrechen.
9. Jänner (XIV.), P. 64, A.-T. 36-3, hat in der Nacht
weniger geschlafen, der Kopf nicht so rein wie gestern, kein
Erbrechen.
4 Uhr V. P. 68, A.-T. 371, R.-T. 3767, dreimal spontaner
Stuhlabgang, versuchte in der Früh aufzustehen, bekam dabei
noch Schwindel.
10. Jänner (XV.), A.-T. 36*5, Wohlbefinden, kann bereits
stehen ohne Schwindel.
4 Uhr V. P. 60, A.-T. 37*42, R.-T. 37*95, seit 8 Uhr
Früh kein Urin.
11. Jänner (XVI.), P. 64, etwas unregelmässig in der Fre-
quenz. A.-T. 36*86, R.-T. 37*6, Hammenge seit gestern Früh
960 Gem., spec. Gew. 1*022, ammoniakalisch riechend, Reaction
alkalisch. Hatte fast die ganze Nacht hindurch geschwitzt, wenig
und unter schweren Träumen geschlafen.
(7)
430 Wick.
4 Uhr V. A.-T. 371.
12. Jänner (XVII.), P. 72, A.-T. 37-05, R.-T. 377, Ham-
menge 1250, spec. Gew. 1021, Reaction alkalisch, Wohlbefinden,
kann sich mit Lesen beschäftigen.
4 Uhr V. P. 73, A.-T. 37-62, B.-T. 38-12.
13. Jänner (XVm.), P. 80, A.-T. 3662. Harn seit gestern
Früh 1540 Ccm., spec. Gew. 1*020, Wohlbefinden. Die Milz-
dämpfnng beginnt in der Axillarlinie an der 8. Rippe, in der
vorderen Achselfaltenlinie an der 7. Rippe, in der Papillarlinie
ebenfalls an der 7. Rippe, reicht bis nahe zum Bäckenbogen, unter
demselben nicht tastbar. Herzstoss tastbar und sichtbar im dritten
nnd vierten Zwischenrippenranm nahe dem Stemalrand, zweiter
Pnlmonalton nndeutlieh gespalten, wird bei längerer Ausathmnng
geränschartig.
14. Jänner, P. 79, A.-T. 37-00, R.-T. 3760, Hammenge
seit gestern Früh 1750 Ccm., spec. Gew. 1'017.
4 Uhr V. P. 92, A.-T. 37-7.
15. Jänner, P.-T. 36*75, Hammenge seit gestem 1400 Ccm.
4 Uhr V. P. 80, A.-T. 373.
16. Jänner, P. 84, A.-T. 371, R.-T. 375, Hammenge 1400,
spec. Gew. 1*022.
17. Jänner, P. 89, A.-T. 37, Hammenge 2200 Ccm., spec.
Gew. 1-015, hat ansser seiner Eostportion nnd etwas Wasser nichts
zu sich genommen. Die Dämpfung beginnt rechts in der Papillar-
linie am unteren Rand der 7. Rippe, Athmnngsgeräusche normal.
18. Jänner, P. 88, A.-T. 369, R.-T. 37-5, Hammenge 1300.
4 Uhr V. P, 84, T. 37-1.
19. Jänner (XXIV.), P. 88, A.-T. 369, R.-T. 3735. St i.
Die Patellarreflexe fehlen noch. Wird auf sein Verlangen,
da er sich ganz wohl ftihlt, reconvalescirt.
Im Jänner 1885 erfolgte der VI. Anfall, welcher mit be-
deutendem Kopfschmerz und heftigem Erbrechen, mit deutlich aus-
geprägten vasomotorischen Stömngen einherging und gleichfalls
einen Insult von stärkerer Gehirnreizung aufwies. Besonders lange
dauerte die nachträgliche Erhöhung der Pulsfrequenz und der
Achseltemperatur.
(8)
Casnistischer Beitrag znr Lehre von der Epilepsie. 431
Im Juli 1885 führte ihn der VII. Anfall in die Spitalsbehand-
lung. In seinem Verlaufe unterschied er sich jedoch von allen
übrigen durch die kurze Dauer des ersten Stadiums, das Aufhören
des überhaupt milderen Kopfschmerzes und Erbrechens schon am
7. Krankheitstag und darauf sofort eintretendes Wohlbefinden,
welches auch seine baldige Entlassung zur Folge hatte. Die yaso-
motorischen Erscheinungen waren gering ausgesprochen und eben-
sowenig kamen motorische oder sensorielle Erscheinungen zur
Beobachtung.
Im Mai 1886 erfolgte der Vin. Anfall unter denselben Er-
scheinungen, jedoch milderen Charakters, aber dadurch abweichend,
dass ein epileptiformer Insult erst am 13. Krankheitstag nach
bereits vorausgegangener Hebung des Pulses und allgemeiner
Besserung eintrat.
Der IX. Anfall kam im October 1886 zur Beobachtung;
unterschied sich in nichts von den früheren, als dass das Er-
brechen mehr, der Kopfschmerz und die Verminderung der Puls-
frequenz weniger hervortrat unter geringen vasomotorischen Er-
scheinungen. Gemeinsam hatte er eine vorübergehende sensorielle
Störung.
In der Zwischenzeit zwischen diesen und dem folgenden Anfall,
einmal untersucht, ergab sich folgender Befund: Dämpfung über
der linken Lungenspitze, rauhes Athmen mit spärlichen trockenen
Rasselgeräuschen daselbst, die übrigen Lungenpartien normal.
Zeitweise rauher bellender Husten mit geringem Auswurf Die
Herzdämpfung beginnt in der Parastemallinie und am linken
Stemalrand am unteren Rande der 4. Rippe, hält sich plessimeter-
breit innerhalb der Papillarlinie. Leberdämpfung am unteren Rande
der 6. Rippe in der Papillarlinie, Milzdämpfung in der Axillar-
linie unter der Rippe. Herztöne rein. 2. Pulmonalton rein, aber
verstärkt; Gesicht und Ohrmuschel von normaler Farbe. Leichte
Struma; Patellarreflexe in normaler Weise vorhanden; Domfort-
sätze nicht druckempfindlich. Im Ganzen Wohlbefinden und an-
geblich besseres als jemals früher.
X. Anfall. Derselbe begann am 17. Februar 1887 mit Kopf-
schmerz von geringer Intensität ohne Störung des Appetits und
ohne Erbrechen, welches erst nach einigen Tagen hinzutrat, um
Med. Jahrbücher. 1887. 35 (9)
432 Wick.
sich dann jeden 3. bis 4. Tag zu wiederholen. Die Furcht, dass
mehr entstehen könnte, wenn er sich nicht entsprechend halten
könnte, fUhrte ihn in^s Spital.
28. Februar (XII.), P. 48, schwach, Arterie klein, leicht
unterdriickbar. A.-T. 37 '0. Kopfschmerz über den ganzen Vorder-
kopf, jedoch gering, am meisten noch über den Augen. Keine
Lichtscheu, Bindehäute nicht geröthet; Färbung des Gesichtes
normal, die Ohrmuscheln etwas röther wie gewöhnlich und wärmer
anzufühlen, wenn er einige Zeit darauf gelegen ist. Befund wie
oben, mit der Abänderung, dass am linken Sternalrand eine
schwache Dämpfung in Form eines schmalen Zapfens bis in den
2. Intercostalraum reicht. Herzstoss sichtbar und tastbar innerhalb
der Papille im 5. Intercostalraum. Herztöne rein, nur der zweite
Pulmonalton rauher. Milzdämpfung in der Axillarlinie am unteren
Bande der 7. Rippe, Leberdämpfung in der Papillarlinie an der 6.
Die Wirbelsäule, entsprechend der Spitze der Schulterblätter, an
zwei Brustdornen druckempfindlich. Weder am Stamm noch im
Gesichte Ueberempfindlichkeit; die Patellarreflexe fehlend, nach-
dem er sie selbst vor zwei Tagen noch gefunden haben will.
Appetit, Stuhlgang in Ordnung, Harn von normaler Färbung und
Menge, Allgemeinbefinden nicht gestört. 4 Uhr v. P. 44, A.-T. 37 0.
1. März (Xm.), 8 Uhr m., P. 44, R.-T. 37*20, hat in der
Nacht wegen Unruhe im Zimmer und Aufregung hierüber nicht
geschlafen, gegen Früh einmal erbrochen ; gegenwärtig bei ruhiger
Lage kein Kopfschmerz, jedoch bringt ihn Aufsetzen sofort hervor.
Geringe Lichtscheu. Erweist sich auf Brust und Sohlen empfindlicher,
wie gewöhnlich. 4 Uhr v. P. 48, A.-T. 3720, kein Kopfschmerz
oder Erbrechen. Um 8 Uhr v. trat plötzlich ohne Veranlassung
ein Zustand ein, welcher ihn derart beängstigte, dass er den
Inspectionsarzt rufen lässt : er konnte nämlich mit einem Male den
rechten Fuss und Arm nur mit Mühe von der Unterlage abheben ;
voraus ging ein Gefühl von Taubheit an der Aussenfläche des
rechten Oberschenkels, welches hinauf über den Unterleib und
die Seite der Brust bis zjam Arm zog. Ausser der langsameren
Hebung von Fuss und Arm wurde nun constatirt, dass er die
Zungenspitze wohl nach links, aber nicht nach rechts bewegen
konnte; die Sprache war nicht gestört. Aufdrücken, Zwicken und
(10)
Casuistischer Beitrag zur Lelire von der Epilepsie. 433
Kitzeln erwies sich rechts empfindlicher als links, auch schmerzte
ihn das Frottiren, welches er sich sogleich selbst vom Wärter
machen Hess. Die Papillen waren dabei nicht erweitert, reagirten
gnt. Die Anfregong über diesen Zustand dauerte bis gegen Früh,
wo auch zweimal Erbrechen und später erst kurzer Schlaf eintrat.
2. März (XIV.), 8 Uhr m., P. 50, R.-T. 372, kein Kopf-
schmerz oder Erbrechen, Gesichtsfärbung normal, Ohren weniger
geröthet. Ist am ganzen Körper etwas empfindlicher gegen Beize,
besonders gegen faradischen Pinsel, welcher ihm schon bei 9 Cm.
Rollenabstand eines Indnctionsapparates von 6500 Windongen
nnerträglich ist und am unerträglichsten an der Stirne.
4 Uhr V. P. 56, R.-T. 37 2, ist ausser Bette und befindet
eich wohl; die rechte Ohrmuschel normal, die linke noch röther.
Appetit noch mangelnd, Wirbelsäule nicht mehr druckempfindlich;
Patellarreflexe in schwachem Grade bereits vorhanden.
8 Uhr V. Bekam auf einen kleinen Aerger Kopfschmerz,
Brechneigung und erbrach auch zweimal. Puls 40^ ; hatte hierauf
eine unruhige Nacht, in welcher er nach Aussage des Wärters
Selbstgespräche führte; er selbst sagte später ans, dass er einen
bohrenden Schmers im Kopfe hatte, dass er sich über seinen Auf-
enthalt nicht zurecht fand, indem er glaubte, bei der Arbeit zu sein.
3. März (XV.), P. 48, A.-T. 36-55, R.-T. 37-40. Gesicht
im Ganzen blässer wie gestern. Die Ohrmuschel noch geröthet,
die linke dunkelroth und wärmer.
Lidbindehaut etwas mehr geröthet, auch eine Partie unter
der Nase und unter dem linken Auge, Kopfschmerz vorhanden,
aber nicht intensiv, bleibt durch Druck auf die Carotiden unbe-
einflusst. Der Athem leicht gestört, manchmal rascher, dann wieder
langsamer, dabei etwas Schmerz von der linken Wirbelsäule
gegen die Hypochondrien ausstrahlend. 4.-8. Brustdorn druck-
empfindlich, sonst keine Ueberempfindlichkeit, fühlt sich ab-
wechselnd wärmer und kälter. 24stündige Hammenge 1000 Gem.,
spec. Gew. 1-028 Ccm., Gl. 056% == 5*6 Grm.; wenig Harnsäure,
keine Indicanreaction.
4 Uhr V. P. 46, A.-T. 37 0, R.-T. 375, Kopfschmerz sehr
massig, kein Erbrechen, hat wegen Appetitlosigkeit nichts gegessen,
Patellarreflexe fehlend.
35* (")
434 Wick.
4. März (XVL), P. 42, A.-T. 36 2, R-T. 3715, übler
Geschmack, hat den genossenen Kaffee erbrochen ; Gesicht weniger
geröthet, Ohrmuscheln gleich roth. Kopfschmerz in Bnhelage
massig, Drack auf die eine oder andere Carotis oder auf beide
erleichtert, behebt ihn aber nicht. 24stündige Harnmenge 470,
spec. Gew. 1*028, lässt auf CIH mehr Harnsäure, auf Salpeter-
säure mehr Harnstoff herauskrystallisiren. Cl. = 0*4® o keine
Indicanreaction. 4 Uhr v. P. 43, A.-T. 36-6, R.-T. 37-6, imr
Allgemeinen besser, kein Kopfschmerz, etwas Appetit.
5. März (XVIL), P. 56, A.-T. 36-8, B.-T. 37-6, weder Kopf-
schmerz noch Erbrechen. Gesichtsfarbe normal, Ohrmuscheln noch
etwas stärker geröthet.
248ttlndige Hammenge 500 , spec. Gew. 1*035, mit starkem
Sediment von Uraten, kein Indican. Cl. O'l^/o = 0'5 Grm.
4 Uhr V. P. 48, A.-T. 37-15, R-T. 3770.
6. März (XVIIL), P. 54, A.-T. 369, R.-T. 3755. Wohlbe-
finden, jedoch die Reflexe noch nicht wiedergekehrt, die Ohr-
muscheln noch röther. Hammenge 800 , spec. Gew. 1*030 , ohne
Sediment. 4 Uhr w. P. 72, A.-T. 372, R.-T. 37*7.
7. März (XIX.), P. 66, A.-T. 36-5, R.-T. 37-5. Wohlbefinden.
8. März (XX.), P. 68, A.-T. 37, R.-T, 37*6. Wohlbefinden.
Patellarreflex links in schwachem Grade zurückgekehrt. Der zweite
Pulmonalton sehr rauh, verbreitert, öfters deutlich gespalten, auch
der erste manchmal geräuschartig. Seit acht Tagen noch kein
Stuhl, erfolgt auf Seidlitzpulver. Harn 1800 Ccm., spec. Gew. I'OIB,
Reaction alkalisch. 4 Uhr w. P. 102, A.-T. 37-2.
9. März (XXL), P. 72, A.-T. 367, R.-T. 377. Wohl-
befinden, kann aber noch nicht anhaltend lesen. Reflexe beider-
seits deutlich zurückgekehrt. Beim Gehen schmerzen die Waden
etwas und wird der Fuss steif. 4 Uhr w. P. 88, A.-T. 37" 15,
R.-T. 37-95.
10. März (XXII.), P. 79, A.-T. 37-27, R.-T. 378. Hat gegen
Früh am Kopf und in den Achselhöhlen geschwitzt, darauf Kopf
leichter. Harnmenge 1800, spec. Gew. 1-018, Cl. 0-55 Vo = 9-0,
Körpergewicht 53V2 Kgr., 4 Uhr v. P. 100, A.-T. 37*8.
11. März (XXHI.), P. 80, A.-T. 37-1, R.-T.37'7. Hammenge
2650, spec. Gew. 1-014, feste Stoffe 85, C1.0-47«/o = 13-4 Grm,,
(12)
Casuistisdier Beitrag zur Lelire von der Epilepsie. 435
Färbung im Ganzen normal, fühlt sich im Ganzen noch inmier
schwächer. 4 Uhr v. Puls 100, A.-T. 37 5, R.-T. 387.
12. März (XXIVO, P. 84, A.-T. 368, R.-T. 377. Hammenge
2900, spec. Gew. 1-014, feste StoflFe 94-6, Cl. 0-44ö/o = 12-7 Grm.
Milzdämpftmg am unteren Bande der 7., Leberdämpfung am unteren
Bande der 6. Papillarlinie. Ist nicht mehr überempfindlich,
Terträgt überall den faradischen Pinsel vom obigen Bollenstand
^t. 4 Uhr V. Puls 90, A.-T. 375, B..T. 38-3.
13. März (XXV.), P. 79, A.-T. 370, B.-T. 377, Patellar-
reflexe fehlend. Leberdämpfang über der 6. Bippe. Pulmonaltöne
fast rein. Aussehen normal, Wohlbefinden. Harnmenge 2270, spec.
Gew. 1-015, feste StoflFe 81, Cl. 033% = 7'38 Grm.
14. März (XXVI.), P. 84, A.-T. 370, B.-T. 37-4. Hammenge
2600, spec. Gew. 1-014, feste StoflFe 84, Cl. OU^U = 11*4 Grm.
4 Uhr V. P. 100, A..T. 374, B.-T. 38.
15. März (XXVn.), P. 84, A.-T. 371, B.-T. 37-8. Ham-
menge 1530, sp. Gew. 1-017, Cl. 0-47 = 7-3 Grm. Beflexe noch
fehlend. 4 Uhr v. P. 96, A.-T. 37-4, B.-T. 380.
16. März (XXVm.), P. 84, A.-T. 37 10, B.-T. 380, Ham-
menge 2600, spec. Gew. 1014.
4 Uhr V. P. 94, A.-T. 3730.
17. März, P. 90, A.-T. 372, B.-T. 381.
4 Uhr V. P. 100, A.-T. 375, B.-T. 382.
18. März, P. 90, A.-T. 37, B.-T. 381.
4 Uhr V. P. 100, A.-T. 37 3.
19. März (XXXI.), P. 92, A-T. 37, B.-T. 381. Harnmenge
1800, spec. Gew. 1-015, Körpergewicht 54 Va Kgr.
20. März P. 100, A.-T. 375, B.-T. 382, Sehnenreflexe
beiderseits deutlich vorhanden.
7. April (L.), 8 Uhr m. P. 90, A.-T. 37*10, B.-T. 37-70,
Hammenge 1800 Ccm. , spec. Gew. 1-014, feste StoflFe 58,
Cl. 0-33®/o = 5*6 Grm. Milzdämpfung in der Axillarlinie am
unteren Band der 9. Bippe, Leberdämpfung in der Papillarlinie
am unteren Band der 6. Bippe. Herzdämpfung am linken Sternal-
rand an der 3. Bippe, in der Mittellinie des Bmstblattes unter
den Ansätzen der 4. Bippe, in der Parastemallinie am unteren Band
der 4. Bippe. Herztöne rein, 2. Pulmonalton sehr rauh , verbreitert.
(18)
436 Wick.
BeAind an der Lunge wie oben , im eitrigen Spntnm keine Tnber-
kelbacillen. Gesichtsfärbung normal. Patellarreflexe Torhanden.
Körpergewicht 56 Kgr.
Was die in diesen Anfallen angewendete Therapie anlangt, so-
erwiesen sich als das Beste vollkommene geistige nnd physische
Rahe, etwas Morphium nnd kalte Umschläge, Bromkalinm war
unverlässlich, Chinin von keinem Nutzen. Weder Faradisation noch
Galvanisation war im Stande, den Kopfschmerz zu mildem.
Um nun zu einer tibersichtlichen Darstellung und richtigen
Beurtheilung des geschilderten Zustandes zu gelangen, versuche
ich die einzelnen Symptome festzustellen und auf ihre Bedeutung^
zu prüfen, wodurch dann der Verlauf auch jener Anfälle, welche
nicht ausführlicher beschrieben wurden, bestimmter hervortreten
wird. Um hierin vergleichen zu können, ist es nothwendig, vom
Beginn des Anfalles auszugehen, als welchen ich jenen Tag nehme,
an welchem der Kopfschmerz in der dem Kranken schon bekanntem
Weise einsetzte.
I. PulB. (TabeUe 2.)
Geht man von der normalen Pulsfrequenz 70 aus, so ersieht
man aus den Curven, dass der Puls anfänglich sich allmälig^
immer mehr verlangsamt, bis er auf einer gewissen Tiefe ange-
langt ist, dass er von da an rasch ansteigt und einige Zeit grössere
oder kleinere Schwankungen um die Mittellinie und endlich eine
zweite weniger bedeutende Verlangsamung erfährt, bis er definitiv
über die Mittellinie ansteigt und sich dauernd eine gewisse Grösse
über derselben erhält.
Der Vergleich der Curven ergibt, dass es sich hier nicht
um einen Zufall handelt, sondern dass die Pulsfrequenz in ganz
bestimmten mit dem Wesen der Krankheit zusammenhängenden
Perioden abläuft und können wir die erste Periode, die der Puls-
verlangsamung, etwa auf 11 — 12 Tage ansetzen, die 2. Periode
bis zu dem Tage, an welchem der Pols sich dauernd hebt, d. i.
bis zum 18. — 19., also eine Periode von 7—8 Tagen. In dieser
(14)
Casmstischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 437
Periode lässt sich weitere unterscheiden eine Hebung durch 2 bis
3 Tage und eine Senkung durch 3 — 4 Tage.
Die dritte Periode, die der Pulsbeschleunignng, konnte nicht
bis zur Rückkehr zur Norm verfolgt werden, weil der Kranke
früher reconvalescirt wurde, ist jedoch mindestens auf 3 Wochen
anzusetzen.
Von diesem Schema weichen der VII. und X. Anfall ab,
der erstere dadurch; dass die Hebung bereits am 8. Tag erfolgte,
der letztere dadurch, dass sie sich erst am 14. Tag markirte.
Es stimmt mit dem früheren ttberein, dass darauf eine neuerliche
Senkung und erst am 18. Tag die definitive Hebung erfolgte,
wodurch sich dieses Stück der Pulscurve als der 2. Periode an-
gehörig erweist.
Ob der Puls nun gleich vom ersten Tag an langsamer wurde,
ist nicht zu beweisen, dürfte aber als wahrscheinlich angenommen
werden können. Auf dieses Symptom aufmerksam gemacht, fand
er es in späteren Anfällen sogleich im Beginne.
Die Pulsverlangsamung betrag durchschnittlich 15 bis 20
Schläge, die der Erhöhung in der 3. Periode ebenso viel über
der Norm.
Was nun die Qualität des Pulses betrifft, so war er während
der Verlangsamung schwach, manchmal fadenförmig, in der dritten
Periode voll und weich, sehr wechselnd in Bezug auf Spannung
der Arterie in der zweiten. Arhythmie war nur einmal im Beginne
nachweisbar.
Während der 1. Periode war ich vergebens bemüht, eine
bessere sphygmographische Cnrve herzustellen, da einerseits der
Puls zu klein, andererseits mir nur der ursprüngliche Marey'sche
Sphygmograph zu Gebote stand; ich setze sie jedoch hierher,
weil sie in zwei verschiedenen Anfällen doch den gleichen Charakter
aufweist, und den Gegensatz zur 3. Curve ausdrückt, welche während
der 3. Periode aufgenommen wurde.
Was die Erscheinungen seitens des Herzens anlangt, be-
merke ich , dass die Percussion bis auf den X. Anfall einen normalen
Dämpftmgsbezirk aufwies. Der Herzstoss wurde in der 1 . Periode
stets als sehr schwach oder als nicht sichtbar und nicht tastbar
notirt ; dagegen tritt er in der 2. Periode hervor und wird in der
(16)
433
Wick.
3. Periode über zwei Intercostalräamen sichtbar, und nahe dem
Sternalrand tastbar.
Die Töne an der Herzspitze waren rein begrenzt, nur manch-
mal der 2. Ton rauh, fast gespalten; die Töne an der Aorta
waren stets normal, ebenso der 1. Pnlmonalton, dagegen der
2. sehr rauh, oft sehr deutlich gespalten, mitunter geräuschartig.
In der Carotis 2 reine Töne.
Der 2. Pulmonalton erweist sich auch in der anfallsfreien
Zeit etwas verstärkt, verbreitert und rauh, manchmal mit einer
Andeutung von Spaltung. Ebenso ist der Puls ausser den Anfallen
leicht erregbar, rasch wechselnd, seine Frequenz 70—80.
Vm. 1. Periode 10. Tag.
X. 1. Periode. 17. Tag.
VI. 8. Periode.
II. Die Temperatur. (Tabelle 3 und 4.)
Bestimmt lassen sich an diesen Curven 3 Perioden nach-
weisen: Die 1. Periode die des Fallens und Tiefstandes, die
2. Periode die des rascheren oder allmäligeren Ansteigens, und
die 3. die des Hochstandes, wodurch längere Zeit die als Norm
genommene Linie für 370^ nach unten nicht überschritten, und
fast Fiebertemperaturen erreicht wurden. Die 1. Periode dauerte
bis zum 13. — 14. Tag, unbestimmt, ob sie gleich von Beginn
der Anfälle an bestand ; die Periode des Steigens ist kürzer, 3 bis
4 Tage, die 3. Periode beginnt ungefähr am 18. Erankheitstag
und dauert etwa bis zum 28. Der YIII. und X. Anfall zeigen in
der 2. Periode dagegen ein der Pulsfrequenz ähnliches Verhalten,
nämlich Steigung und neuerliche Senkung.
Eine andere Eigenthümlichkeit im Verhalten der Temperatur
war der Wechsel in der Differenz der Axillar- und Rectumtem-
peratur. Aus der Prüfung dieses Verhältnisses bei Gelegenheit
(16)
Casuistischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie, 439
des V. Anfalles und gelegentlichen Stichproben bei anderen
während des 10. — 12. Tages ergaben sich Differenzen von 0-8— l-O^,
vom 12. — 19. Differenzen von 0-53— 0'65® und erst vom 20. an
solche von 0*4— 0*6 ^
Ergänze ich die mitunter ausgebliebenen Messungen im
Mastdarm, indem ich annehme, dass sich am selben Tag und in
derselben Periode der Unterschied ziemlich gleich geblieben ist,
so werden sich die Curven für A.-T. und R.-T. etwa so gestalten,
wie es in der Tabelle 4 ausgeführt ist. Wie man daraus ersieht,
spiegeln sich darin wieder die oben charakterisirten Perioden,
mehr übereinstimmend mit dem Verhalten des Pulses als mit dem
der Temperatur; also bis zum 12. Tag grosse Differenzen, der
Durchschnitt unter der Norm, dann Annäherung bis zum 19. Tag,
wo der Puls sich dauernd hebt und endlich nahezu normale
Differenzen, während der 3. Periode, der Durchschnitt über
der Norm.
Der X. Anfall weicht hiervon ab, indem die Differenzen bis
in die 3. Periode hinein ungewöhnlich hoch blieben, erst am
43. Tag auf 0*60^ sanken, und gegenwärtig, d. h. am 52. Tag,
noch auf dieser Höhe sich halten.
in. Btönmgen in den Verdaanngsorganen.
Das Erbrechen (Tabelle 5) war theils sogleich im Beginne,
theils erst am 2. — 3. Tage oder noch später hinzugetreten, dauerte
in den meisten Anfallen ununterbrochen bis zum 11. Tag; nach-
dem es am 8. seine grösste Intensität erreicht hatte, verschwand
es am 12. Tag entweder ganz oder wurde doch gemindert und
dauerte dann in diesem Falle bis zum 17. — 18. Krankheitstag,
Abweichend hiervon war der X. Anfall.
Das Erbrochene bestand in den Ingestis, meist reines Wasser
oder Milch, in sehr viel Schleim, der mitunter grünlich gefärbt
war. Die Keaction war immer sehr stark sauer, der Geruch
säuerlich, ranzig. Die Menge richtete sich nach der Menge der
eingeführten Flüssigkeiten, schien jedoch diese manchmal zu über-
treffen und erreichte einmal die Quantität von 1300 Ccm. Es ging
meist leicht von statten und trat häufig ein nach Steigerung des
Kopfschmerzes und irgend welchen Bewegungen.
(17)
440 Wick.
Eine Untersnchung des Erbrocfaenen wurde erst bei Gelegen-
heit des X. Anfalles gemacht und ergab Folgendes:
Das Erbrechen erfolgte am 14. Erankheitstag Abends, die
Menge betrug 500 Ccm , war von brauner Farbe, des kurz vorher
genossenen Kaffees wegen, und enthielt von Mittag her unverdaute
Reis- und Nudelstiickchen. Blaues Lakmuspapier wurde ziegelroth
geßlrbt, auf *mit Congoroth gefärbtem Papier entstand ein blauer
Fleck. Die Acidität betrug 0-25%. Tropäolin , Methylviolett und
das U f f e 1 m a n n'sche Reagens ergaben keine bestimmte Reaction,
dagegen war Biuretreaction vorhanden. Der Gehalt von Chlor
betrug 0-47 Vo-
Das Erbrochene vom 16. Erankheitstag reagirte weniger
sauer, gab keine Reaction auf freie Säure, jedoch auf Peptone,
enthielt 0'17Vo Chlor.
Der Unterleib war meist mehr weniger eingezogen, in
der Magengrube öfters gegen tieferen Druck empfindlich. Die
Zunge war meist weisslich, manchmal aber auch nicht belegt^
der Geschmack öfters ein sehr Ubier, nicht entschieden sauer.
Dabei bestand anhaltende Stuhlverstopfung, welche mitunter
Elystieren sowohl, wie innerlichen Mitteln, die erbrochen wurden,
widerstand, bis um den 14. Tag herum von selbst Stuhlgang ein-
trat. Der Appetit mangelte meist bis zum 12. Tag gänzlich; als
Getränk zog er reines kaltes Wasser allen anderen vor und nahm
es in manchen Anfällen, wo der Durst brennend war, in grossen
Mengen zu sich.
Nach dem 12. Erankheitstag vertrug er anfanglich nur wenig
Milch oder Eaffee, erst einige Tage später festere Speisen.
In Bezug auf Leber und Milz konnte eine Verschiebung der
oberen Dämpfungsgrenze beobachtet werden.
Im V. Anfall stand im Beginn, d. h. am 6. Erankheitstag,
die obere Lebergrenze am unteren Rand der 6. Rippe in der
Papillarlinie, die obere Milzgrenze in der Axillarlinie am unteren
Rand der 9. Rippe; am 16. war die obere Grenze der Milz an
der 8. Rippe in der Axillarlinie, am 19. stand die obere Leber-
grenze am unteren Rand der 5. Rippe in der Papillarlinie, die
Milz am unteren Rande der 7. Rippe in der Axillarlinie. In der
anfallsfreien Zeit war die Milzdämpfung in der Axillarlinie unter
(18)
Casaistischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 441
der 9. Rippe, die Leberdämpfung in der Papillarlinie unter der 6.
nachweisbar.
Im X. Anfall stand bereits am 14. Krankheitstag die Milz
nnter der 7. Rippe, die Leber unter der 5. Rippe.
Gegenwärtig, d. h. am 52. Tag, bestehen wieder normale
Verhältnisse.
IV. Breoheinungen von Seite der Lnnge.
Während des IV. Anfalles war sie ganz unbetheiligt, doch
folgte, nachdem er aus dem Spital schon entlassen war, ein Catarrh,
welcher noch bei Beginn des V. Anfalles nachweisbar war, jedoch
sich gegen Ende desselben verlor. Während des VI. Anfalles stellte
sich allmälig leichter Bronchialcatarrh ein, welcher noch lange
nach seiner Entlassung aus dem Spital anhielt und öfters mit
bellendem Husten verbunden war.
Der VII., Vin. und IX. Anfall verlief ohne Catarrh.
Die Respiration war meist ungestört, nur in den Anfällen,
welche mit bedeutendem Gürtelgefühl einhergingen, verlangsamt,
seufzend, lieber den X. Anfall siehe oben.
VL Hamsecretion und Stoffwechsel. (Tabelle 6.)
Die Harnmengen wurden in 4 Anfallen eingehender verfolgt,
wenn es auch nicht für jeden Tag möglich war, die 24stündige
Menge festzustellen, da öfters Harn bei Stuhlgängen verloren ging.
Die in der Tabelle gegebenen 4 Curven lassen mit Bestimmt-
heit wieder dieselben Perioden erkennen, wie sie oben beschrieben
wurden.
Die Hammenge nimmt ab, erreicht ' einen tiefsten Stand
etwa am 10. — 11. Krankheitstag, erhebt sich bereits am 12. und
überschreitet am 18. die zur Norm angenommene Linie von
1500 Gem., über welche sie dann die nächsten Tage mehr oder
weniger consequent erhöht blieb.
In zwei Anfällen war ihr höchster Funkt am 22. Tag.
Beigefügte kleine Tabellen 7 und 8 ergeben die Uebersicht
über das Resultat der quantitativen Untersuchung auf Harnstoff,
Chlor imd Phosphorsänre im Verlaufe des V. und VI. Anfalles,
(19) -
442
Wick.
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(20)
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Casnistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 443
Cönstatiren wir aus dieser Untersuchung vorerst folgendes:
Das Chlor nahm in beiden Anfällen vom 1. Beobachtungs-
tage an allmälig ab, besonders auflTällig vom 8. — 9. Tag, ver-
schwand im V. Anfall am 12. — 13. Tag gänzlich aus dem Harn
und wird im VI. Anfall zwischen den 10. und 14. Krankheits-
tag auf eine minimale Grösse reducirt, nimmt dann vom 15. Tag
an plötzlich zu und erreicht seine noimale Menge etwa am 20.
Der Harnstoff, nach der Liebig'schen Methode unter-
sucht, nimmt in beiden Anfällen bis zum 11. — 12. Tag allmälig
zu , schnellt an diesen Tagen plötzlich auf die doppelte Menge
des bisher Ausgeschiedenen hinauf, erhält sich aber noch bis
zum 23. Tag ungefähr auf einer in Anbetracht der aufge-
nommenen Nahrung ungewöhnlichen Höhe.
Berechnet man sich aus den Harnstoffmengen den Zerfall
von Körperöubstanz , so gibt das im V. Anfall vom 1. bis ein-
+
schliesslich 12. Krankheitstag, also in 8 Tagen: 215 U = 99 N =
660 Albumen = 3070 Muskel, in Wirklichkeit mehr, da an zwei
Tagen die Hammenge nicht vollständig gesammelt werden konnte.
Bedenkt man, dass schon vor dem 5. Krankheitstag Appetit-
losigkeit und Erbrechen bestand, die aufgenommene und assimilirte
Nahrung nur sehr gering sein konnte, so ergibt sich für diese
12 Krankheitstage ein sehr bedeutender Verlust an Körpersubstanz.
Im VI. Anfall wurden obige Zahlen, flir Harnstoff u. s. w.
schon in 6 Krankheitstagen, nämlich vom 7. bis einschliesslich 12.,
erreicht.
Rechne ich die gefundenen Hamstoffmengen bis zum 15. Tag,
berücksichtige ich vor der Hand nicht, dass an manchen Tagen
die wirkliche Ausscheidung grösser war, indem nicht die ganze
Hammenge gesammelt werden konnte, so erhalte ich:
260 U = 120 N = 800 Alb. = 3720 Muskel.
Erwägt man, dass sechs Tage vorangingen, an denen die
Hamstoffausscheidung gewiss nicht unter 25 Grm. betrag, da an
diesen Tagen noch theilweise Nahrang zu sich genommen wurde
und veranschlagt man somit die durch die Nahrang nicht ersetzte
Menge von Harnstoff auf durchschnittlich 15 Grm. für den Tag,,
so gebe das:
(21)
444 Wick.
+
90 U und wir hätten somit für die ganze Periode vom
1. — 15. Krankheitstag:
350 U = 161 N = 1370 Alb. = 4990 Muskel.
Erwägt man, dass der Kranke durch das Erbrechen ausser
dem Magensaft Schleim und Galle verlor, so ist der gesammte
Gewichtsverlust auf mehr zu schätzen.
Während er vor der Krankheit ohne Kleidung 57 Kgr.
wog, ergab die Wägung am 25. Krankheitstag 49 Kgr.
Die Körperschwäche war so gross, dass er kaum die kurze
Zeit der Wägung stehend zuzubringen vermochte.
Die grosse Ausgabe an Harnstoff ging noch fort, ohne
dass die in den nächsten Tagen bis zum 20. aufgenommene
Nahrung ganz die Ausgabe zu decken im Stande gewesen wäre.
Es bedurfte noch weiterer drei Wochen, dass eine Gewichts-
zunahme von 2 Kgr. nachgewiesen werden konnte; erst nach
9 Wochen hatte er wieder ein Gewicht von 55'5 Kgr. erreicht.
Die Fhosp ho rsäure- Ausscheidung geht parallel mit der
des Harnstoffs; sie nimmt zu bis zum II. — 12. Tag, an diesen
letzteren Tagen über das Doppelte der vorangegangenen Aus-
scheidung; sie erweist sich auch nach dieser Periode bis zum
19. Tag in Anbetracht, dass die aufgenommene Nahrung noch
keine entsprechend grosse war, vermehrt.
Ihr durchschnittliches Verhältniss zur Stickstoffausscheidung,
welches in der Norm l : 6 beträgt, war im :
V. Anfall bis zum 12. Tag . . . . 1:6-1
VI. „ 1:5-5
nach dieser Periode:
V. Anfall 1:6-7
VI. , 1:7-7
In Bezng auf die erste Periode ist ausser den gegebenen
Zahlen zu beriicksichtigen, dass an mehreren Tagen vor dem 12.
dieses Verhältniss unter der Norm blieb, sich aber bereits am 12.
selbst etwas über die Norm und in der späteren Periode bedeutend
über dieselbe erhob.
An mehreren Tagen dieser Periode wurde auch die an die
Erden gebundene Phosphorsäure bestimmt und betrug diese für sechs
(32)
Casuistischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 445
Beobachtungstage nngefähr 2*1 Grm., während die Gesammt-
menge der Phosphorsäure an diesen Tagen 17*4 ausmachte;
demnach ein Verhältniss von 1:8, während es in der Norm
1 : 3—4 ist.
Denkt man sich den ganzen N ans Mnskelsnbstanz stammend,
so würde beim Zerfall von 3018 Grm. Fleisch, welche aaf die
sechs Bestimmungstage kommen , nach der procentnarischen Zu-
sanmiensetzung desselben etwa 13*6 Grm. Phosphorsäure zu
erwarten sein und von diesen wieder 2*3 Grm. an Erden gebunden.
Wie man sieht, stimmt diese Zahl mit der Ausgabe von Erd-
phosphaten durch den Harn.
Die Resultate der Schwefelsäurebestimmung wurden
in die Tabelle nicht aufgenommen, da nur die in Form von Sul-
faten im Harn enthaltene Schwefelsäure in nicht ganz fehlerfreier
Art bestimmt wurde.
Indessen geht daraus doch hervor, dass sie mit der Aus-
scheidung des Harnstoffs parallel geht, jedoch derart, dass bis
zum 12. Tag im Verhältniss kleinere Mengen (1*03 — 2'95)
erscheinen, gegen die spätere Periode, wo bei geringeren Ham-
stoffmengen grössere (2*5 — 3*4) ausgeschieden werden.
Der Unterschied dürfte seinen Grund in der ungleichen
Menge der gepaarten Schwefelsäure haben, welche in der ersten
Periode, der Indicanausscheidung nach zu schliessen, vermehrt
gewesen sein wird.
Die Erscheinung der vermehrten Ausscheidung von Indican
wurde bereits beschrieben bei der Besprechung des V. Anfalles.
Dasselbe Phänomen wiederholte sich in schwächerem Grade
im Verlauf des VL Anfalles, wo ebenfalls an 3 Tagen vor der
Ausscheidung der Urate die Indicanreaction eine bedeutendere
war, als an späteren Tagen; ganz verlor sie sich erst am 18.
Erankheitstag. Im IV. Anfall war diese Reaction gleichfalls nach-
weisbar, jedoch in sehr schwachem Grade und nur so lange als
der Harn sehr concentrirt war.
Bemerkenswerth ist die vermehrte Ausscheidung von Uraten,
u. zw. vom 10. — 12. Krankheitstag beginnend und 2 — 3 Tage
andauernd; sie tritt entweder gleichzeitig mit der Besserung des
ganzen Zustandes auf, oder geht ihr 1 — 2 Tage vorher.
(88)
446 Wick.
Die Menge der zu dieser Zeit ausgeschiedenen Harnsäure
wurde im Y. Anfall zu 0*8 am 11. Krankheitstag bestimmt,
während Proben an früheren Tagen eine geringere Menge auf-
wiesen, trotzdem die Concentration des Harnes keine geringere
war. Am 37. Krankheitstag war ihre Menge 0*84 bei 1480 Ccm.
Harn, später sank ihr Menge auf 0*35 Grm. bei einer bedeutend
grösseren Menge ausgeschiedenen Harnstoffs.
In Bezug auf den Harnstoff ist noch zu bemerken , dass er
sich bei Zusatz von Salpetersäure schon in ganz kurzer Zeit
krystallinisch als salpetersaurer Harnstoff ausschied.
Wenn auch dies in der Norm bei sehr concentrirten Hamen
geschieht, so konnte diese Erscheinung in unserem Falle selbst
noch bei einem spec. Gew. von 1-021 — 1018 beobachtet werden,
während sie ein anderes Mal bei der gleichen oder noch höheren
Concentration vermisst wurde.
Die Reaction war in der ersten Periode und im Beginne
der 2. stark sauer, am 15. — 17. Krankheitstag wurde sie vorüber-
gehend alkalisch.
Es wurde ausserdem auf Eiweiss, Zucker, Aceton und Phenol
geprüft, doch fand sich davon nichts vor.
Behufs Vergleiches wurden die Ausscheidungsgrössen am
42. Tag nach Beginn des VI. Anfalles als Norm, wie in der
Tabelle ersichtlich, genommen, und die Curven aus den verschie-
denen Percentzahlen construirt.
Das Verhalten der Harnausscheidung im X. Anfall stimmte
der Menge nach mit den vorausgegangenen Anfallen überein und
konnte an jenen Tagen, wo die Menge den höchsten Stand er-
reichte, eine wirkliche Hypersecretion nachgewiesen werden ; denn
am 23. Krankheitstag betrug die Hammenge 2650 Ccm., während
in Speisen und Getränken nicht mehr als 2400 Ccm. aufgenommen
wurden, und am 24. war die Hammenge 2900 Ccm. gegen 3000 Ccm.
Gesammtwasseraufnahme.
Zum Unterschied von früheren Anfällen fand sich diesmal
keine Indicanreaction , jedoch zeigte sich wieder, und zwar ver-
spätet, nämlich erst am 17. Tag, die vermehrte Ausscheidung voa
Uraten und am 20. die Aenderung der Reaction.
Casnistischer Beitrag znr Lehre von der Epilepsie. 447
Die Chlormenge sank am 17. Tag auf 0*10% = 0*5 Grm.,
was mit den Mheren Anfallen übereinstimmt, and um so auf-
fallender ist, als an den yorausgegangenen Tagen weniger Nahrung
aufgenommen wurde und doch die Chlormengen 0'4 — ^0*56 ^/o
= 2 — 5 Grm. betrugen. Mit der Hamfluth am 23. — 24. stieg auch
die Chlorausscheidung, in ihren Grössen in merkwürdiger Weise
übereinstimmend mit den Ausscheidungsgrössen im VI. Anfall.
yn. Erscheinungen von Seite des Nervensystems.
1. Kopfs chmerz.
£r war in jedem Anfalle das erste Symptom, wurde weiters
immer intensiver und erfuhr erst am 8. — 9. Tag eine Erleichterung,
eine wesentliche Besserung aber in den meisten Anfallen erst
am 11. — 12.
In den meisten Anfallen folgte auf diese eine mehr weniger
starke Recidive, bis er am 17. — 20. Tage ganz aufhörte. (Siehe
Tabelle 5.)
Der Schmerz war meist dumpf, drückend, bohrend, hatte
seinen Sitz beiderseits in der Stirngegend, oder auch zugleich
in der vorderen Scheitelgegend, wurde durch Aufsetzen und Auf-
stehen verstärkt, dagegen durch Druck auf die eine oder andere
Carotis augenblicklich erleichtert, oder ganz entfernt, was aber
nur sehr kurze Zeit die Compression überdauerte.
2. Vasomotorische Erscheinungen.
In allen Anfällen zeigten sich die Ohrmuscheln mehr oder
weniger über die Norm geröthet, höher temperirt; manchmal
auch mehr umschriebene Röthe an den Wangen, während das
übrige Gesicht von gewöhnlicher Farbe oder blass war. Im IV.
Anfall wurden am 11. Erankheitstag die Unterschenkel und Füsse
in Friessnitz-Umschläge eingehüllt.
Die Extremitäten blieben trotzdem kalt und erst am nächsten
Tag, dem 12. also, wo eine allgemeine Besserung eintrat und
der Puls sich hob; wurden die Extremitäten warm, der Fuss-
rücken beiderseits sogar lebhaft geröthet und wärmer als Unter-
und Oberschenkel ; zu gleicher Zeit nahm die übermässige Röthung
und Wärme der Ohrmuscheln ab.
Med. Jahrbücher. 35 (35)
448 Wick.
Als dann am 15. Krankheitstag sich wieder mehr Kopfschmerz
einstellte, auch etwas Erbrechen, worden wieder Priessnitz-
Umschläge angelegt; diese erwärmten sich jedoch bald und anch
am nächsten Tage, als der Znstand sich wieder gebessert hatte,
waren die Füsse nicht abnorm geröthet; jedoch stellte sich am
18. Tag ein sehr starkes Jncken ein, so dass er nach kalten Um-
schlägen verlangte, und verschwand erst nach mehreren Tagen.
Das Verhalten im V. Anfall wurde bereits oben geschildert.
Im Verlauf des VI. Anfalles, wo ebenfalls am 9. Krankheits-
tag jene Umschläge angewendet wurden, fühlte er sich erst am
11. Krankheitstag , als eine allgemeine Besserung eintrat, am
ganzen Körper wärmer, am 26. Tag erst war die Farbe der Ohr-
muscheln wieder die normale.
Im VIII. Anfall war das Gesicht nicht, sondern nur die Ohr-
muscheln geröthet und wurden von ihm, wenn er sich auf sie
legte, unerträglich heiss empfunden ; auch objectiv war eine höhere
Temperatur nachweisbar.
Am Vni. Krankheitstag wurde die Gesichtsfarbe blass, die
Farbe der Ohrmuscheln dunkler und an den Wangen eine um-
schriebene Stelle etwas livid roth. Dies blieb so, bis am 10. Tag
eine leichte Besserung auftrat; am 13« Krankheitstag kam ein
Krampfanfall, das Gesicht war an diesen und dem nächsten Tag auf-
fallend blass und am ganzen Körper brach kalter Schweiss aus.
Dies änderte sich, bis am 15. eine wesentliche Besserung eintrat.
In allen Anfallen fühlte er in der ersten Periode in den
Extremitäten Kälte und erst nach dem 12. Tag eine behagliche
Wärme, jedoch wurden selbst in erster Periode kalte Umschläge
auf den Kopf wohlthuend gefühlt und begehrt.
3. Erscheinungen von Seite der Augen.
In allen Anfällen bestand mitunter ziemlich bedeutende
Röthung der Lidbindehaut beiderseits und in leichterem Grade
auch der Augapfelbindehaut.
In der Zwischenzeit, zwischen dem VI. und VIII. Anfall, litt
er ein paarmal an Bindehautherpes ; während des Vm. Anfalles
wurde am 3. Krankheitstag das Auftreten eines Herpesbläschens
beobachtet. Während der drei vorausgegangenen Anftllle wurde
(26)
CasrdstiBcher Beitrag mr Lehre von der Epilepsie. 449
diesbezüglich nar die Bemerkimg gemacht, dass die Bindehant-
röthong am 19. Tag geringer wurde.
Die Lichtscheu war in allen Anfällen mit Ausnahme des X.
gross und manchmal so bedeutend, dass er selbst das Nacht-
lichtchen schwer yertrug; es konnte deshalb eine Augenspiegel-
Untersuchung nicht vorgenommen werden.
Im Allgemeinen besserte sie sich nach dem 12. Erankheits-
tag, im VI. Anfall verschwand sie am 14. Tag.
Die Pupillen waren stets beiderseits gleich, meist mittelweit,
reagirten auf Licht und Beschattung. Nur einmal während des
IV. Anfalles wurde die Bemerkung verzeichnet, dass er bei Be-
trachtung entfernter Gegenstände dieselben kleiner als gewöhn-
lich sah.
4. Reflexe.
Die Patellarreflexe wurden beim IV. und V. Anfall
von Beginn bis zum Schluss der Beobachtung fehlend ge-
funden; jedoch ergab die Untersuchung einige Wochen nach
seiner Reconvalescenz , dass sie wiedergekehrt waren, u. zw.
verstärkt.
Im VI. Anfall waren sie am 6. Tag noch vorhanden, jedoch
schon schwächer, fehlten am 9. und kehrten erst am 26. in sehr
geringem Grade wieder zurück.
Im Vni. waren sie am 6. Tag noch vorhanden, jedoch sehr
abgeschwächt, fehlten am 8. bereits und waren erst am 21. im
geringen Grade wiedergekehrt, dagegen am 28,, in normaler
"Weise vorhanden. Ueber das Verhalten im X. Anfall siehe oben.
Hautreflexe waren vorhanden, u. zw. schienen sie am
6. — 12. Tag verstärkt zu sein.
Cremasterreflex war nachweisbar, aber nicht verstärkt.
5. Sensible Erscheinungen.
Oppressionsgeftihl auf der Brust, zuweilen auch Gtirtel-
gefbhl im Unterleib, welche ihn zu fortwährendem Herumwälzen
von der einen auf die andere Seite und zu seufzenden Inspirationen
veranlasste, war in mehreren Anfällen vorhanden.
36 ♦ C27)
450 Wick.
Es trat diese Erscheinung nicht sogleich im Beginn, sondern
im V. Anfall am 7., im VI. Anfall am 10., im VÜL Anfall am
8. Tage anf.
Hyperästhesie.
Das Verhalten im V. Anfall wurde oben bereits beschrieben.
Im VI. Anfall beschränkte sich die Ueberempfindlichkeit
auf die Fusssohlen, trat auf am 6. und verschwand am 9. Tag.
Im Vni. Anfall trat diese Erscheinung im geringsten Grade
am 8. Tag auf, und verschwand am 10.
Bemerkenswerth ist auch das Verhalten der Druckempfind-
lichkeit der obersten 4 Brustdomfortsätze.
In den Pausen zwischen den Anfällen nicht vorhanden, wurde
sie sogleich im Beginne des Anfalles nachweisbar, wenn auch in
den verschiedenen Anfällen in verschiedenem Grade, nimmt zu
mit den übrigen Erscheinungen und beginnt geringer zu werden,
wenn diese sich bessern. Siehe das Verhalten im X. Anfall oben.
6. Sensorielle und motorische Erscheinungen.
In Bezug auf den V. und X. Anfall siehe oben.
Im Verlaufe des VI. Anfalles fühlte er sich am 11. Tage,
nachdem er den Nachmittag vorher bis in die Nacht hinein fort-
während wegen Oppressionsgeftihl sich hin- und hergewälzt, und
sehr oft erbrochen hatte, am Morgen nach einem kurzen Schlaf
etwas besser und am ganzen Körper wärmer, erbrach sich auch
weniger ; — doch dieser Anfang von Besserung wurde um 6 Uhr
Abends gestört, durch plötzlich auftretenden ungewöhnlich heftigen
Kopfschmerz, fortwährendes sehr heftiges Oppressionsgeftihl und
Zittern in den oberen Extremitäten.
Nach V* Stunde nahm der ärgste Schmerz ab und dauerte
im geringeren Grade bis zum nächsten Tag, wo eine entschiedene
Besserung eintrat.
Während des VII. Anfalles kam, nachdem bereits eine
geringe Besserung sich am 10. Tag eingestellt hatte, welcher
aber wieder Kopfschmerz und Erbrechen folgte, um 6 Uhr Abends
ein Insult von heftigen Kopfschmerzen mit clonischen Krämpfen
in den oberen Extremitäten und am Kopf; dabei waren die
(28)
Casiüstischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 451
Papillen stark erweitert, trag reagirend, bei erhaltenem Conjunctival-
reflex, das Bewnsstsein fast vollständig aufgehoben, der Körper
mit kalten Schweiss bedeckt ; dieser Anfall dauerte 8 — 10 Minuten,
der Puls war während desselben 68.
Er hatte darauf das Gefühl, als ob die Zunge gelähmt wäre.
Ein 2. noch kürzer dauernder, gleich beschaffener Insult
trat 4 Stunden später ein.
Wegen des noch bestehenden starken Kopfschmerzes wurde eine
Morphiuminjection gemacht, worauf dann ein ruhiger Schlaf eintrat.
Am nächsten Tag traten Kopfschmerzen wieder auf und erst
den 2. Tag darauf stellte sich nach einem erquickenden Schlafe
die Hauptbesserung ein.
Hier sei schliesslich noch erinnert an die in der Anamnese
beschriebenen Insulte. In der Tabelle 5 wurde versucht, eine Ueber-
ßicht über das zeitliche Auftreten des Kopfschmerzes, des Er-
brechens und der motorisch sensoriellen Erscheinungen, die mit +
bezeichnet sind, zu geben.
Epikrise.
Den bedeutendsten Einblick in den diesem Krankheitsfall
zu Grunde liegenden pathologischen Process liefern uns die Er-
scheinungen der Hemicranie, deren Erkenntniss vor Allem auf ihn
anwendbar erscheint.
Neben vasomotorischen Erscheinungen am Kopfe haben wir
Kopfschmerz, Erbrechen und noch mehrere andere Symptome
welche bei der Hemicranie beobachtet werden, nur mit dem Unter-
schiede, dass in unserem Falle die derselben als zu Grunde
liegend angenommene Affection des Halssympathicus als auf
beiden Seiten bestehend angenommen werden muss.
Für das Bestehen beiderseits spricht die Röthung beider
Ohrmuscheln und Bindehäute, die gleichmässige Färbung der beiden
Gesichtshälften, die Ausbreitung des Kopfschmerzes über den
ganzen Vorderkopf, ferner die Thatsache, dass Druck auf eine
wie auf die andere Carotis den Schmerz oder das unangenehme
Gefühl im Kopf mildert oder behebt.
Weniger bestimmt ist anzugeben, welche Form der sym-
pathischen Störung wir vor uns haben.
(2Ö)
452 Wick.
Bei der angioparalytischen Form hat man nicht blos das
äussere Ohr, sondern die eine Gesichtshälfte entweder ganz oder
doch in einem grösseren Bezirke entschieden geröthet gefunden.
Das ist hier nicht der Fall; es waren wohl Ohrmuscheln
und Bindehäute stark, aber das Gesicht nur unterhalb der Augen
in geringem Grade gerOthet, sonst eher als blass und in manchen
Phasen des Anfalles entschieden blutleer zu bezeichnen, wobei
dann die geröthete Stelle eine livide Farbe annahm.
Auch die tonische Form können wir nicht annehmen, da
die Gefässerweiterung in den Ohrmuscheln und Bindehäuten nicht
als secundär betrachtet werden kann, weil sie bereits im Beginne
der Beobachtung existirt, und femer die Gompression der Carotis
beiderseits den Kopfschmerz entschieden besserte. Dieses letztere
Symptom, sowie der Umstand, dass kalte Umschläge auf den
Kopf eine mildernde Wirkung hatten, spricht mehr für die angio-
paralytische Form, und wir müssen es dahingestellt sein lassen,
ob die Blässe des Gesichtes anzeigt, dass in gewissen Gefäss-
bezirken zugleich die tonische Form vertreten war.
Damit ist nicht ausgeschlossen, dass nicht in manchen Phasen
des Anfalles vrirklich eine weiter oder allgemein verbreitete
Gefasscontraction eintritt, wie solches die zeitweilig vorgekommene
allgemeine Blässe des Gesichtes und noch andere Störungen
beweisen.
Im Bezug auf die intracraniellen Gefasse haben wir eben-
falls nur gewisse Anhaltspunkte, aber keinen bestimmten Beweis.
Was für Relaxation der Gefässe der äusseren Kopftheile
spricht, deutet auch auf intracranielle Gefässerweiterung, während
die Gehimsymptome, wie Kopfschmerz, Erbrechen und Pulsver-
langsamung, nicht so bestimmt für sie sprechen, da sie auch bei
Anämie und verschiedenen anderen Reizzuständen vorkommen.
Ist es richtig, dass sich im sichtbaren Gefässgebiete des
Kopfes der Zustand der intracraniellen Gefässe wiederspiegelt,
so wäre auch in diesen nicht allgemeine Paralyse anzunehmen,
sondern Gefässerweiterung gewisser Partien neben Verengerung
in anderen, vorwaltend aber wahrscheinlich doch die erstere.
Einen Fingerzeig in dieser Frage gibt sonst auch der Zu-
stand des Auges und besonders der Pupillen; bei Sympathicus-
(80)
CasaistiBcher Beitrag znr Lehre von der Epilepsie. 453
lähmnng wurde Papille und Lidspalte verengt, der Balbas
retrahirt, die Reaction auf Licht aufgehoben gefunden«
Das war hier nicht der Fall, sondern die Pupillen waren
massig, d. h. in Bezug auf die Beleuchtung erweitert, manchmal
über Mittelweite offen, reagirten auf Lichtreiz rechts wie links*
Von einem Lähmungszustande im Gebiete der oculopupil-
lären Fasern des Sympathicus, kann demnach nicht die Bede sein.
Die grosse Lichtscheu, welche jede Augenspiegeluntersuchung
verhinderte, lässt wohl auf einen Beizzustand des N. opticus
schliessen und es durfte dieses auf einer Fluxion zum Sehnerven,
zur Netzhaut hindeuten, auf eine Erweiterung der Arteria ophthal-
mica, wie sie sich in der Goiy'unctiva zeigt, und Erweiterung
ihres Zweiges der A« centralis retinae in Folge Lähmung ihrer
Vasomotoren.
Darauf ist es wohl zu beziehen, wenn er längere Zeit, zu-
weilen selbst nach erfolgter Besserung, nicht lesen oder schreiben
konnte, oder dasselbe nur wenige Minuten vertrug, indem ihm
sehr bald die Gegenstände verschwammen.
Auf Accommodationsstörung wies nur die eine Aussage, dass
er einmal die Gegenstände verkleinert sah.
Die aus dem Angeführten herausleuchtende Sympathicus-
affection beschränkt sich nun aber nicht blos auf den Halstheil
sondern erstreckt sich wahrscheinlich über den ganzen Körper.
Auch darin findet unser Erankheitsanfall ein Analogen in
den Hemicraniefällen von Möllendorf und Anderen.
Bei manchen Hemicranien wurden vorübergehend Magen-
schmerzen, Enteralgien, wässerige Stuhlentleerung oder Stuhl-
verstopfung, Anschwellung der Leber, Hypersecretion der Galle,
vermehrter Harnabgang u. s. w. beobachtet und in vielen Fällen
auf Lähmungszustände im Gebiete der Vasomotoren der Bauch-
höhle geschlossen.
In unserem Falle ist es hauptsächlich eine Thatsache, welche
auf eine allgemeine vasomotorische Störung deutet, und das ist
die durch längere Zeit anhaltende grosse Differenz von Axillar-
und Bectumtemperatur.
Es bleibt uns dafür keine andere Erklärung als eine stärkere
Blutfülle, unbestimmt ob Fluxion oder Stauung, in den centralen
(31)
454 Wick.
Eörpertheilen, während die peripheren bis in die Muskelschichte ,
deren Temperatar ja die Achselhöhle repräsentirt , relativ blut-
leer waren.
Ausserdem deutet darauf hin die subjeetiv und mitunter
auch objectiy wahrgenommene Kälte und Blässe der Peripherie,
der kleine, mitunter fadenförmige Puls, andererseits das Gefühl von
Brennen im Unterleib (was freilich auch mit dem oftmaligen
Erbrechen im Zusammenhang sein konnte) und die oben bemerkte
Verschiebung, respective Vergrösserung, von Milz und Leber gegen
Ende des Anfalles.
Ein bestimmter Nachweis über das Verhalten der Bauch-
eingeweide konnte nicht geliefert werden, da fortwährendes Er-
brechen bestand und der Magen im verschiedensten Masse aus-
gedehnt war.
Die ursprüngliche Verkleinerung von Milz und Leber konnte
ihren Grund in der fortwährend geringen Füllung der Pfortader
in Folge des Erbrechens haben, im X. Anfall waren sie von Be-
ginn der Beobachtung an vergrössert nachzuweisen, weil dieses
nur selten und gering auftrat. Diese Vergrösserung deutet mehr
auf Stauung als auf Fluxion.
In Folge des Erbrechens hauptsächlich ist es auch unmög-
lich etwas über die Herkunft der Stuhlverstopfung, der gänzlichen
Unthätigkeit des Darmes, auszusagen.
Es mochten hier Nerveneinflüsse, der Blutgehalt des Darmes
eine Rolle spielen; aber den grössten Einfluss musste doch der
Umstand üben, dass dm*ch lange Zeit nahezu alles Aufgenommene
durch Erbrechen entfernt wurde , bevor es in den Darm ge-
langen konnte.
Nur der Umstand, dass auch Klystiere wirkungslos waren,
könnte auf Reflexhemmung hindeuten.
Es besteht hierüber nur eine Angabe von Pinkus, dass vaso-
motorische Lähmung eher eine Verminderung der Darmsecretion
bewirkt, im Gegensatz zu den in anderen Fällen beobachteten
Diarrhöen und der Deutung derselben als Folge der Hyper-
secretion durch vasomotorische Lähmung.
Dass das Erbrechen allein aber nicht der Grund der Stuhl-
verstopfung war, könnte das Verhalten im X. Anfall beweisen,
(32)
Casnistiscber Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 455
WO die Verstopfung 8 Tage dauerte ohne starkem oder fort-
dauerndem Erbrechen.
Die Palpation ergab nur in manchen Anfällen Drnekempfind-
- lichkeit, und zwar in der Magengrube , gibt daher fttr eine Be-
theilignng der Bauchganglien keinen Anhaltspunkt.
Die Störung im Blutgehalt wird sich auch auf die Nieren
erstreckt haben, doch konnte auch hier das reine Resultat der-
selben nicht hervortreten, weil durch das Erbrechen eine Wasser-
armuth des Organismus herbeigeführt und dadurch die Menge des
Harnes im stärkeren Grade beeinflusst ymrde, als durch andere
Factoren.
Sowie das Erbrechen aufhörte, nahm auch die Hammenge
zu und tiberschritt nicht nur die Norm, sondern an einigen Tagen
auch die Menge der aufgenommenen Flüssigkeiten. Eben dieser
letztere Umstand aber zeigt, dass die Hamverminderung wahr-
scheinlich nicht vom Erbrechen allein herrührte. Als Beweis dafür
kann der X. Anfall dienen, wo das Erbrechen selten und quanti-
tativ gering war, demnach schwerlich eine Wasserarmuth des
Organismus herbeigefdhrt hat, und doch die Menge des Harnes
eine verminderte war. Diese Verminderung könnte nur zu schwachen
Herzactionen, wie sie sich in dem sehr kleinen Radialpnls kund-
gab, in Beziehung gebracht werden^ und demnach die oben ange-
nommene Störung im Blntgehalt als Stauung aufgefasst werden,
in Uebereinstimmung mit der vermuthlichen Stauung in Leber
und Milz.
Wie wir im X. Anfall sehen, steigt daher auch die Ham-
menge mit Zunahme der Pulsfrequenz, und im V. und VI. Anfall
finden wir mit der neuerlichen Senkung der Pnlscurve auch eine
Verminderang der Hammenge einhergehen. Dass hierbei nicht
die Zunahme der Pulszahl als solche massgebend ist, sondem
die zu gleicher Zeit stattfindende kräftigere Action des Herz-
muskels, zeigt der VI. Anfall, wo die Haramenge am selben Tag
schon zunahm, als die Pulsfrequenz noch auf der tiefsten Stufe stand.
Beachten wir nun aber weiters die Eigenthümlichkeit der
vermehrten Ausscheidung der festen Stoffe, das Fehlen der Albu-
minurie, wie sie sonst bei Stauung zu erwarten waren, so macht
uns dies darauf aufmerksam, dass ausser den mechanischen noch
(33)
466 Wick.
andere, wahrscheinUch Innenrations-EiiiflUsse thätig sind In diesen
allein kann es dann nnr liegen, wenn wir sehen, dass die grosse
Differenz in der Temperatur, die Vergrösserong von Milz and
Leber noch fortbesteht und doch die Hamsecretion steigt and
abnorm wird; man kann hierbei nar denken, dass die Stauung
von einer Fluxion abgelöst wird.
Nicht nur im Unterleib haben wir Grund eine Hyperämie
anzunehmen, sondern auch in den Lungen, da für das Entstehen
des Bronchialcatarrhs nach dem IV. Anfall und während des VI.
kein sonstiger Grund aufgefimden werden konnte. Auf Stauung
im kleinem Kreislauf und daher höheren Druck in der Pulmonalis
könnte allenfalls das Gespaltensein des 2. Tones hindeuten, wenn
man dies nicht auf Rechnung einer abnormen Innervation setzen will.
In suspenso muss das Urtheil Über die gegenwärtig aufzu-
findende Infiltration der linken Lungenspitze bleiben. Da im Sputum
bisher Tuberkelbacillen nicht aufgefunden wurden, so könnte nur
an einen andern chronischen interstitiellen E^tziindungsprocess,
möglicherweise die Folge häufiger Hyperämien, gedacht werden.
Wahrscheinlich auf Circulationsstörung beruhen femer die
spinalen Erscheinungen. Wir finden eine Spinalirritation, die ja
auch sonst auf Circulationsstörung zurückgeführt wird; als Reiz-
erscheinungen haben wir das Oppressionsgefühl auf der Brust,
die Hyperästhesie, theils local, theils über den ganzen Körper
verbreitet. Die Ursache hiervon kann nur eine centrale sein und
keineswegs die Circulationsverhältnisse der Peripherie, ausser
man würde annehmen, dass auch Anämie der Haut Hyperästhesie
hervorbringen kann.
Besonders auffällig war das Verhalten der Reflexerregbar-
keit, wie es oben bereits geschildert wurde. Dem Ausfall des
Patellarreflexes konnte keine Hemmung von Seite des Gehirnes zu
Grunde gelegt werden, da dieser Reflex oft schon am 1. Beob-
achtungstag, wo die cerebrale Reizung noch nicht bedeutend war,
fehlte und in den meisten Fällen erst wiederkehrte, wenn schon
lange kein anderes Symptom mehr bestand. Auffallend ist sein
inconstantes Verhalten im X. Anfall und der Umstand, dass er
am 20. Krankheitstag linkerseits wiederkehrte, während er rechts
erst am folgenden Tag nachweisbar wurde.
(84)
Casnifltischer Beitrag siir Lehre von der Epilepsie. 457
Bei diesem Verhalten lässt sich doch nnr an vorübergehende
Störungen in den Centren denken, und zwar, wenn wir die höhere
Temperatur der centralen Theile, die sichtbaren Circulations-
störungen berücksichtigen, an eine Hyperämie; nnr müsste man
annehmen, dass dadurch die Reflexerregbarkeit verschieden beein-
flusst wird, so dass das eine Centrum, das der Hautreflexe, durch
sie gereizt, das der Sehnenreflexe bereits gelähmt wird.
Eine andere Möglichkeit wäre, analog der fttr das Gehirn
gemachten Annahme, dass auch im Rückenmark eine ungleiche
Yertheilung des Blutes bestand, Hyperämie in den einen und
Anämie in den anderen functionellen Gebieten.
Indem wir somit Anämie in den peripheren und Hyperämie
in den centralen Theilen annehmen, bliebe noch die Frage, ob wir
diese letztere nicht als eine secundäre Erscheinung auffassen
sollen, insofern das Blut eines Erampfzustandes der Gefässe wegen
nicht in die Peripherie einzudringen vermochte und daher gleichsam
mechanisch sich in anderen Gefässgebieten Platz schaffen musste.
Einen Erampfzustand in der Peripherie können wir jeden*
falls annehmen. Ausser anderen Erscheinungen deutet die sphygmo-
graphische Curve nud femer das Verhalten der peripheren Theile
gegen die feuchtwarmen Umschläge hin.
Diese beiden Erscheinungen würden selbst in dem Falle
einen Erampfzustand vermuthen lassen, wenn man die Hyper-
ämie in den inneren Orgauen als primäre Erscheinung auffassen
müsste.
Wenn man somit auch Grund hat die Hyperämie in den
centralen Eörperpartien als eine secundäre zu vermuthen, ohne
dass wir für den Sympathicus der Unterleibsorgane denselben
Process, wie im Halssympathicus annehmen müssten, so wird'
man doch zugeben, dass dieses nicht sehr wahrscheinlich ist;
denn nehmen wir an, die Gefässe der centralen Organe hätten
ihren Tonus beibehalten, so würde das von der Peripherie rück-
stauende Blut in ihnen ein Hindemiss finden und mit noch
grösserer Gewalt gegen die Eopfgefässe drängen; es ist fraglich,
ob unter solchen Umständen das Leben fortbestehen könnte.
Für die Betheiligung des Unterleibssympathicus können wir
übrigens jene Erfahrungen verwerthen, welche MöUendorf bei
(86)
458 wick.
seinen Hemicraniefällen gemacht hat, nach deren Natur eine
Relaxation der Unterleibsgefässe angenommen wurde.
Femer kennen wir ja Experimente, bei welchen für das aus
einem Bezirk verdrängte Blut in einem anderen Platz geschafft wird,
durch Verminderung oder Aufhebung des Tonus auf reflectorischem
Wege.
Wir kommen nach dem bisher Gesagten also zu dem
Schlüsse, dass in unserem Fall sich Circulationsstörungen abhängig
von einer abnormen Innervation sich über den ganzen Körper
erstrecken, hier Hyperämie dort Anämie.
Eine so ausgebreitete Störung lässt auf Affection des vaso-
motorischen Centrums im verlängerten Marke schliessen; speciell
deuten auf diesen Sitz noch zur Bestätigung der Annahme die
Pulsverlangsamung und das Erbrechen, Folge einer Reizung der
daselbst gelegenen Vaguskeme.
Denke man sich also einen Zustand von Reizung in dieser
Gehirnpartie, so würde eine Irradiation derselben auf das nach-
barliche Krampfcentrum NothnageTs einen Anfall auslösen
können, der ganz das Gepräge eines epileptischen Insultes trägt.
Auf diese Weise wäre demnach das ganze Krankheitsbild
erklärt, aber auch nur das Krankheitsbild, nicht das Wesen der
Krankheit.
Wir fragen, worin besteht die Reizung im verlängerten
Marke, wodurch ist sie hervorgebracht?
Aus den sonst sichtbaren Circulationsstörungen könnte man
schliessen, dass solche auch in dieser Gehimpartie vorhanden
sind und dass sie die Reizquelle bilden, unbestimmt, ob Anämie
oder Hyperämie.
Es braucht uns übrigens letztere Frage nicht sehr zu
bekümmern, da man die Symptome von Himreiz sowohl bei
Hyperämie als bei Anämie beobachtet hat.
Bedenkt man nun aber , dass man andererseits genug Fälle
von allgemeiner Gehimhyperämie oder Anämie sieht, ohne dass
derartige Anfälle auftreten, so wird man die Beziehungen solcher
Circulationsstörungen zu den nervösen Erscheinungen nicht für so
einfach ansehen können und bevor man die Circulationsstörungen
(36)
Casoistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 459
als Reizquelle ansehen kann, müsste weiters erst bewiesen werden,
dass sie nicht selbst erst secnndärer Natar seien.
An letzteren Umstand ist jedoch in vielen Fällen kein
Zweifel zu hegen.
Wenn das Gehirn ftinctionirt , so findet normaler Weise
dabei eine Fluxion statt; diese ist seeundär; der erste Vorgang
ist ein Impuls in der Nervensubstanz zur Anregung der Vor-
stellnngsthätigkeit , welche ein vermehrtes Zuströmen von Blut
zur Folge hat.
Bei Intoxicationen sieht man Abnormitäten im Blutgehalt
des GehiiTies, aber das erste ist die Wirkung des Giftes auf die
Nervensubstanz.
Wenden wir dies auf unseren Fall an, so können wir wohl
für viele Bezirke die Circulationsstörung als das Erste betrachten
and daher auch als die Ursache der Erscheinungen, so der Tem-
peratur, Stoflfwechselverhältnisse , vielleicht auch des Kopf-
schmerzes, aber nicht unbedingt ftir das verlängerte Mark, wo
der Sitz der Affection zu suchen ist.
Es ist zwar die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass
durch irgend einen Reizzustand in der Peripherie ein Reflex auf
die Vasomotoren der Gewisse des verlängerten Markes ausgelöst
wird, wodurch in diesen Bezirk Hyperämie oder Anämie entsteht
nnd in diesem Falle könnte nach dem Obigen ebenfalls das
Krankheitsbild, wie es geschildert wurde, hervorgerufen werden.
Da wir wissen, dass die Gefässe des verlängerten Markes,
hauptsächlich der Art. basilaris entstammen, ihre vasomotorischen
Nerven vom Grenzstrang des Sympathicns erhalten, in welchen ja
periphere Ganglien eingeschaltet sind, so muss die Möglichkeit
offen gelassen werden, dass auch ein Reizzustand in diesen vor-
handen sein und das Krankheitsbild hervorrufen kann, dass somit
die Gehimstörungen sämmtlich secundärer Natur seien.
Wir fragen nun aber jetzt weiter, wie kommt es, dass sich
ganz derselbe Anfall durch so viele Jahre hindurch wiederholen,
dass in der Zwischenzeit vollständige Gesundheit bestehen kann?
Wir finden in unserem Falle keine periphere Reizquelle, weder zur
Zeit der Anfälle noch ausser ihnen. Könnten wir bestimmt die
jetzt bestehende Verdichtung der Lungenspitze als tnberculöser
(87)
460 Wick.
Natnr bezeichnen, so würden wir aach denken können, dass der
Vagns oder Sympathicns irgendwo am Halse oder in der Brost
dnreh tnbercnlöse Lymphdrüsen in das Bereich eines Drackes
oder einer Entzündung gebracht sei und so von hier aus jene
Anfälle ausgelöst würden. Wir finden aber keine Tuberkelbacillen
und andererseits bestanden die Anfälle längst vor Auftreten dieser
Infiltration. Der periphere Reiz könnte auch im Magen gesucht
und dabei an die Erklärang gedacht werden, welche Rossbach
von der Gastroxynsis gibt. Der X. Anfall beweist aber, dass die
Magenstörung erst spät und wenig intensiv auftreten kann.
Wir müssen daher annehmen, dass der ursprüngliche Vor-
gang ein centraler sei, u. zw. nachdem in der anfallsfreien 2ieit
keine Circulationsstörung besteht, die Erkrankung aber doch da
ist, da sonst die Anfälle nicht mehr kommen würden, ein Vor-
gang ohne Betheiligung der Gefässe, ein eigenthümlicher Zustand
in der Nervensubstanz selbst.
Selbst wenn wir sehen würden, dass auf gewöhnliche periphere
Reize jene Anfälle hervorgerufen würden, könnten wir die Gefäss-
störung nicht als primär bezeichnen, sondern das Primäre ist
die besondere Verfassung des Nervensystem, vermöge deren es
auf Reize anders als gewöhnlich reagirt.
Durch diese Ueberlegung rücken auch die beobachteten
sensoriellen und motorischen Erscheinungen in ein anderes Licht,
sie sind vielleicht nicht blos epileptiforme, sondern wirklich epi-
leptische Anfälle und die Veränderung in der Nervensubstanz,
welche wir auch in unserem Falle als zu Grunde liegend annehmen
müssen, ist vielleicht identisch mit derjenigen bei der echten
Epilepsie.
Prüfen wir auf diese Vermuthung bin die in unserem Falle
vorgekommenen ErampfTormen und Bewusstseinsstörungen , so
finden wir in der Anamnese die Schilderang eines classischen
epileptischen Anfalles, sogar die Aura scheint nicht zu fehlen,
denn er sagt aus, dass er am Arm einen starken Kitzel und
darauf eine zuckende Bewegung verspürt habe, bevor er das
Bewusstein verlor.
Ebenso unverkennbar ist die Aussage über den ID. Anfall
die Schilderang eines schweren epileptischen Insultes.
(88)
Cagmstisclier Beitrag znr Lehre von der Epilepsie. 461
Die lange Bewnsstsemsstörnng und die noch sich darüber
hinaus erstreckende Sehstörung mussten damals den Verdacht
einer substantiellen Erkrankung des Gehirnes erwecken; im Zu-
sammenhang mit den späteren Anfällen können sie nur als Be-
standtheile einer Neurose aufgefasst werden, u. zw. spricht ausser
Anderen die Erfahrung, dass nach epileptischen Anfallen auch
manchmal Erblindung zurückblieb, dafür, dass jener Anfall ebenso
wie der I. ein epileptischer war.
Unter den von uns beobachteten Anfallen steht dem eben
angeführten, deren Natur doch immer zweifelhaft erscheinen mag,
da hierüber blos seine Erzählung vorliegt, am nächsten der im
Verlauf des Vin. Anfalles beobachtete Insult, ausgesprochener
Clonus bei fast vollständig aufgehobenem Bewusstsein, starker
PupUlenerweiterung.
Im V. Anfall, wie er oben beschrieben ist, waV das Bewusst-
sein auf kurze Zeit ebenfalls vollständig aufgehoben. Clonus war
zwar nicht da, jedoch erscheint er angedeutet in den rasch vor.
übergehenden Zuckungen, welche er den elektrischen Schlägen
vergleicht und durch die convulsiven Bewegungen, die auf die
mildeste Reizung erfolgten.
Im VI. Anfall ist keine Bewusstseinsstörung, sondern nur ein
Anfall von Zittern unter den heftigsten Kopfschmerzen aufgetreten,
welche in diesem Zusammenhang fast als ein Aequivalent der
Bewusstseinsstörung angesehen werden könnten.
Im IX. Anfall war blos das Bewusstsein vorübergehend
gestört, motorische Reizerscheinüngen fehlten.
Der X. Anfall unterschied sich durch Anzeichen motorischer
Lähmung.
Wir verzeichnen demnach 7 Insulte, von denen in 4 moto-
rische Reizerscheinungen neben Bewusstseinsstörungen auftreten,
dagegen in anderen 3 entweder motorische Reiz- oder Lähmungs-
erscheinungen oder sensorielle Störung.
Was nun die blosse Form der Erscheinungen anbelangt, so
steht nichts im Wege, diese Insulte für epileptische zu erklären,
und hätten wir vor uns sowohl den classischen Anfall als auch
die mildere und eine rudimentäre Form der Epilepsie.
(89)
]
462 Wick.
Diese Insnlte erweckten ferner nicht immer den Anschein,
als ob sie eine Steigemng der vasomotorischen Stönmg wären,
sondern treten nahezu unvorhergesehen und, wie im VI., Vin. und
X. Anfall, nach bereits vorhandenen Zeichen von Besserung ein,
stellen somit gewissermassen etwas Apartes dar, umsomehr, als
eine Gelegenheitsursache nicht immer nachweisbar war. Ein Blick
auf die Tabellen lehrt, dass diese Insulte nichts Zufälliges sind;
sie gruppiren sich um den 7. — 14. Tag und documentiren sich
dadurch als im Wesen gleichbedeutend, wenn die Intensität auch
eine noch so verschiedene war.
Beachten wir weiters, dass diese Insulte der ersten oder
der definitiven Besserung unmittelbar vorangingen, ganz analog
anderen epileptischen Zuständen, welche mit einem Insult ab-
schliessen.
Ist also der Verdacht der epileptischen Natur der beschrie-
benen Insulte gerechtfertigt, so ist auch die Vermuthung gegründet,
dass die Anfalle als Ganzes epileptischer Natur seien, dass wir
es überhaupt mit dem Erankheitsprocess Epilepsie zu thun haben.
Für letzteres spricht wieder die Anamnese, welche aussagt,
dass sein Vater häufig an Kopfschmerz und Schwindel leidet; es
ist also offenbar eine neuropathische Constitution vorhanden.
Die Anfalle sind bis jetzt selten gekommen, unregelmässig,
häufig ohne Veranlassung, so wie dieses bei Epilepsie beob-
achtet wird.
In der Zwischenzeit war er gesund, wie das auch bei vielen
Epileptikern vorkommt, nur nach den ersten Anfallen hatte sich
ein Zustand geistiger Schwäche eingestellt, welcher aber jetzt,
wo die Anfälle immer milder wurden, gewichen ist.
Wir müssen also hier wieder eine Veränderung im Nerven-
system annehmen, welche beständig vorhanden ist und den Unter-
grund zu den Anfällen bildet.
Sollen wir hier eine andere Veränderung suchen, als die
Epilepsie, welche wir zwar ihrer Natur nach ebensowenig kennen,
deren Annahme aber wenigstens durch so viele Thatsachen und
Experimente begründet ist?
Wir sagen also: vorliegende Krankheit ist wirk-
lich Epilepsie.
(40)
Casn istischer Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 463
Wie sind nun aber jene Anfälle aufzufassen , welche ohne
epileptischen Insult verlaufen und jene Erscheinungen, welche
ausser diesen, den Haupttheil des Krankheitsbildes ausmachen?
Wir könnten sie zur Hemicranie zählen, indem wir aber
constatiren, dass die SympathicusafPection nicht einseitig ist, dass
wir weder bestimmt von der tonischen noch von der paralytischen
Form sprechen können, indem wahrscheinlich beide Formen
vertreten sind, dass ferner die Dauer der Anfalle dem Verlaufe
einer Hemicranie durchaus nicht entspricht, sagen wir auch, dass
dieser Fall eigentlich keine Hemicranie ist ; denn das Massgebende
zur Unterscheidung muss uns das Erankheitsbild bleiben, da uns
die pathologische Anatomie keinen Aufschluss gibt, und eine Theorie
nicht zur Unterscheidung dienen kann.
Die neuere Zeit hat uns noch eine A£fection kennen gelernt,
welcher dieser Fall zugezählt werden könnte, und das ist die Gastro-
xynsis Rossbach 's (cerebrale Gastroxie Rosen thal's).
Abgesehen von den epileptischen Insulten, gleichen die be-
schriebenen Anfälle denen der Gastroxie , mit welcher sie das
anamnestische Moment der geistigen Ueberanstrengung, freilich
nur bei der Entstehung, gemeinsam haben.
Der Säuregehalt des Erbrochenen wurde zwar ausser im
X. Anfall nicht ziffermässig bestimmt , auch nicht , ob die freie
Säure, Salzsäure sei, doch wurde die Reaction des Erbrochenen
besonders stark sauer gefunden und deutet besonders auf die
übermässige Production von Salzsäure das Fehlen des Chlors im
Harne; zwar nicht ohneweiters, da die Untersuchung bei Hun-
gernden ergibt, dass die Chlormenge im Harn bei längerer Dauer
der Inanition auf eine sehr geringe Grösse (0*1 58 — Ol 17) herab-
sinken kann , aber doch im Zusammenhang mit der stark sauren
Beschaffenheit des Erbrochenen und mit den Erfahrungen, welche
man bisher bei Magenerkrankungen gemacht hat.
Der Hambefund gestattet, auch einigermassen das Eintreten
und die Dauer der Gastroxie näher zu bestimmen.
Im Verlauf des V. Anfalles finden wir bis zum 8. Krank-
heitstag normale oder übergrosse Procentzahlen des Chlors im Harne,
wogegen natürlich die Gesammtmenge des ausgeschiedenen Chlors
Med. Jahrbücher. 1887. 37 (41)
464 ^ick.
entsprechend der geringen Hammenge nnd wohl auch entsprechend
der mangelhaften Aofnahme von Gl Na kleinere Mengen liefert.
Mit dem 9. Tag aber fallt das Procent rapid nnd damit
noch bedeutender die absolate Menge nnd am 12. and 13. Tag
ist das Chlor aus dem Harne gänzlich verschwunden.
Dieses plötzliche Fehlen von Chlor kann nicht mehr
auf Rechnung der Inanition gesetzt werden.
Während des VI. Anfalles ist das Procent bis zum 7. Tag
normal, auch die absolute Menge (wenn die verminderte Zufuhr
berücl^ichtigt wird), dagegen fällt vom 18. — 14. die Chlormenge
rapid und erscheint ebenso rapid am 15. Tag wieder im Harn.
Die Dauer der Säureproduction im Magen kann daher im
VI. Anfall auf 7 Tage veranschlagt werden ; wahrscheinlich trifit
dies auch fiir den V. Anfall zu.
Daraus geht aber noch weiter hervor, dass der Anfall
wahrscheinlich nicht vom Beginn an eine Gastroxie sei, da zu
dieser Zeit noch normale Chlormengen ersichtlich sind, noch bis
zum Schlüsse als selbe gelten kann, da die Chlormengen im Harn
schon normal werden, bevor der Process beendet ist.
Da femer die Chlormengen im Harn selbst an den Tagen
sehr geringe sind, wo kein Erbrechen mehr stattfindet, so ginge
daraus hervor, dass entweder Erbrechen und Säureproduction von
einander unabhängige Vorgänge sind, oder man müsste annehmen,
dass das Chlor nur deshalb im Harn in so geringer Menge erscheint,
weil es jetzt im Blute zurückgehalten wird.
Am 18. Krankheitstag ist das Erbrechen wieder aufgetreten,
trotzdem bereits grosse Chlormengen im Harne erscheinen, was
wieder gegen eine Abhängigkeit spricht.
Wir können daher in unserem Falle nur sagen, die Gastroxie
trete als ein Symptom des Krankheitsprocesses auf, aber dieser
selbst decke sich nicht mit dem gegenwärtigen Begri£f der cere-
bralen Gastroxie.
Es ist dabei femer zu beachten, dass das anamnestische
Moment der geistigen Ueberanstrengung bei den späteren An-
fallen fehlte.
Der X. Anfall hat leider nicht genügende Gelegenheit ge-
boten, obige Annahme einer Säure-Ueberproduction zu beweisen.
(42)
CaBnistischer Beitrag znr Lehre von der Epilepsie. 465
Das Erbrochene konnte nar an 2 Tagen gesammelt werden, ent-
hielt Speisereste nnd Peptone, welche vermuthlich das Hervortreten
der Salzsänrereaction störten. Ein Vergleich mit dem Erbrechen bei
früheren Anfällen ist nicht möglich, da es bei diesen nüchternem
Magen nnd massenhaft erfolgte. Audällig ist aber doch der hohe
Chlorgehalt 8 Stunden nach Mittag.
Wenn wir somit diesen Krankheitsfall mit vollkommenem
Recht weder in die Kategorie der Hemicranie noch der Gastroxie
einstellen können, so bleibt nnr mehr die Epilepsie übrig, nnd
könnten wir dann jene Anfalle ohne epileptische Insulte als
epileptische Aequivalente auflFassen, welche in den übrigen An-
fällen wirklich durch einen epileptischen Insult als solche docu-
mentirt werden.
Nothnagel betrachtet die Erregung des vasomotorischen
und des Krampfcentrums im Anfalle als coordinirte Erscheinung.
Dies gebe die Möglichkeit, zu denken, dass auch jedes Centrum
für sich erregt werden kann und die Erregung des vasomotori-
schen auch längere Zeit andauern kann, während die dauernde
Erregung des Krampfcentrums der Natur der Sache nach mit dem
Fortbestehen des Lebens nicht vereinbar wäre.
üebrigens deuten auch die verschiedenen epileptoiden Zu-
stände, die milderen und rudimentären Formen der Epilepsie,
darauf hin, dass die beim epileptischen Insult supponirte Ent-
ladung in verschiedene Himgebiete und Nervenbahnen, im
schwächeren und im stärkerem Grade stattfinden kann.
In unserem Falle wäre es das vasomotorische Centrum und
das Kemgebiet des Vagus, in welchem die Erregung zuerst
stattfindet, daher die vasomotorischen Erscheinungen, die Puls-
verlangsamung, das Erbrechen und die Säure-Ueberproduction im
Magen, worauf dann nach längerer Zeit erst, aber nicht immer,
das Krampfceutrum gereizt wird.
Die einzelnen Gebiete sind getrennt, daher kein vollkommener
Parallelismus; in manchen derselben muss die Reizung vielleicht
eine intensivere sein, damit die entsprechenden Effecte zu Tage
treten.
Thatsächlich tritt hin und wieder Erbrechen ein , wenn
kein Kopfschmerz mehr besteht und umgekehrt, ist die Säure-
37 ♦ (48)
}
466 Vici^
prodnction noch nicht vorhanden oder hört anf, wenn die übrigen
Symptome noch fortbestehen; es entsprechen sich Pnls und
Temperatnrcarve nicht ganz, der Pals ist noch verlangsamt, wenn
Erbrechen nnd Kopfschmerz aufgehört haben, wenn der epileptische
Insult schon vorüber ist ; ebensowenig parallel gehen die localen
vasomotorischen Symptome mit den übrigen Erscheinungen.
Im grossen Ganzen aber ist der Ablauf sämmtlicher Er-
scheinungen, wie die Tabellen beweisen, ein merkwürdig gesetz-
massiger und gerade dieses Verhalten spricht weniger für Hemi*
cranie oder Gastroxie als für Epilepsie.
Vor Allem ist es die Pulsfrequenz als das am besten zu
beobachtende und am leichtesten jedem Impuls nachgebende
Moment, mit welchem wir daher die übrigen Erscheinungen am
besten vergleichen können.
An ihrem allmäligen Sinken erkennen wir die Zunahme
der Reizung im Gehirn, es wächst der Kopfschmerz und wird
das Erbrechen intensiver, am 11. — 12. Tag hebt sie sich und zu
gleicher Zeit nehmen diese beiden Symptome ab, wird das Be-
finden überhaupt ein besseres.
Sie senkt sich noch einmal und wieder tritt, freilich mit
geringerer Intensität und Dauer, Erbrechen und Kopfschmerz
auf; erst um den 18. — 19. Tag herum recidiviren sie nicht mehr
und um diese Zeit fällt auch die Pulscurve nicht mehr unter
die Norm.
Die dauernde und sehr bedeutende Erhebung über die
Norm kann als Ermüdungserscheinung gedeutet werden, nachdem
durch die Reizung der Vagus bisher eine gesteigerte Thätigkeit
entfaltet hatte.
Eine andere Deutung der Pulsverminderung wäre die, dass
der Vagus das üebergewicht erlangt, weil seine Antagonisten der
herzbeschleunigenden sympathischen Fasern im paralytischen Zu-
stande waren, sowie andere die Carotisverästelung beherrschenden
Zweige; — es ist diese Deutung aber weniger wahrscheinlich,
da wir oben gesehen haben, dass auch in dem übrigen Kem-
gebiete des Vagus eine Reizung vorherrscht und wir dann die
grosse Pulsfrequenzerhöhong auf Rechnung einer Erregung de»
(44)
Gasnistischer Beitrag cor Lehre von der Epilepsie. 467
Sympathicas zurückfuhren müssten, welche, nachdem der Krank-
heitsprocess bereits abgelaufen ist, nicht wahrscheinlich ist.
Die Beobachtung, dass die durchschnittliche Erhebung der
Pulscurve über die Norm ungefähr die gleiche Grösse hat, wie
die vorausgegangene Erniedrigung, ist vielleicht nicht ganz neben-
sächlich, es spielt etwas Mechanik dabei mit.
Nach der Pulscurve zu urtheilen müssen wir daher die
Dauer des Anfalles auf etwa 18 Tage ansetzen, jedoch die Zeit
der Krise bereits in den 10. — 12. Tag verlegen, da hier der
Puls sich zum erstenmale auffallend hebt, ebenso die übrigen
Erscheinungen die erste Besserung erfahren.
Die Beobachtung, so beim VII. und IX. Anfall beweist auch,
dass um diese Zeit herum der ganze Anfall zu Ende sein kann.
Man könnte dem zufolge die nach dem 12. Tag noch ein-
tretende Pulsvermindemng als Recidive oder selbst als einen
2. rudimentären Anfall auffassen.
Einigermassen deutet darauf hin, dass beim VIII. Anfall
erst am 13. Tag noch ein epileptischer Insult erfolgte, nachdem
am 10. und 11. bereits eine Besserung sich bemerkbar machte,
besonders aber der X. Anfall, wo die Krisis in der 3. Woche eintrat.
Die Hirnreizung ist aber das zweitemal nicht so intensiv,
daher ^e geringere Senkung der Pulscurve , die geringere Heftig-
keit der übrigen Erscheinnngen, der unvollkommene Parallelismus,
welcher beweist, dass die verschiedenen Grebiete verschiedener Reiz-
stärke bedürfen.
Vergleicht man nun jnit der Pulscurve die Temperaturcurve,
fio hat sie die Periodicität gemeinsam, aber die einzelnen Perioden
decken sich nicht vollkommen, insbesondere ist der erste Anstieg
der Pulscurve nicht zugleich von einem entschiedenen Emporgehen
der Temperatur begleitet, wenn man auch um den 10., 11. und 1^.
eine Hebung nicht ganz vermisst.
Ausgesprochen ist die Hebung erst am 14., 15. Tag, folgt
also der Pulscurve nach.
Ebensowenig bestimmt ist die Periode des Schwankens und
eines Rückfalles ; dagegen tritt entschieden eine nachherige Tem-
peratursteigung hervor.
(46)
468 wick.
Beobachten wir, dass bis zum 14. Tag auch der Durdi-
schnitt an A.-T. and R.-T. nnter die Norm fallt, während er
später über dieselbe steigt, so können wir sagen, wir haben in
der That es zuerst mit einer Emiedrigang und dann mit einer
Erhöhung der Gesammttemperatnr zu thnn.
Es wäre nun nicht allznschwer, das Sinken der Temperatur
zu erklären, denn erstens nahm er keine Nahrung zu sich und
zweitens fanden durch das Erbrechen Wärmeverluste statt ; wenn
auch vielleicht die Wärmeabgabe durch die Haut in Folge deren
Blutleere verringert gewesen sein mochte.
Schwieriger ist es jedoch die Erhöhung über die Norm zu
zu erklären, da hierzu denn doch die Thatsache, dass er wieder
Nahrung zu sich nehmen konnte, nicht ausreicht
Entweder fand noch weiterhin eine Beschränkung der
Wärmeabgabe von der Peripherie aus statt, welche jetzt eine
Erhöhung mit sich bringen konnte, da die übrigen Wärmeverluste
wegfielen, oder es wurde durch den Stoffwechsel mehr Wärme
gebildet oder die Erhöhung ist rein nervösen Ursprunges.
Die erstere Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, da auch
noch in dieser Periode eine grössere Differenz der Temperaturen
besteht; wie der X. Anfall darthut.
Was nun den Stoffwechsel, soweit er im Harne sich kund-
gibt, betrifft, so ist derselbe in unserem Falle ein eigenthümlicher.
Als Vergleichsobjecte können uns hierin dienen der Stoff-
wechsel bei Hungernden und Fiebernden.
Ich benütze hierzu die Befunde von Tuczek bei ab-
stinirenden Geisteskranken (Archiv für Psychiatrie).
Nachdem bereits ein, zwei Wochen vorausgegangen waren,
untersuchte er von zwei Personen, welche entweder nur Wasser
oder Bier zu sich nahmen, und fand hierbei in 24 Stunden:
bei Grnber:
Ü . . . 12-9 —5-7 —4-7 Grm.
PjiOß . 1-38— 0-72— 0-45 „
Cl . . . 7-0 — 0-43-0117 „
kein Indican, aber Aceton
(46)
U . . . 240—640
PjiOj . 21— 4-8
Cl . . . 4—00
kein Aceton.
CasTiiatisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 469
Der Vergleich der beiden Reihen ist statthaft, da die bereits
oben beschriebene Appetitlosigkeit sogleich im Beginn der Anfälle
vorhanden war und bis zum 12. Tag feste Speisen gar nicht
genommen and die flüssigen fast ihrer ganzen Menge nach er-
brochen wurden, auch später bis zu dem 18. Tag noch nicht
voller Appetit und zeitweise Erbrechen bestand.
Wie aus dieser Gegenüberstellung zu entnehmen ist, war
der Stoffwechsel in unserem Falle in Bezug auf Harnstoff und
Phosphorsäure gerade der entgegengesetzte und können wir ihn
dem Fieberstoffwechsel zur Seite stellen.
Die Analogie erstreckt sich auch auf die Harnsäure-Aus-
scheidung.
Man Ibetr achtet die Sedimentirung der harnsauren Salze,
was man früher eine Erisis nannte , gegenwärtig als eine nichts-
sagende Erscheinung, da sie nur abhängig von der Concen-
tration des Harnes und der äusseren Temperatur sei.
In unserem Falle scheint die Sedimentirung nicht ganz die-
selbe geringe Bedeutung zu besitzen, denn im V. und VI. Anfall
waren ihrer Ausscheidung gleiche oder noch höhere Concentration
des Harnes vorausgegangen, ebensowenig war vorher in den
äusseren Verhältnissen eine Ursache der Nichtausscheidung gelegen.
Es musste daher an diesen Tagen, wo sie sedimentirte, die
Hamsäuremenge wirklich vermehrt gewesen sein oder war hier
noch ein anderer Umstand im Harne selbst gegeben, welcher die
Sedimentirung begünstigte.
Ob nun das Eine oder das Andere der Fall ist, der
Zusammenhang mit dem Eintreten einer Wendung im Zustande
ist der Zeit nach gegeben und unverkennbar auch ein ursächlicher.
Es wäre immerhin möglich, dass die Sedimentirung der
hamsauren Salze bei Abfall der acuten Fieber doch nicht eine
so nichts bedeutende Erscheinung sei, da der Erisis oft genug
gleich concentrirte Harne unter gleichen übrigen Verhältnissen
vorangehen, ohne dass man diese auffällige Erscheinung ein-
treten sieht.
Man findet weiters bei acut fieberhaften Krankheiten, dass
der Harnstoff und die Fhosphorsäure noch nach dem Aufhören
des Fiebers vermehrt ausgeschieden werden, woraus man eben
(47)
470 Wick.
auf eine Retention derselben schliesst; das Gleiche findet iH
unserem Falle statt.
Wir haben also anscheinend einen Fieberstoffwechsel vor
uns und doch keine Fiebertemperatar.
Denke man sich filr einen Augenblick Pols- und Temperatar-
curye verkehrt um die Normallinie sich hebend und senkend, so
bekäme man den Eindruck einer acut fieberhaften Erkrankung
mit typischem Verlauf.
Wir wissen ja auch bei letzterer nicht, wodurch der Typus,
speciell der mehr weniger rasche Abfall des Fiebers, die Lösung •
des Processes zu Stande kommt, ob durch gewisse Eigenschaften
der Noxe oder durch die Gegenwirkung des Körpers, speciell
durch nervöse Einflüsse.
In unserem Falle ist der Verlauf ein typischer und die
Krisifl augenscheinlich durch Vorgänge im NervenBystem herbei-
gefuhrt. Es bestehen also Analogien zwischen diesen Processen;
die Herkunft der Erisis in unserem Falle ist daher geeignet auch
einiges Licht auf die Entstehung der Erisis bei den fieberhaften
Erankheiten zu werfen.
Wenn wir nun wirklich einen Fieberstoffwechsel annehmen,
so ist die Erniedrigung der Temperatur in der L Periode umso
auffallender und wir werden sie weniger auf die oben bemerkten
Wärmeverluste , als vielmehr auf nervöse Einflüsse zurückftihren
müssen, wobei wir uns denken, dass unter den verschiedenen
nervösen Centren auch das der Wärme und Stoffwechselregu-
lirung durch den zu Grunde liegenden Process erregt wird.
Ueber die Wärmebildung in Folge des Stoffwechsels lässt
sich natürlich kein Urtheil abgeben, da wir durch die Harnunter-
suchung blos den Zerfall von Eiweiss bestimmen, und wir daher
keineswegs bestimmt von einem Fieberstoffwechsel sprechen können.
Es wäre aber immerhin möglich, dass die Temperaturerhöhung
der 3. Periode ausser auf die oben erwähnten Einflüsse auch auf
Rechnung des Stoffwechsels käme.
Eeineswegs entspricht die Menge der aufgenommenen Nahrung
der Grösse der zu dieser Zeit beobachteten Ausscheidung an
Harnstoff und Phosphorsäure , selbst , wie ich vermuthen möchte,
an Chlor (die Uebereinstimmung des Befundes am 23. Tag des
(48)
Gasnistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 471
VI. und X. Anfalles ist charakteristisch). Diese vermehrte Aus-
scheidung an Stoffen kommt nicht blos auf Rechnung der grösseren
Fliissigkeitsaufnahme , denn hier überschreitet die Menge des Harns
die Grenzen der von einer grösseren Fliissigkeitsaufnahme her-
rührenden physiologischen Mehrausscheidung, ist demnach auf
geänderte Verhältnisse in der Niere in Bezug auf Blutgehalt und
Innervation zu beziehen. Die Annahme eines vermehrten Stoff-
wechsels ist demnach begründet.
Einigermassen beachtenswerth ftir die hier in Betracht
kommenden Einflüsse ist, dass bei Eintritt der epileptischen Insulte
die Temperaturcurve eine vorübergehende geringe Steigung erfährt.
Wenn wir weiters finden, dass Temperatur und Pulscurve
nicht vollständig parallel gehen, so könnte die Erklärung darin
liegen, dass die Körpertemperatur von mehr Factoren als die
Pulsfrequenz abhängig ist und nicht so rasch jedem Impuls
folgen kann.
Der vorliegende Stoffwechsel ist weiters interessant durch
das vermehrte Auftreten von Indican, durch die Abänderung des
normalen Ausscheidungsverhältnisses von Phosphorsäure zu
Stickstoff.
Obige Rechnung weist darauf hin, dass besonders die an
Alkalien gebundene Phosphorsäure vermehrt war, dass ausser Muskel
noch eine andere phosphorhältige Substanz einen vermehrten
Zerfall erlitt; als solche könnte das Nervensystem in Anspruch
genommen werden, da wir es mit einer Neurose zu thun haben.
Die Zahl, welche auf Rechnung dieses käme, ist aber doch
zu gross, als dass es allein herangezogen werden könnte, denn
der Gehalt des ganzen Nervensystems an Phosphor wird auf nur
12 Grm. geschätzt.
Was die Indicanausscheidung anbelangt, so liegt es nach
der besonders im V. Anfall gemachten Beobachtung nahe, an
einen directen Zusammenhang mit dem nervösen Vorgang zu
denken; man wird sich dabei aber erinnern, dass vermehrte
Indicanausscheidung auftreten gesehen wurde bei raschem Zerfall
von Organeiweiss, bei Hindernissen in der Defäcation, Momente,
welche hier ebenfalls vorlagen.
(49)
472 Wick.
Yergleicfaen wir nun Kopfschmerz und Pulsfrequenz, so stellt
sich heraus, dass mit dem Steigen des Pulses der Kopfschmerz
aufhört, mit dem Sinken desselben wieder beginnt.
Besonders genau trifft dieses Verhältniss zu beim IV., VI.
und VII. Anfall.
Dass diese beiden Erscheinungen nur parallel laufen, aber
nicht im Gausalnexus stehen, beweist die Beobachtung des Y. und
VIII. Anfalles, wo trotz sehr yerlangsamten Pulses der Kopfschmerz,
wenn auch nur ftir kurze Zeit, cessirte.
Es ist auch kein Gausalnexus mit der Temperatur vorhanden,
da er wieder beginnt, während die Temperatur bereits gestiegen
ist, auch nicht mit dem Erbrechen und der Säureproduction im
Magen, wie die Uebersicht lehrt ; allerdings ist hierbei zu berfick-
sichtigen, dass diese Discontinuität erst beginnt nach dem
12. Krankheitstag; bis dahin läuft er mit der Erscheinung des
Erbrechens parallel.
Dagegen scheint das Experiment der Garotiscompression
eine Abhängigkeit von vasomotorischen Zuständen, von einer
Fluxion im Gebiete der Garotis zu ergeben.
Der vasomotorische Ursprung des Kopfschmerzes scheint
weiters noch daraus hervorzugehen, dass am 11. — 12. Krankheits-
tag, wo die erste und ausgiebigste Aenderung im Zustand eintritt,
auch die übrigen vasomotorischen Erscheinungen geringer werden,
so die Rötbung der Ohrmuscheln, der Bindehäute etc.
Eine andere Frage ist die, ob die Fluxion dazu allein
ausreicht.
Von Eulenburg wird das Hauptgewicht auf acute Schwan-
kungen des endocraniellen Blutgehaltes und die asymmetrische
Blntvertheiluug gelegt.
Solche Schwankungen müssen wir wohl annehmen, wenn
z. B. im V. und VIII. Anfall das Gesicht auffallend blass wird,
die gerötheten Stellen etwas livid werden.
Dagegen an den Tagen vor den Insulten oder in jenen
Anfällen, welche ohne Insulte verliefen, hatte man keineswegs
den Eindruck , dass solche Schwankungen stattfanden und damit
stimmt auch überein , dass der Schmerz nahezu ein continuir-
licher war.
(50)
Gasnistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 473
Eine Asymmetrie in der Blutvertheilmig ist nicht anzunehmen,
da ja beide Carotiden zu gleicher Zeit im selben Zustande waren.
Wenn schon eine Asymmetrie in unserem Falle bestand , so
war dies nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen den
vorderen und hinteren Partien der Fall.
Denkt man sich die Vertebralarterien , sowie die Radialis
blutleer, verengt, so wird trotz des Circulus Willisii in den von
ihnen versorgten Gehimtheilen, also besonders im Gehimstamme,
eine gewisse Anämie vorherrschen, während in den von der
Carotis versorgten Hirntheilen Fluxion bestünde.
Die Thatsache dagegen, dass er namentlich zur Zeit der
epileptischen Insulte von aussergewöhnlicher Heiligkeit war und,
wie bereits oben bemerkt, einmal die Stelle der Bewusstseins-
Störung zu vertreten schien, deutet auf einen Zusammenhang
weniger mit den vasomotorischen Erscheinungen, als mit dem rein
nervösen Processe des Insultes, überhaupt der Epilepsie. Es ist
keine Gephalalgia vasomotoria, sondern epileptica, wie Sieveking
vorgeschlagen hat, die Migräne zu bezeichnen.
In Bezug auf den Ort seiner Entstehung können die übrigen
Erscheinungen, welche so bestimmt auf das verlängerte Mark
deuten, zu der von M o e b i u s gemachten Annahme einer Reizung
der absteigenden Trigeminuswurzel verwerthet werden.
Füge ich noch hinzu, dass der Kopfschmerz vermehrt wurde,
durch in Anspruchnahme des Denkens, durch Lageveränderungen,
einmal durch Gigarrenrauchen , so sind die wichtigsten Momente
zur Beurtheilung seiner Herkunft gegeben, aber eine sichere Er-
klärung gebt aus dem Falle nicht hervor.
Auch die Thatsache seiner Verminderung auf Carotiscom-
pression muss nicht nothwendig auf die Hyperämie als Quelle
deuten, da bei Compression der Carotisgegend auch andere Theile
gedrückt werden und ein Reflex ausgelöst werden könnte.
Wäre die endocranielle Blutschwankung als solche Schuld,
am Kopfschmerz , so müsste ein Druck auf die Carotis ihn eher
vermehren, indem dadurch plötzlich eine bedeutende Schwankung
derselben herbeigeführt wird.
Es scheint mir demnach der vasomotorische Ursprung des
Kopfschmerzes nicht bewiesen, dagegen scheint es selbstverständ-
(61)
\
474 Wict
lieh, dass, wenn er aus anderen Ursachen schon besteht, Circnlations-
stömngen den grössten Einflnss anf ihn ausüben nnd ich hatte
selbst in einem Falle beobachtet, wie auf Compression der linken
Carotis der Kopfschmerz links verschwand nnd sofort rechts auftrat.
Wie immer nnn der Kopfschmerz erklart werden mag, so
yiel scheint hervorzogehen , dass er im Yorliegenden Falle Yon
derselben Natar wie bei der Hemicranie ist.
Indem wir nnn aber den ganzen Process ans den bereits
angegebenen Gründen fbr Epilepsie erklaren, so werden wir anch
sagen müssen, der Kopfschmerz in unseren Fall sei ein Symptom
der Epilepsie.
Daraus würde man weiter zur Auffassung gelangen, dass
die genuine Hemicranie selbst nichts Anderes als Epilepsie sei,
dass die gegenwärtig angenonmiene hemicranische Veränderung
die epileptische sei.
Bereits wurden Fälle beobachtet (Eulenburg, Bins-
w a n g e r) , wo Migräneanfalle mit epileptischen abwechselten
oder diesen vorangingen; aber ein Anfall, wo während einer
Migräne auch epileptische Insulte aufgetreten wären, wurde bisher
nicht beobachtet.
Ein solcher Fall aber ist (wenn wir von obiger Einwendung
gegen die Bezeichnung als Hemicranie absehen) der oben
beschriebene.
Wir wissen, dass an Stelle der epileptischen Anfälle bei
gewissen Individuen Psychosen auftreten, die häufig mit einem
epileptischen Anfall abscbliessen, welcher mitunter erst Licht über
die Natur der vorausgegangenen Störung verbreitet.
Leidesdorf will solche Psychosen nicht blos als epilep-
tische Aequivalente, sondern als epileptische Psychosen geradewegs
aufgefasst wissen.
Dasselbe Yerhältniss findet in unserem Falle statt ; der An-
fall beginnt als Hemicranie und endet mit vollständigen oder
rudimentären epileptischen Anfällen, welcher dann ftlr den epilep-
tischen Charakter der Erkrankung zeugt, kann aber auch ganz als
Hemicranie verlaufen.
Hält man dies zusammen mit den Beobachtungen Eulen-
burg^s und Binswanger^s, so geht daraus hervor, dass an
(62)
Casnistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 475
Stelle des epileptischen Anfalles ein hemieranischer treten kann,
als Aeqnivalent desselben und weiters, dass die genuine Hemi-
cranie selbst nur eine Form der Epilepsie sei.
Als Erklämng hierfür könnte man sich denken, dass die
epileptische Verändemng auch nur in einer Gehirnhälfte ihren
Sitz haben kann, und die supponirte Entladung ebenfalls nur auf
einer Seite vor sich geht, und aus diesem Grunde auch zu wenig
intensiv ist, um die Hemmung in den motorischen Gentren zu
überwinden.
In unserem Falle wäre nun wohl die epileptische Verände-
rung auf beiden Seiten vorhanden zu denken, darum kommt es
auch zu einem epileptischen Insult.
In den übrigen Anfällen ohne Insulte ist aber die Entladung
in einer weniger intensiven und auf gewisse Bahnen beschränkte
Weise, in einem langsameren Ablaufe zu denken, analog dem Ver-
halten der epileptischen Psychosen.
Der classische epileptische Anfall wäre unter den verschie-
denen Möglichkeiten des Ablaufes der Entladung nur der specielle
Fall, wo die supponirte Entladung beiderseits zu gleicher Zeit
plötzlich und im heftigsten jede Hemmung überwindendem Masse
stattfindet.
Die gleiche Argumentation gilt von der in diesem Falle
beobachteten Gastroxie ; sie ist hier nur Symptom der epileptischen
Grundkrankheit, und es bestätigt dieser Fall die Erklärung der
Gastroxie von M. Rosenthal als auf centraler und direct fort-
geleiteter Beizung beruhend.
Bisher wurde sie zwar nicht altemirend mit Epilepsie beob-
achtet ; aber die Möglichkeit, dass man einmal ein solches Alter-
niren beobachtet, wäre nicht ausgeschlossen.
Wir könnten in unserem Falle diejenigen Anfälle, welche
ohne epileptischen Insult verliefen, statt als Hemicranie und viel-
leicht richtiger auch als Gastroxie bezeichnen.
Es wäre dann dies die epileptische Gastroxie zum Unter-
schiede von aus anderen Gründen auftretenden Gastroxien.
(58)
476 Wick.
Die Thatsacbe, dass in diesen Anfällen die Patellarreflexe
verschwanden, mnsste im Beginne der Beobachtung die Frage
einer gastrischen Krise, wie sie bei Tabes beobachtet wird, auf-
werfen lassen, deren Beginn darch ebensolche Krisen mitunter
bezeichnet wird.
Abgesehen vom weiteren Verlauf hätte die Wiederkehr des
Reflexes eine derartige Vermuthung gegenstandslos gemacht.
Es fällt aber durch obige Beobachtung einiges Licht auf die
Entstehung der gastrischen Krisen selbst.
Die Abnormitäten in der Harnausscheidung, im Stoffwechsel
lassen auch noch die Frage aufwerfen, ob man es in diesem Falle
nicht mit einer Autointoxication gleich der Urämie oder Acetonämie
zu thun habe.
Den Anfall als Ganzes können wir nicht leicht darauf zurück-
ilihren, da der Stoffwechsel im Beginne anscheinend nicht gestört
war, also höchstens die epileptischen Insulte.
Diese Möglichkeit ist nicht ganz ausgeschlossen, da in der
That eine Retention von Stoffwechselproducten stattfand, und
nach den neuesten Untersuchungen selbst der Harnstoff nicht als
so indifferent für das verlängerte Mark sich herausstellt.
Wahrscheinlich ist eine solche Erklärung aber doch nicht,
da diese Insulte selbst zu einer Zeit auftraten, wo keine Retention
mehr anzunehmen war, und wir in Bezug auf den Harnstoff
geradezu finden, dass er in abnorm grosser Menge ausgeschieden
wurde, andere abnorme Stoffe aber fehlten.
Man musste daher nur annehmen, dass ganz unbekannte
Verbindungen entstanden seien, welche man nicht findet, weil
man nicht darnach sucht, oder weil sie bereits in die Endprodncte
umgewandelt, ausgeschieden werden.
Schliesslich sei mir noch gestattet, zu bemerken, dass mit
dem Vorstehenden keineswegs alle Analogien und Möglichkeiten
erschöpft wurden; es sind jedoch noch weiterhin' Anfälle zu er-
warten, welche möglicher Weise neue Thatsachen bringen und
damit eine Fortsetzung obiger Ausführungen ermöglichen könnten.
(54)
Gasoistisclier Beitrag zur Lehre von der Epilepsie. 477
Anhang.
Inzwischen brachte die Berliner klinische Wochenschrift einen
Bericht tiber den Hungerversuch C e 1 1 Ts , und so sei mir gestattet,
eine kleine Parallele in Bezug auf den Stoffwechsel zu ziehen.
Vergleicht man die Hamstoffausscheidung in unserem Falle
mit derjenigen Cetti's, so sieht man sie bis zum 11. (V.) — 12.
(VI.) Krankheitstag grösser als bei C e 1 1 i , wo sie auf 20 Grm.
sank. Die Ursache kann darin liegen, dass besonders im Beginne
nicht jeden Tag Alles aus dem Magen durch Erbrechen entfernt
wurde. Die Fhosphorsäure-Ausscheidung war in unserem Falle bis
zum 11. — 12. Tag, besonders im V. Anfall geringer, das Verhältniss
zum N wich nicht so bedeutend von der Norm ab wie bei C e 1 1 i,
während sich im VI. Anfall die absoluten und relativen Zahlen
denen bei Cetti (im Durchschnitt bei Gruber 1 : 5, bei Cetti
1 : 4'5) bedeutend nahem.
Man wird demnach nicht weit fehlgehen, wenn man die
Befunde der N- und P^ Os-Ausscheidung bei G r u b e r bis zum
11. — 12. Tag auf Rechnung der Inanition setzt.
Im Allgemeinen gilt dies auch von der Cl-Ausscheidung,
doch weicht unser Fall darin ab, dass die Cl-Menge im Harn
rapid sinkt und gänzlich verschwindet, während bei Cetti noch
am letzten Hungertag 0*6 Grm. Cl zu finden waren.
Diese Abweichung weist noch auf einen anderen Einfluss
hin, der natürlich nur die Cl-Ausscheidung durch das Erbrechen
sein kann.
Indem wir oben das rapide Sinken des Cl zu einem Beweis
für das Bestehen einer Gastroxie und zur Bestimmung des Ein-
tritts derselben verwertheten, gibt uns der Befund bei Cetti ein
weiteres Recht dazu. Dieses Recht könnte nur durch den Hinweis
auf die Erfahrung beim hungernden Hunde, wo die Cl-Menge
ebenfalls rapid und auf ein Minimum sinkt, in Frage gestellt werden ;
aber es wurde oben ausserdem constatirt, dass das Erbrechen von
stark saurer Beschaffenheit war, und im X. Anfall wurden sowohl
Acidität wie ungewöhnlich hoher Cl-Gehalt festgestellt. Die Ina-
nition war ja Folge des Erbrechens und muss für die Aus-
scheidungsverhältnisse vor Allem die Ursache der Inanition mass-
gebend sein.
(65)
478 Wick.
Im Falle Cetti wurde ferner festgestellt, dass an der
Phosphorsäure-Ausscheidang hauptsächlich die Knochen betheiligt
waren. In unserem Falle dagegen entsprach die Menge der an
die Erden gebundenen Phosphorsäure diesem Verhalten nicht. Auf
die Frage aber, woher jenes Plus an Phospborsäure stammt, kann
ich gegenwärtig schon deshalb nicht eingehen, weil die quanti-
tative Bestimmung der Erden und Alkalien fehlt.
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass im Falle Cetti
im Harn eine grosse Menge von Aceton und Phenol, dagegen
kein Indican gefunden wurde, während in unserem Falle Indican
vermehrt war, dagegen Aceton und Phenol fehlten.
In diesem Verhalten stimmt unser Fall eher mit den Er-
fahrungen beim hungernden Hund tiberein, wo die Indicanaus-
scheidung eine colossale, dagegen der Phenolgehalt des Harns ein
minimaler ist. Ein directer Zusammenhang der vermehrten Indican-
ausscheidung mit der Neurose ist demnach wohl abzulehnen, aber
andererseits auch schwer zu bestimmen, worin die besprochenen
Unterschiede begründet sind.
Indem uns nun der Hungerversuch G e 1 1 i's die Möglichkeit
offen lässt, dass auch in unserem Falle bis zum 11. — 12. Tag nur
der Stoffwechsel der Inanition vorliege, so ist doch hierdurch obige
Anknüpfung an den Fieberstoffwechsel (soweit natürlich der Harn
ein Urtheil zulässt) nicht gegenstandslos geworden.
Auch beim Fieber ist ja Inanition vorhanden, und darum
müssen die drei verglichenen Processe, nämlich Fieber, Hunger
und vorliegende Neurose gewisse Ausscheidungsverhältnisse ge-
meinsam haben; für uns aber handelt es sich mehr die unter-
scheidenden Merkmale festzustellen, und an solchen mangelt es,
wie die obigen Ausführungen darthun, nicht. Auf den einen
Umstand sei bei Beurtheilung der grösseren Hamstoffinengen auf-
merksam gemacht, dass unser Patient zur Zeit des V. und VI. An-
falles im Ganzen gut genährt und das Unterhautzellgewebe ent-
sprechend fettreich war, während Cetti als mager bezeichnet ist.
-m^
a^
xvni.
lieber Harnsäure im Bhte and einigen Organen
und Geweben.
Von
Dr. M. Abeles.
(Aus dem Lik Oratorium dos Horrn Prof. E. Ludwii in Wien.)
(Am 31. Mai 1887 von der Bedaction übernommen.)
Kleine Mengen von Hamsäare wurden schon vor langer
Zeit in yerschiedenen thierisehen Organen gefunden, so in der
Leber ^) (besonders bei Vögeln), in der Milz (Scherer, Cloetta,
Gornp-Besanez^), in den Muskeln (L i e b i g ^). Im Rinderblute
wurde Harnsäure von Scherer und Strecker^) und im Blute
mit Fleisch gefütterter Hühner von Meissner^) nachgewiesen.
Garrod^) bestimmte den Hamsäuregehalt des Blutserums bei
Arthritis urica und bei Morbus Brightii mit 0*045 — 0'175 pro Mille
und er wies in zahlreichen Fällen von Arthritis die Anwesenheit
von Harnsäure im Blute mittelst seines „ Fadenexperimentes ^ nach,
in dem er sie an einen in^s Blut getauchten Faden ankrystallisiren
liess — Angaben, die einer Ueberprüfung nach neueren Methoden
sehr bedfirftig sind.
^) Hoppe-Seyler, Fhysiol. Ghem., pag. 430, 646, 717 u. 720.
') Katar n. BehandL d. Gicht. Deutsch Ton Eisenmann. Würzbnrg 1861.
Med. Jahrbücher. 1887. 33 (i)
1
480 Abeles.
In jüngster Zeit hat y. Schröder i) Leber und Blut von
Vögeln anf ihren Gehalt an Hamsänre untersucht. Er fand im
Blute Spuren bis 0-010«/o und in der Leber O'Oll— 0-440Vo.
Y. Sehröder bediente sich zur Tsolirung der Harnsäure der
Salkowskfschen Methode, deren Genauigkeit er vorher neuer-
dings feststellte. Er konnte mit derselben aus wässeriger alka-
lischer Lösung noch 1 Milligrm. Harnsäure ans 200 Ccm. Wasser
fällen und mit der Murexidprobe nachweisen. Ebenso gelang es
ihm, nach Zusatz von 1 Milligrm. Harnsäure auf 100 Gem. defibri-
nirtes Rinderblut erstere noch mit Sicherheit nachzuweisen.
Ich habe verschiedene Organe, sowie normales Thier- und
Menschenblut auf die Anwesenheit von Harnsäure geprüft und
mich dabei der Methode von E. Ludwig^) bedient, welche eben so
genau ist wie die S a 1 k o w s k i'sche, aber den Vortheil schnellerer
Ausführbarkeit bietet. Sie unterscheidet sich bekanntlich haupt-
sächlich darin von der Salkowsk i'schen, dass durch gleichzeitigen
Zusatz von Magnesiamixtur und ammoniakalischer Silberlösung die
Harnsäure als Magnesiumsilbersalz und die Phosphorsäure als phos-
phorsaure Ammoniakmagnesia gefällt und der Niederschlag einfach
mit Schwefelnatrium zerlegt wird.
Meine Untersuchungen erstreckten sich auf Leber nnd Blut
vom Pferde, Leber, Muskel und Blut vom Hunde und auf Leber,
Milz, Muskel, Kniegelenk und Blut vom Menschen.
Leber, Milz und Muskel wurden mit einer Fleischmaschine
zerkleinert, in viel Wasser, dem etwas Kalilauge zugesetzt war,
gebracht , darin eine halbe Stunde gelassen , darauf Essigsäure
bis zur deutlichen sauren Beaction zugesetzt und durch 2 Stunden
gekocht, dann colirt und abgepresst. Die Colatur wurde nach
Schmidt-Mülheim mit essigsaurem Natron nnd Eisenchlorid
enteiweisst und bei schwach saurer Reaction auf ein Volumen
von 70 — 100 Com. eingedampft. Es war nicht zu befürchten, dass
so kleine Mengen Harnsäure, die in den genannten Organen ent-
halten sein konnten, etwa bei saurer Reaction herausfallen würden,
hingegen ist die Anwesenheit von freiem Alkali schädlich. Ich
*) Hamsäuregeh. d. Blutes u. d. Leber der Vögel. * Separatabdr. aus der
C. Lndwig'schen Jnbilänmsfestschrift.
») Wien. med. Jahrb. 1884.
(2)
üeber Hamsänre im Blute und einigen Organen und Geweben. 481
habe auch bei dieser, sowie bei einer anderen Arbeit über Harn-
säure, mit der ich seit langer Zeit beschäftigt bin, sowie
V. Schröder stets die Vorsicht gebraucht, Harnsäure nie lange
in alkalischer Lösung zu lassen.
Von den Kniegelenken wurden Kapsel, Bandapparat und
der grösste Theil des Knorpels lospräparirt und durch eine Stunde
gekocht, colirt und weiter wie die anderen Organe behandelt.
Die vom Knorpel und Bandapparat zum grössten Theil
befreiten Gelenksenden wurden gesondert in derselben Weise
verarbeitet.
Das Blut wurde auf das 5 — lOfache Volumen verdünnt,
essigsaures Natron und Eisenchlorid zugesetzt und wie früher bei
schwach saurer Keaction gekocht, colirt und abgepresst.
Da bei der Schmidt-Mülheim'schen Enteiweissungs-
methode auch die Phospbate mitgefällt werden, so wurde den
enteiweissten , eingedampften Lösungen zuerst etwas phosphor-
saures Natron zugesetzt, dann erst mit der Mischung von ammoniaka-
lischer Silberlösung und Magnesiamixtur gefällt, der Niederschlag
aufs Filter gebracht, mit ammoniakalischem Wasser gewaschen,
mit der Luftpumpe gut abgesaugt und mit Einfach-Schwefel-
natrium zerlegt, dann vom Schwefelsilber-Niederschlag abfiltrirt
und das mit Salzsäure angesäuerte Filtrat in einer Glasschale ein-
gedampft. In jenen Fällen, wo das Schwefelsilber sich nicht gut
absetzte, sondern in der Lösung fein vertheilt blieb, habe ich
noch vor dem Filtriren angesäuert, da sich erfahrungsgemäss
Schwefelmetalle besser aus sauren als aus alkalischen Flüssigkeiten
abscheiden. Die Lösung ging dann klar, gewöhnlich ohne mit-
gerissenes Schwefelsilber durch das Filter. Zuweilen aber ballten
sich während des Eindampfens doch noch einige schwarze Klümp-
chen zusammen, in welchem Falle rasch nochmals filtrit wurde.
Da es sich mir überhaupt nur um qualitativen Nachweis handelte
und die Lösungen sehr verdünnt waren, habe ich die Möglich-
keit, dass aus der sauren Lösung sofort ein Bruchtheil der Harn-
säure herausfallen könnte, nicht weiter berücksichtigt. Ich glaube
aber, dass man ohne wesentliche Schädigung der Genauigkeit auch
bei quantitativen Bestimmungen im Harn so vorgeben könnte,
wenn das Schwefelsilber — gleichviel ob bei der Ludwig'schen
38 ♦ <3>
1
482 Abeles.
oder der SalkowskTschen Methode — in der Lösung saspen-
dirt bleibt und durehs Filter geht. Würde man heiss und schnell
filtriren, so dürfte kaum ein Verlust an krystallinischer Harnsäure
eintreten. Doch besitze ich darüber keine Erfahrung.
Die saure Flüssigkeit in der Glasschale wurde auf wenige
Cnbikcentimeter eingedampft und behufs Ausscheidung der Harn-
säure 24 Stunden in der Kälte stehen gelassen. Dann wurde
der gesammte Rückstand auf ein kleines Filter gebracht, ge*
waschen, nach der Vorschrift £. Ludwig's mit Alkohol und
Aether entwässert, mit Schwefelkohlenstoff entschwefelt, dann
trocken vom Filter abgekratzt und die Murexidprobe angestellt.
Da nach den Untersuchungen von Salkowski und M a 1 y
die Harnsäure auch aus concentrirter salzsaurer Flüssigkeit nicht
YoUstandig herausfällt, sondern ein kleiner Theil immer noch in
Lösung bleibt, und da die Murexidprobe sehr empfindlich ist,
habe ich in jenen Fällen, wo der Rückstand in der Schale sehr
geringfügig war und gewiss nur zum kleinsten Theile aus Harn-
säure bestehen konnte, einige Tropfen der Flüssigkeit aus der
Schale mit einer Pipette abgehoben, dieselben in ein Porzellan-
schälchen gegossen, mit einigen Tropfen Ammoniak neutralisirt,
auf dem Wasserbade zur Trockne eingedampft und dann in
dem Schälchen die Murexidprobe angestellt. Es gelingt dies sehr
gut , nur ist dabei die Vorsicht zu beobachten , dass beim Er-
wärmen mit Salpetersäure das Schälchen stetig so herumgedreht
wird, dass die Flüssigkeit in möglichst dünner Schichte vertheilt
wird. Man merkt dann zuerst vom Rande her die zwiebelrothe
Färbung, die auf Zusatz von Ammoniak in das bekannte Purpar
und mit Kalilauge in Violett übergeht.
L 400 Grm. frische Pferdeleber. Der auf den gewaschenen
und getrockneten Filter bleibende Rückstand gibt
deutliche Murexidprobe.
300 „ defibrinirtes Pferdeblut. Keine Reaction.
n. 250 » Pferdeleber. Deutliche Murexidprobe.
300 „ defibrinirtes Pferde bin t. Keine Reaction.
ni. 150 „ Hundeleber. Schwache aber noch charakteri-
stische Murexidreaction.
<4)
Ceber Harnsäare im Bhite nad einigen Organen und Geweben. 483
320 Grm« Hnndemnskel. Schwache, aber noch charakteri-
stische Mnrexidreaction.
250 j, nicht defibrinirtes arterielles Hnndeblut. Keine
Reaction.
IV. 230 j, nicht defibrinirtes venöses Hnndeblnt. Keine
Reaction.
Der negative Befnad im Blnte veranlasste mich , die
Lndwig^sehe Methode auf ihre Genauigkeit fiir meine Zwecke
2n prüfen (die erwähnte Arbeit v. Schröder war zur Zeit, da
ich diese Untersnchnngen anstellte, noch nicht erschienen).
V. Zn 200 6rm. frischen nicht defibrinirten Hnndeblnts
werden 0*004 6mL in Kalilauge gelöste Harnsäure gesetzt und
das Blut wie früher behandelt. Sowohl mit einigen Tropfen
der eingedampften Lösang, wie mit dem trockenen Rück-
stand auf dem Filter gelingt schöne Mnrexidprobe.
VI. Zn 200 Grm. friscb^i nicht defibrinirten Hundebluts werden
0*002 GmL Harnsäure gesetzt. Deutliche Mnrexidreaction wie
früher.
Mit der Lndwi gesehen Methode lässt sich demnach noch
Harnsäure im frischen nicht defibrinirten Hundeblut in
unzweifelhafter Weise nachweisen, wenn man 2 Milligrm. auf
200 Grm. zusetzt.
Die Untersuchungen v. Schröder's^) über die hamstoflf-
bildende Thätigkeit der durchbluteten Leber, sowie die neuere
Arbeit von Minkowski^), der bei Vögeln durch Ausschaltung
der Leber aus dem Kreislauf eine rasche Verminderung der aus-
geschiedenen Harnsäure beobachtete, legten mir den Gedanken
nahe, dass das die Leber durchströmende Blat in diesem Organe
die Hauptmenge der Harnsäure aufnehmen könnte, so zwar, dass
sie im Blute der Lebervenen nachweisbar wäre, während im
übrigen Kreislauf die Verdünnung hierfür eine zu grosse ist. Ich
habe deshalb in zwei Versuchen an Hunden sowohl Pfortader-,
als Lebervenenblut auf Harnsäure untersucht. Die Blutproben
wurden noch nach der von v« Mering') angegebenen und von
^) Arch. f. exper. Fatii. nnd Fhann. Bd. XY, pag. 364.
') Ebenda. Bd. XXI, pag. 4L
•) Du Bois* Areh. 1877.
(5)
]
484 Abeles.
T. Basch modificirten Methode entnommen, ganz 80 wie es
See gen') undich^) anlässlich vergleichender Bestimmungen de»
Zuckergehaltes des Blutes der Pfortader mit dem der Lebervenen
gethan. Das Resultat war ganz negativ.
Vn. Grosser Hund wird mit Fleisch gefüttert. 3 Stunden nach der
Fütterung werden je 200 Grm. Blut aus der Pfortader und
den Lebervenen entnommen. Keine Murexidreaction.
Vni. Derselbe Versuch wird wiederholt. Keine Reaction.
Es lässt sich aus diesem negativen Ergebnisse kein Schluss
ziehen, ob das Blut in der Leber Harnsäure aufnimmt oder nicht.
Der Hund ist jedenfalls für diesen Versuch nicht geeignet, da er
fiberhaupt nur sehr wenig Harnsäure erzeugt, denn auch der
Hundeham ist verhältnissmässig sehr arm daran. Im Hundeblat
kann nur eine äusserst geringe Menge vorhanden sein, die selbst
den heutigen verfeinerten Methoden entgeht.
Es ist mir aber gelungen, imnorm^alen menschlichen
Blut Harnsäure aufzufinden. Ich hatte Gelegenheit Organe und
Blut zu untersuchen, die von einem 24jährigen, durch den Strang
justificirten Mörder herrührten. Die üntersuchungsobjecte gelangten
4 Stunden nach eingetretenem Tode in meine Hände.
IX. 187 Grm. Blut, wie früher verarbeitet. Einige Tropfen aus
der Glasschale geben sehr schöne Murexid-
reaction.
143 „ Leber. Sehr deutliche Reaction.
110 j, Milz. Sehr deutliche Reaction.
4B0 n Muskel. Schwache durch beigemengtes
Schwefelsilber undeutlich gemachte
Reaction.
Knorpel und B an dapparat.Sehrschöne Reaction.
Die Gelenksenden (denen aber noch Reste von K norpel
und Bandapparat anhingen) gesondert verarbeitet. Sehr
schöne Reaction.
X. Ganz dieselben Resultate erhielt ich bei der Untersuchung
von Leber, Milz, Muskel und Kniegelenk einer an
<) Pflüger's Arch. f. Phys. XXXIY a. Gesaram. Abhandlg. Berlin 1887.
») Med. Jahrb. 1887, S. 383.
(6)
üeber Harnsänre im Blute und einigen Organen nnd Geweben. 485
Herzparalyse in Folge von Fettherz plötzlich verstorbenen
50jährigen Frau, nur dass diesmal auch die Muskel sehr
schöne Reaction ergaben. In den genannten Organen war
nichts Abnormes auffallend, doch ist es nicht ausgeschlossen,
dass die Person an arthritischen Erscheinungen gelitten.
Meine Untersuchungen bestätigen die alten Angaben , dass
die Leber, Milz und Muskel Harnsäure enthalten und
weisen diesen Körper auch in den Gelenken und im normalen
menschlichen Blut nach.
•>§»«•
(7)
1
Heber die wechselseitigen Beziehnngen zwischen
den centralen ürsprongsgebieten der Augen-
muskelneryen.
Von
Dr. Jiillns Nnssbaiim^
Seoundsiarst am k. k. allgem. Krankenhame la ^en*
(ti8 dBRi LakontoriBD loi Prof. ObersteioBr zu WIbi.)
(Von der Bedaotion am 22. Juni 1887 tlbemommen.)
Durch einige angeblich zufällige Befunde im Gehirne einer
Katze und durch von anderer Seite mitgetheilte klinische Beob-
achtungen am Menschen aufmerksam gemacht, hatten Duval
und Laborde die Frage, in welchen Beziehungen die Kerne
und Wurzelfasem der Bewegungsnerven des Auges zu einander
stünden, einer eingehenden anatomischen und experimentellen
Untersuchung^) unterzogen.
Als Resultat der ersteren, wozu sie Gehirne von Affen ver-
wendeten, hatten sie die Behauptung aufgestellt, dass vom Ab-
ducenskeme jeder Seite Fasern zum hinteren Längsbündel ziehen
und dass jedes hintere Längsbündel seinerseits Fasern erstens zu
den Wurzelfasem des Trochlearis, zweitens zu denen des Oculo-
motorius der anderen Seite entsende.
') Bobin, Jonrnal de T Anatomie et Physiologie. 1880. De l*inneryation
des monyements associte des globes ocnlaires.
(1)
}
488 Nnssbanm.
Diese Behauptungen finden sich in allen seither erschienenen
Lehrbüchern citirt, ohne dass dieselben eine directe Bestätigung
erfahren hätten. Meines Wissens hat sich blos Obersteiner
mit dieser Frage näher beschäftigt und war zu dem Schlüsse
gelangt^), „dass er aus eigenen Präparaten keine Thatsachen ge-
winnen könne, die die Ansicht von Duval widerlegen würden* ♦
Durch eine mündliche Erörterung dieser Frage seitens meines
hochverehrten Lehrers, Herrn Professors Obers teiner angeregt,
ging ich daran, mich mit der anatomischen Seite dieser Frage zu
beschäftigen, was mir umsomehr ermöglicht wurde, als mir der-
selbe in dankenswerther Weise passende Eatzengehime zur Ver-
fügung stellte.
Von der Erfahrung ausgehend, dass die Fasern des hinteren
Längsbündels, gleich den Wurzelfasem der Gehimnerven, schon
in einer früheren Lebensperiode dieser Thiere und früher als
andere Nervenfasern im Gehirne markhaltig werden, glaubte
ich in einer solchen Zeit am besten die Verhältnisse vorfinden
zu können, die zur Lösung der bewussten Frage beizutragen ge-
eignet wären.
Nicht gleichgiltig schien mir auch die Schnittrichtung; ich
verwendete nach dem Muster der beiden französischen Forscher
sogen. Basalschnitte, Schnitte, die parallel dem Boden des IV. Ven-
trikels verlaufen sollten, wodurch es möglich war, bei gelungener
Schnittrichtung eine möglichst lange Strecke des hinteren Längs-
bündels auf einem Schnitte zu verfolgen.
In dieser Weise verarbeitete ich das Gehirn einer 8tägigen
und das einer 18tägigen Katze und suchte die hier gefundenen
Verhältnisse mit den Frontalschnitten, die mir von erwachsenen
Thieren bekannt sind, zu vereinigen.
Als ein gewiss nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel der
Untersuchung verwendete ich die mit Carminfärbung combinirte
Markfaserfärbung. Die Entfärbung der mit der Weigert'schen
Lösung gefärbten Schnitte erfolgte nach der von Päl in Wien
in jüngster Zeit angegebenen Methode, die für die zwischen
Gollodiumschichten eingebetteten Schnittserien sehr gut verwend-
<) SitzimgsprotokoU der k. k. GeseUschaft der A^rste in Wien. 1880, Nr. 33-
(S)
üeb. d. wechselsei t. Bezieh, zwischen d. central. Ursprnngsgebieten etc. 489
bar ist und den Yortheil hat, dass, da der Grand bei ihr ganz
weiss wird, die spätere Färbung mit Carmin (resp. Pikrocarmin)
vollkommen gelingt. Man erhält bei dieser Behandlung Bilder, die
an Klarheit, aber auch an Schönheit fast nichts zu wünschen übrig
lassen. Die untersuchten Gehirne wurden in vollkommen lücken-
lose Serien vom Ventrikelboden bis zur ventralen Ponsfläche
zerlegt.
Indem ich auf den eigentlichen Inhalt der mich hier interes-
sirenden Frage tibergehe, werde ich aus der fortlaufenden Serie
der Schnitte nur jene hervorheben, die mir flir die Darstellung
der Verhältnisse, welche den Zweck meiner Untersuchung bildeten,
von Bedeutung scheinen.
Wenn man dorsal, vom Ventrikelboden her, beginnt, so be-
kommt man, sobald der letzte Rest jener gebogenen Fasern
des Facialis , die sein Knie bilden , verschwunden ist , einige
Schnitte, auf denen der Kern des Abducens in seiner grössten
Ausdehnung vorhanden ist und in seinem Gebiete auch schon die
Querschnitte markhältiger Wurzelfasem enthält. An seiner medialen
Seite zieht das aus ziemlich dicht neben einander liegenden
Längsfasern bestehende hintere Längsbündel vorbei, das auf diesen
Schnitten nur bis zum Kemgebiete des Oculomotorius sichtbar
ist. Aus der vorderen Begrenzung des Abducenskemes sieht man
nun einzelne Faserbündel herausziehen, die eine kurze Strecke
parallel dem hinteren Läugsbündel verlaufen , dann , indem sie
sich demselben in einem flachen Bogen nähern und seinem lateralen
Rande anschliessen, sich in dessen Fasercomplex verlieren. Auf
allen Schnitten, auf denen diese aus dem Abducenskeme aus-
tretenden Fasern zu verfolgen sind, bilden sie nur einzelne diffuse
Bündel und nirgends ein so compactes und breites Faserband,
wie Duval und Laborde es vom Affen beschreiben und
zeichnen.
Auf mehr ventralen Schnitten sieht man im Kerngebiete des
Oculomotorius eine Kreuzung feiner Fasern. Diese entstehen in
den Kernen jeder Seite und ziehen zur Raphe, durch welche sie,
wie ich wohl annehmen kann (ohne dass es mir gelungen wäre
eine einzelne Fasern auf ihrem ganzen Verlaufe zu verfolgen)
zum Kerne der anderen Seite gelangen.
(8)
490 NnBsbamn.
Sie scheinen also sozusagen eine Commissor zwischen beiden
Kernen zu bilden.
Dass eine solche sich hier finden würde , konnte nach den
physiologischen Erfahrungen als selbstverständlich erscheinen;
auffallend war mir blos, dass eine solche Verbindung nur zwischen
einem Theile des Oculomotoriuskemes zu sehen war, und zwar
ungefähr der spinalen Hälfte entsprechend.
Spinal wärts und etwas dorsal wärts vom Oculomotorinskeme,
von diesem selbst nicht scharf, nach allen anderen Seiten
aber deutlich abgegrenzt, liegt der Trochleariskem. Von seinem
medialen Bande sowohl, als von seinem lateralen treten Fasern
:aus, die daselbst entstehen. Die ersteren, die ihre Richtung
direct gegen die Raphe nehmen, dürften den früher erwähnten
Commissurenfasem des Oculomotorinsgebietes homolog sein, die
letzteren ziehen nach aussen und spinalwärts ; sie sind die Wurzel-
fasern und man kann sie an anderen Schnitten bis zu der dorsal
gelegenen Kreuzung verfolgen. Diesen kann man, sobald sie den
Kern verlassen haben, von keiner Seite sich weitere Fasern bei-
gesellen sehen.
An noch weiter ventral gelegenen Schnitten, in dem Niveau,
in welchem bei der IStägigen Katze die Bindearmkreuzung bereits
deutlich sichtbar wird, bemerkt man eine kurze Strecke proximal-
wärts von dieser eine ziemlich dichte und breite Kreuzung, in
welche parallel mit der Raphe verlaufende Längsfasem von hinten
her eintreten. Vor der Kreuzung proximalwärts weiter ziehend)
sieht man beiderseits das hintere Längsbündel, das, vom Oculo-
motoriuskeme in die Tiefe gedrückt, hier erst in diesem Niveau
wieder sichtbar wird, und das in einem Theile von ziemlich
dicken Bündeln quer getroffener Nervenfasern, den Wurzelfasem
des Oculomotorius , durchzogen ist. Da diese Kreuzung bei der
durch eine wohlgelungene Serienmethode gewonnenen lückenlosen
Schnittreihe die einzige ist, die in dieser Gegend von Längsfasem
gebildet wird, so glaube ich, auf dieselbe näher eingehen zu sollen.
Es handelt sich hier um die Fragen, welche Fasern es sind,
die nach vorne ziehend in die Kreuzung eintreten, und wohin
die Fasern nach stattgefundener Kreuzung proximalwärts weiter-
verlaufen.
(4)
Ueb. d. wechselseit. Bezieh, zwischen d. central, ürsprong^gebieten etc. 49 t
In ersterer BeziehuDg glaube ich sicher behaupten zu können,
dass ein grosser Theil der die Kreuzung formirenden Fasern aus
den ventral vom hinteren Längsbiindel gelegenen Längsfasern
der Haube im engeren Sinne gebildet werde. Um das eigent-
liche hintere Längsbtindel kann es sich hier nicht handeln. Die
Fasern liegen hier schon zu weit ventral, sie durchflechten den
quer auf die andere Seite ziehenden Bindearm, werden von dem-
selben zum Theile überkreuzt und bilden endlich nicht einen so
compacten Faserzug wie das hintere Längsbündel, sondern man
sieht nur mehr diffase und weiter lateral ausgebreitete Längsfasem
in die Kreuzung eintreten. Dass auch einzelne Fasern des hinteren
Längsbündels an dieser Kreuzung theilnehmen können, lässt sich
allerdings nicht leugnen. Wir wissen von Frontalschnitten her,
dass in der Gegend des Oculomotorius im hinteren Längsbündel
viele schief nach ab- und einwärts ziehende Fasern sichtbar sind
und dass, wenn, was ziemlich sicher erwiesen ist, eine Kreuzung
derselben in der Raphe stattfindet, diese ventraler als die Fasern
des hinteren Längsbündels liegen muss, so dass man an Basal-
schnitten ein Eintreten derselben in die Kreuzung nicht verfolgen
kann. Die obersten Bündel dieser Kreuzung könnten daher immer-
hin dem hinteren Längsbündel ihren Ursprung verdanken.
Nach erfolgter Kreuzung ziehen die Fasern, eine ziemliche
Breite von vom nach hinten einnehmend und sich lateralwärts
stärker auflösend, nach aussen und durchflechten das hintere
Längsbündel, indem ein Theil in der Gegend zwischen den Quer-
schnitten der Oculomotoriusbündel hindurchzieht, ein Theil aber
weiter cerebralwärts, ein anderer endlich mehr spinalwärts verläuft.
Vom lateralen Bande des hinteren Längsbündels nehmen die
Fasern einen getheilten Verlauf. Ein Theil derselben biegt in
einem Bogen nach vorne, dorsalwärts und innen um, nimmt, was
man an etwas schiefen Schnitten deutlich sehen kann, in seinem
weiteren Zuge, an der lateralen Seite der absteigenden Trigemi-
nuswurzel angelangt, einen dieser parallelen Verlauf und scheint
zwischen ihr und der von der Seite konunenden Schleife in das
tiefliegende Mark der Vierhügel einzustrahlen.
Diese Fasern scheinen mir jenen zu entsprechen, die von
Meynert Quintus stränge genannt wurden und von denen W er-
es)
1
492 NuBsbaain.
nicke für den Menschen angibt, dass sie durch AasBtrahlnng
ans dem tiefliegenden Marke der Vierhügel entstehen, sich am
Rande des hinteren Längsbündels wieder sammeln und nach
Durchflechtung dieses, sich in der Raphe mit den identischen der
anderen Seite kreuzen, von wo man sie nicht mehr weiter
verfolgen könne. Nach dem oben Auseinandergesetzten finden
manche von ihnen ihre spinale Fortsetzung in den Längsbündeln
der Haube.
Ein anderer Theil der aus der Kreuzung austretenden Fasern
nimmt seinen Verlauf gegen die seitliche Bcgi'enzung des vorderen
Vierhtigelpaares. Während von diesen die Mehrzahl direct dahin
zieht, benützen andere ebenfalls zuerst die Bahn der früher be-
schriebenen, mit der absteigenden Trigeminuswurzel parallelen
Fasern, um erst später lateralwärts umzubiegen, so dass es mir
bei der ersten Betrachtung dieser Präparate fast schien, als ob
Fasern der absteigenden Quiutuswurzel , die auf den schieferen
Schnitten in langem Zuge verfolgt werden kann, in diese Bahn
einlenken würden.
Ob ein Theil der zwischen den Oculoraotoriuswurzeln durch-
ziehenden Fasern sich diesen anschliesst, was zu entscheiden für
die uns beschäftigende Frage besonders wichtig wäre, lässt sich
aber aus den Basalschnitten nicht beurtheilen.
Eine etwaige Schätzung der Zahl der in dieses Gebiet
eintretenden und dasselbe verlassenden Faserbündel hätte bei der
lateralen Entbündelung derselben nur problematischen Werth.
Wenn man den Ort und die Art der Kreuzung noch einmal
in's Auge fasst, so erinnert sie deutlich an eine Kreuzung, die
an Frontalschnitten von Menschen- und besonders von Thier-
gehirnen sehr deutlich ist, nämlich an die sogenannte vordere
Haubenkreuzung, mit der sie zum grössten Theile identisch
sein dürfte.
Von einer Aehnlichkeit der hier gesehenen Kreuzung mit
den Faserkreuzungen beimAflfen, auf dieDuval und Labor de
ihre Behauptungen stützen, kann keine Rede sein. Nach der Be-
schreibung und den Zeichnungen, die diese Autoren geben, müsste
man annehmen, dass aus der Masse des zu beiden Seiten der
Raphe verlaufenden hinteren Längsbündels sich von der Innen-
üeb. d. wechselseit. Bezieh, zwischen d. central, ürspnmgsgebieten etc. 493
Seite desselben 2 Paare von NeiTenbündeln loslösen, von denen
das eine eine Kreuzung in der Trochlearis- das andere in der
Ocnlomotorinsgegend bildet. Die Kreuzung aber, die ich yon den
Gehimschnitten dieser jungen Katzen beschrieben habe, ist breiter,
besteht hingegen nicht aus so compacten Bündeln, liegt nicht im
Niveau des hinteren Längsbündels und erfolgt auch nicht unter so
spitzem Winkel, wie sie es zeichnen.
Andere Kreuzungen habe ich in den entsprechenden Gebieten
nicht sehen können. Ebenso wenig konnte ich an frontalen und
basalen Schnittserien aus dem Gehirne des Afifen (Cercopithecus)
die Verhältnisse ganz so wieder finden, wie sie von den genannten
Autoren abgebildet wurden.
Wenn ich noch auf die Schlusssätze der Eingangs erwähnten
Arbeit zurückkomme, glaube ich Folgendes behaupten zu können :
I. Der Abducenskern jeder Seite entsendet deutlich einzelne
diffuse Faserbündel, die sich dem hinteren Längsbündel zagesellen.
n. Wenn aueh die Möglichkeit zugegeben werden muss,
dass das hintere Längsbündel mit dem in dasselbe eingebetteten
Kerne oder den Wurzelfasem des Trochlearis Verbindungen ein-
geht, so haben sich aus den Präparaten gar keine Anhaltspunkte
ergeben, die auf eine gekreuzte Verbindung des hinteren
Längsbündels mitdenWurzel fasern dieses Nerven schliessen
lassen.
ni. Für den Oculomotorius (Kern oder Wurzelfasern) lässt
sich eine gekreuzte Verbindung mit Längsfasem aus dem Hanben-
gebiete und damit eventuell mit dem Abducenskeme der anderen
Seite nicht ausschliessen.
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XX.
Zur Frage der Rachitis der Neugeborenen.
Von
Dr. Felix Schwarz^
em. Operateur der Kliniken der Herren Hofräthe Billroth nnd Breisky.
(Von der Redaction am 7. Juni 1887 übernommen.)
(Hierzu Tafel XXIV und XXV.)
Die Rachitis gehört zu jenen Krankheiten, die schon vor
Jabrhnnderten durch ihre, selbst dem Laien auffallenden Folge-
erscheinungen das Interesse der Forscher in hohem Grade in
Anspruch nahm. Erst aus dem 16. Jahrhunderte stammen jedoch
die ersten genaueren Beschreibungen des Processes, deren Autor
der Baseler Arzt Reusner im Jahre 1582 war. Ihm folgte im
Jahre 1593 Samuel Formius mit seiner „Pathologie und Therapie
der Genua vara". Doch erst im Jahre 1650, nachdem die
epochemachende Monographie von Glisson, der auch der
Krankheit den noch jetzt gebräuchlichen Namen gab , erschienen
war, wurde allerorten die Aufmerksamkeit der Aerzte auf das so
häufige Knochenleiden gelenkt und eine ungeheuere Literatur ist
bis zum heutigen Tage über dieses Thema angewachsen. Und
doch können wir im Grossen und Ganzen nur awei weitere Haupt-
etapen constatiren: Publicationen , die jedesmal der Pathologie
der Rachitis einen ganz neuen Standpunkt eroberten, und die
Beobachtungen des rachitischen Krankheitsprocesses auf ein bis
dahin völlig ungekanntes Terrain leiteten.
Med. Jahrbücher. 1887. 39 (l)
496 Schwan.
Das bekannte Werk von Elsässer: „lieber den weichen
Hinterkopf", das im Jahre 1843 erschienen und in jüngster Zeit
die classischen Publicationen von Kassowitz.
Trotz des nngeheaer reichen Materials, trotz der so viel-
fachen und ausgezeichneten Beobachtungen existiren noch viele
streitige Punkte in der Pathologie der Rachitis.
Eine der interessantesten und vielleicht auch actuell wich-
tigsten Streitfragen ist die über den Beginn der Rachitis;
wichtig wohl deshalb, weil der Arzt, wenn er einmal zur richtigen
Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gelangt, im Stande sein
wird, auf dem Wege der Prophylaxe, sowie durch ein rechtzeitiges
therapeutisches Eingreifen so manches Oute zu leisten, so manche
Opfer der Rachitis zu entreissen und einer schädlichen, hoch-
gradigen Entwicklung derselben vorzubeugen. Dies ist auch der
Orund, warum Schreiber dieser Zeilen ein kleines Scherflein zur
Aufhellung und Sicherstellung der Frage über den Beginn der
Rachitis beizutragen bemüht ist.
Die meisten Autoren verlegen den Beginn der Erkrankung
in das erste Lebensjahr, und zwar in Orenzen, die vom ersten
Trimester bis zum vollendeten ersten Lebensjahre sich erstrecken.
Und doch hat schon Storch, im Jahre 1750, auf Orund
seiner Beobachtungen auf das Bestimmteste behauptet , dass die
Kinder die Anfänge der Krankheit mit aus dem Mutterleibe
bringen.
Ritter^) fand bei seinem Materiale eine so riesige Anzahl
von Rachitikem im Alter von 2 — 12 Lebenswochen, dass er
unwillkürlich zu dem Schlüsse gedrängt wird, dass so junge
Individuen entweder die Krankheit selbst oder wenigstens eine
sehr entwickelte Anlage zu derselben mit auf die Welt gebracht
haben dürften. Er macht darauf aufmerksam, dass die Rachitis
in den poliklinischen Journalen deshalb wohl in so geringer
relativer Häufigkeit, im Verhältnisse zu ihrem wirklichen
Vorhandensein, erscheine, weil einerseits nur die hochgradigen
Fälle als solche geführt würden und andererseits nur die be-
gleitenden öder Folgeerscheinungen als die Hauptleiden einge-
0 Path. n. Therapie d. B. 1863.
Znr Frage der RacMtis der Neugeborenen. 497
tragen werden und „häufig genug mag sie der Aufmerksamkeit
der Aerzte ganz entgehen*^.
„Die meisten statistischen Uebersichten aber, sagt Kitt er,
haben den gemeinsamen Fehler, dass sie eigentlich nur lehren,
in welcher Lebenszeit der Arzt den rachitischen Kranken zu
Gesichte bekommen hat, aber nicht in welchem Alter sich die
Krankheit zuerst gezeigt hat.^
Nach seinen Untersuchungen beträgt die Summe der im
1. Lebensjahre stehenden Rachitiker 51-57o ^on der Gesammt-
summe der an dieser Krankheit leidenden Kinder.
Und dabei fällt fast ein Drittel der schon deutlich ent-
wickelten rachitischen Erkrankungen des ersten Lebensjahres in
das erste Halbjahr.
Er glaubt annehmen zu dürfen, dass die Anfange der
Rachitis in einen der Geburt viel näheren Zeitabschnitt verlegt
werden müssen, als es die Schriftsteller bis zu seiner Zeit ange-
nommen hatten, ja durch Speculation gelangt auch er zu der
Anschauung, dass die Entstehung der Rachitis in den Entwicklungs-
verhältnissen der Frucht und des Neugeborenen vorbereitet sein
können, dass sie in der Mehrzahl der Fälle vorbereitet sein
müssen.
Wie wir jedoch aus der Literatur ersehen, blieben Storch,
der schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts diese Ansicht aus-
gesprochen, und Ritter ziemlich vereinzelt; man half sich
damit, dass man die Formen der Rachitis foetalis und der Rachitis
congenitalis , deren Auftreten aber als ein ungleich selteneres
angesehen wurde und die, nach den Untersuchungen von K a s s o-
witz, zum Theil mit dem wirklichen rachitischen Processe gar
nicht identisch sein dürften, aufstellte.
Erst Ka SSO witz^) war es, der auf Grund von zahlreichen
pathologisch-histologischen Beftmden den unwiderleglichen Beweis
von der Richtigkeit der Ritter'schen, auf speculativem Wege
gewonnenen Theorie erbrachte.
Kassowitz hat die Leichen von 92 Individuen auf das
Vorhandensein der Rachitis untersucht. Unter 36 Frühgeburten
^) Pathogenese der Kachitis. 1884.
39 * W
498 Schwarz.
zeigten vier einen normalen oder fast normalen Befand, bei 10
der nntersuchten Leichen fanden sich aasgeprägte rachitische
Erscheinungen , 22mal musste ein weit vorgeschrittener rachiti-
scher Process angenommen werden.
Unter 29 Todtgebarten fanden sich nar 3 normale
Kinder, 14 zeigten eine massige and 12 intensive Affectionen.
Bei 20 Kindern aas dem 1 — 3 Lebensmonate waren 2
normal, 10 intensiv and 8 sehr hochgradig erkrankt.
Kassowitz schliesst mit vollem Rechte daraas, dass der
Beginn der Rachitis angemein häafig in die intraaterine Periode
falle. „Aber noch immer ist es, ^ wie Kassowitz sich aasdrückt,
„nicht allgemein genag anerkannt, dass in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle die Rachitis in einer sehr frühen Periode
der Entwicklang beginnt, insbesondere halten die meisten Aatoren
die congenitale Rachitis noch irrthümlicherweise für ein seltenes
Vorkommniss.**
Congenitale Rachitis müssen wir aber jene Erkrankung nennen,
bei welcher schon zur Zeit der Geburt sich die entwickelten, bekann-
ten makroskopischen und insbesondere auch die mikroskopischen
Zeichen der gewöhnlichen rachitischen Affection vorfinden.
Der normale Befund gehört aber nach den, von diesem Autor
an dem Materiale des Wiener Gebär- und Findelhauses ange-
stellten Untersuchungen positiv zu den Ausnahmen.
Als entschiedener und eifrigster Anwalt der Kassowitz-
schen Theorie ist bisher nur Unruh i) aufgetreten, der aus den
Beobachtungen der Kinder, unmittelbar nach der Geburt, bis zur
Vollendung des Alters, in dem für gewöhnlich nach den bis jetzt
üblichen Anschauungen keine Rachitis mehr auftrete, die Ueber-
zeugung geschöpft, dass die Rachitis stets als eine con-
genitale anzusehen sei und proponirt in Folge dessen auch,
die Unterscheidung der Rachitis in eine fötale, congenitale und
acquirirte fallen zu lassen.
Nach seiner Anschauung könne sich die Rachitis nur auf
Grund einer bereits pathologischen Veranlagung des kindlichen
Gewebes, die mit auf die Welt gebracht werde, entwickeln.
') Wiener Med. Blätter. Nr. 31, 32, 33.
(4)
Zur Frage der Bachitis der Nengeborenen. 499
Weder Eassowitz, noch Unruh waren aas Mangel an
Material in der Lage, ihre Anschauungen durch eine grössere
Beobachtungsreihe an neugeborenen Kindern zu erhärten und
schon Ritter war der Meinung, dass diese Frage nur von den
Aerzten der Gebär-, respective Findelhäuser gelöst werden könne.
Nachdem, so weit ich in der Lage war, die Literatur zu be-
herrschen, bis jetzt von dieser Seite her noch keine Publicationen
vorliegen, habe ich mit der gütigen Erlaubniss meines hochverehrten
Lehrers mich daran gemacht, alle in den Monaten December 1886
bis März 1887 auf der 11. Wiener Oebärklinik geborenen Kinder,
einige Stunden nach der Geburt, auf die manifesten Erscheinungen
der Rachitis hin, wie des Weiteren unten ausgeführt werden soll,
zu untersuchen.
Die Zahl der untersuchten Kinder beträgt 500.
In meinem Protokolle habe ich das Alter der Mutter, die
Anzahl der von ihr geborenen Kinder, das Schwangerschaftsmonat,
in dem das Kind geboren (ob Reif- oder Frühgeburt), Geschlecht
und Gewicht der Kinder notirt.
In gewissen noch näher zu besprechenden Fällen: die Be-
schäftigung und eventuell auffallende Symptome, überstandene
Bachitis der Mutter notirt, obwohl ich auf diesen letzteren Punkt
etwas weniger Gewicht gelegt habe.
Zum Schlüsse: die Symptome von Rachitis an den Neuge-
borenen selbst.
Bevor ich des Näheren auf die Besprechung meiner Resultate
eingehe, möchte ich mir noch einige Bemerkungen zu dem letzten
Punkte gestatten.
In dem einen Punkte stimmen fast alle Autoren überein,
dass sich, in weitaus der grössten Anzahl der Fälle, die Rachitis
am frühesten am Thorax und Schädel finde, und zwar an ersterem
Orte am vorderen Rippenende in der Form der Anschwellungen
an der Grenze zwischen Knochen und Knorpel und als Craniotabes
am Schädel.
Schon Glisson macht die Bemerkung: „Ertremitates etiam
eostarum multo magis spongiosae sunt et moUes quam ceterae
earum partes.''
(5)
500 Schwarz.
Virchow^) hebt anlässlich der Besprechang der Ver-
änderungen an den Juneturen der Rippenknorpel und Knochen
hervor, dass sich die Anschwellungen besonders gegen die Pleura
hin ausbilden, so dass dieselben oft „wie ein Becher über dem
Wulst^ angesetzt sind.
Ritter erklärt, dass er wohl Fälle von ausgezeichneter
Thoraxrachitis ohne Schädelrachitis, nicht aber das umgekehrte
Verhältniss beobachtet habe.
Er proclamirt die Auftreibungen als die ersten klinisch
wahrnehmbaren Veränderungen und der rachitische Rosenkranz
ist ihm ein unumstösslicher Beweis für das Vorhandensein der
Erkrankung. Degner') fasst jene Fälle als beginnende Rachitis
auf, die sich durch eben wahrnehmbare Anschwellung
der Rippenenden *charakterisiren. Nach Kassowitz
geht im normalen Zustande die knorpelige Rippe ohne Niveau-
Verschiedenheit in die knöcherne Rippe über, so dass man durch
das Tastgefühl gar nicht die Grenze unterscheiden kann. Sowie
sich eine Vorwölbung bemerkbar mache, findet man auf dem
Durchschnitte ausnahmslos die charakteristischen Zeichen der
rachitischen Erkrankung; eine Annahme, die er durch mikro-
skopische Untersuchung bis zur Unumstösslichkeit festigte.
Der rachitische Process wird, nach Kassowitz, fast in
keinem einzigen Falle, wo überhaupt eine solche Affection des
Skelettes besteht, an den vorderen Rippenenden vermisst, so
dass also die Anschwellung der vorderen Rippenenden (der Rosen-
kranz) und die dazu gehörigen, mikroskopisch nachweisbaren Er-
scheinungen der Rachitis zu der regelmässigsten und auch frühesten
Manifestation derselben gehören.
Auch Unruh schliesst sich nach seinen zahlreichen Unter-
suchungen entschieden der Ansicht an, dass jede, auch noch so
geringe Anschwellung an den Rippen als ein charakteristisches
Symptom der Rachitis anzusehen sei.
Nicht die gleiche Uebereinstimmung der Ansichten herrscht
in dem Capitel der Schädelrachitis. Obzwar seit der Arbeit
Elsässer's alle Autoren darüber einig sind, dass der weiche
») Virchow's Archiv. 1853, Bd, 5.
') Jahrbucli f. Kinderheilk. N. F. Vni, pag. 413.
(6)
Zur Frage der Rachitis der Nengeborenen. 501
Hinterkopf und seine Folgen als directes nnd absolut sicheres
Symptom der Rachitis anzusehen sei, sind doch die Meinungen
der Autoren in Betreff der Craniotabes im weiterem Sinne, der
Ossificationsdefecte im Bereiche des knöchernen Schädels noch
immer getheilt, wenn auch die Gegner der Anschauung, dass
dieses Symptom als ein der Rachitis eigenthiimliches anzusehen
sei, sich in der entschiedenen Minorität befinden.
Elsässer war der Erste, der im Jahre 1843 auf die am
Schädel häufig sich findenden Stellen aufmerksam machte, welche
dem auf sie drückenden Finger keinen oder höchstens den
Widerstand eines Eartenblattes bieten, oder doch bei einem nur
geringen Drucke sich als nachgiebig zeigten, sich aber bei
Nachlass des Druckes sogleich wieder ausglichen. Elsässer
fand diese Erscheinung meist im zartesten Alter, bald nach der
Geburt und wie er ausdrücklich hervorhebt an solchen Kindern,
welche schon entweder gleich oder im weiteren Ver-
laufe der Krankheit noch andere Spuren der Er-
krankung an ihrem Skelette erkennen liessen. Er hält
dieselbe für die früheste Manifestation der rachitischen Ver-
änderungen am Skelette überhaupt, ja für eine acute, dieser
Periode der Krankheit eigenthümliche Rachitis. Zehn Jahre später
erkannte auch Virchow diese membranösen Stellen als ein für
die Rachitis charakteristisches Symptom an und erklärt dieselbe
anatomisch als eine Absorption der Knochen in ihrer ganzen Dicke,
wobei die äussere Auflagerung nicht gleichen Schritt mit der von
innen her erfolgenden Absorption halte, und je stärker dabei ein
von innen wirkender Druck concurrire, desto früher sollen diese
membranösen Lücken entstehen.
Friedleben und nach ihm Ritter traten als Gegner dieser
Anschauungen auf, indem Ersterer diese Ossificationsdefecte als
physiologisch erklärte und sie nur da als pathologische Erscheinung
gelten Hess, wo noch andere Symptome der Rachitis (namentlich
am Thorax) zugegen seien, und vielleicht auch da, wo die Ver-
dünnung besonders umfangreich und hochgradig sich darstellte.
Ebenso gezwungen ist die Theorie Ritter's, der aber mit
noch grösserer Leichtigkeit durch seine eigenen Anschauungen
zu widerlegen ist.
(7)
502 SchwarE.
Ritter gibt nämlich den rachitischen Charakter der
Craniotabes in dem weitesten Sinne, von dem wir sprechen, für
die späteren Lebensperioden zu, gibt aber irgend einen meri-
torischen Unterschied zwischen der seiner Ansicht nach physio«
logischen und der für spätere Zeiten, von ihm selbst als solche
anerkannten pathologischen Verhältnisse nicht an, so dass man
sie trotz alldem für vollständig identisch halten muss.
In klarster Weise nnd an der Hand der Ritter'schen
Argumente hat schon Degner im Jahre 1874^) die Unhaltbar-
keit der Bitte raschen Anschauungen plausibel gemacht.
Degner selbst schätzt nach seinen Untersuchungen das
Yerhältniss der Schädelrachitis zum Auftreten der Rachitis über-
haupt auf 50% •
Auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen äussert sich
Pollitzer*) über die, unter der physiologischen Grenze zurück-
gebliebene, Ossification am Schädel dahin, dass dies ein für den
Beginn der Rachitis massgebendes Symptom sei, dessen Vor-
handensein man durch die Palpation in wenigen Secunden fest-
stellen könne, dessen Uebersehen einen schweren Fehler des
Arztes involvire, da die Rachitis eine jener Krankheiten sei,
die, bei ihrem Entstehen erkannt, leicht zu heilen sei, zu spät
aber in Angriff genommen, der ganzen weiteren Entwicklung und
Constitution ein krankhaftes Gepräge aufdrücke.
Pollitzer schlägt vor, auf das Minutiöseste die sämmtlichen
Fontanellen, die Pfeil- und Lambdanaht, die Scheitelbeine in
ihrer Gontinuität durch Druck auf den Grad ihrer Härte und
Nachgiebigkeit zu prüfen.
Als Kronzeugen müssen wir an dieser Stelle wieder Kassowitz
anführen, der auf Grnnd seiner mikroskopischen Untersuchungen
die deutlichsten Zeichen der yermehii;en Einschmelzung der ver-
kalkten Textur und die Neubildung von kalklosem Knochen-
gewebe erwiesen hat, und der es in keiner Weise gerechtfertigt
hält, diese weitgehenden Veränderungen als physiologische Er-
scheinungen aufzufassen. Derselbe Autor erklärt auch, dass man
bei jeder nur halbwegs ausgebildeten Schädelrachitis die Sagittal-
') 1. c.
») Jahrbuch f. Kinderheilk. XXI, pag. 38, 884.
<8)
Zar Frage der Rachitis der Neugeborenen. 503
naht weich nnd nachgiebig finde, während dieselben Erscheinungen
nur selten nnd in besonders schweren Fällen an der Temporal*
naht beobachtet werden.
Bis jetzt, schliesst Kassowitz seine AnsfÜhrongen , hat
man noch nicht die richtige Vorstellung von der ausserordent-
lichen Häufigkeit der frühzeitig entwickelten Rachitis.
Geflissentlich habe ich diese beiden Punkte, als wichtig zur
Diagnose der Rachitis, etwas ausführlicher behandelt und durch
Oewährsmänner die Richtigkeit dieser Anschauung zu erhärten
versucht, um dem eventuellen Einwand zu begegnen, als sei
ich bei meinen Untersuchungen zu schnell mit der Diagnose der
Rachitis bei der Hand gewesen.
Bei dem Materiale aber, das mir znr Verfligung gestanden,
fanden sich fast ausschliesslich die beiden Symptome, die wohl
als die am frühesten auftretenden und schon in utero acquirirten
Veränderungen anzusehen sind, während ich die weiteren Sym-
ptome: die von Fl ei seh mann ^) angegebenen Abnormitäten am
Kiefer, sowie die ferneren sattsam bekannten Symptome der
Rachitis, bei den Neugeborenen höchst selten und dann
nur andeutungsweise vorgeftmden habe, weshalb ich keinen
grossen Beobachtungsfehler durch deren Nichtberücksichtigung
begangen zu haben glaube.
Von den von Kassowitz statuirten vier Graden der rachi-
tischen Erkrankung fand ich bei meinem Materiale nur die unter
die beiden ersten Grade rangirten Erscheinungen. Die Schädel-
erweichung massigen Grades, die deutliche Anschwellung der
vorderen Rippenenden, die hochgradige Craniotabes und knopf-
fbrmige Auftreibung der vorderen Rippenenden.
Die Veränderungen an den Diaphysenenden , sowie die
weiteren hochgradigen Difformitäten, die Kassowitz unter dem
dritten und vierten Grad der Rachitis subsumirt, konnte ich nicht
nachweisen. An 500 Kindern fand ich 41 Mal eine unbegrenzt
grosse Fontanelle, i. e. in 8'2Vo? doch behalte ich mir vor, über
eingehende, nach dieser Richtung hin anzustellende Untersuchungen
seinerzeit zu berichten.
») Jahrb. f. Kinderheilkunde. 1878. XVI.
(9)
604
Schwan.
Der leichteren Uebersicht halber habe ich mein Materiale
in fllnf Kategorien eingetheilt, und zwar:
a) AnschweUnng der unteren Rippen (daninter verstanden:
ab 6. Rippe) bis znm stark nnd deutlich entwickelten Rosen-
kranz, in Combination mit Veränderungen an den Schädelknochen,
und zwar von der deutlich zu constatirenden Weichheit der Pfeil-
nahtränder bis zu den, fast die ganzen Schädelknochen sub-
stituirenden Ossificationsdefecten, die sich dem palpirenden Finger
als membranöse, pergamentähnliche Partien präsentiren.^)
b) Isolirte Erkrankung der Rippen allein in den oben an-
geführten Grenzen.
c) Affection der Schädelknochen für sich allein, gleichfalls
in den oben angeführten Grenzen.
d) Eben noch wahrnehmbare Anschwellung der Rippen-
knorpelgrenze.
e) Normale Früchte.
Je hundert Fälle wurden zusammengefasst und mit C^, Cs,
Ca, C4, Cß bezeichnet,
lieber das Verhältniss der Rachitis in diesen Fällen gibt
uns nun die folgende Tabelle Nr. 1 Aufschluss:
Tabelle 1.
a
b
c,
37
21
c.
39
28
c.
32
36
C4
38
36
c,
42
34
Summe
188
155 1
d
5
10
10
4
7
7
6
5
4
2
36
24
Summe
der
Bachitiker
e
70
30
83
17
83
17
82
18
i 85
15
403
97
d. h. im Percentualverhältnisse :
^) Als classisches Beispiel dieser Art möchte ich den Fall 196 anführen,
bei dem der ganze Schädel bis anf eine schmale , knöcherne , auf die beiden
Schläfentheile redacirte Zone hantig war nnd in welchem die Diagnose auf eine
höchstgradige Craniotabes schon durch die Untersuchung per vaginam gestellt
werden konnte. Das Kind wog 3250*0 Grm. , zeigte einen stark entwickelten
Bosenkranz. Die Mutter war yollkommen gesund.
(10)
Zur Frage der Bachitis der Neugeborenen.
505
Tabelle 2«
e
37*6
31
7-2
4-8
19-4
Wir ersehen aus diesen Tabellen, dass die Zahlen der an
Rachitis erkrankten Kinder, die in die einzelnen Rubriken: Ci
Ca etc. rangirt sind, in allen fünf Hanptkategorien so ziemlich
übereinstimmen; ein Symptom, das man in seiner auffallenden
Regelmässigkeit wohl nicht leicht als ein Spiel des Znfalles wird
auffassen können.
Die Oesammtsumme aller Rachitiker beträgt in Percenten
ausgedrückt: 80'6Vo- Die Summe der normalen Kinder 19-4Vo«
Reihen wir, um allen Einwänden zu begegnen, die unter der
Kategorie „d** geflihrten Kinder noch zu den normalen, so ergibt
sich dennoch ein Percentsatz von nur : 24*25% normalen Kindern.
Von 67 der Mütter, die normale Kinder geboren haben,
constatirte ich die Berufsbeschäftigung, um den eventuellen Ein-
fluss derselben auf die Erkrankung der Kinder kennen zu lernen.
Es waren darunter Frauen, die am Lande, theils direct als
Bauemmägde bei der Feldarbeit oder bei den diversen häus-
lichen Verrichtungen beschäftigt waren (I); Fabriks- und Hand-
arbeiterinnen (ü) ; Dienstmädchen aus Wien (III) ; ohne Beschäfti-
gung (IV).
Tabelle 3.
II
III
IV
/o
30
44-8
20
15
29-8
22-3
2-98
Ich lasse hier des Vergleiches halber eine Tabelle folgen,
welche die Berufsbeschäftigung von 400 Wöchnerinnen illustrirt
und als Ergänzung zur Tabelle Nr. 3 dienen mag.
Tabelle 4.
I
n
m rv
94
133
156
17
'0
23-5
33-2
39
4-2
(11)
506 Schwarz.
Worans zu ersehen, dass die weitaus grössere Zahl (II und
UI) der hier in Betracht kommenden Personen unter relativ un-
günstigen äusseren Verhältnissen leben , ein Punkt, auf dessen
Bedeutung wir noch des Weiteren zurückkommen werden.
Unter den 97 Müttern normaler Kinder waren:
27 I. Gebärende,
33 n. Gebärende,
37 mehr als ü. Gebärende.
Unter 88 dieser Frauen standen im Alter:
Tabelle 5.
unter 20 Jahren ....
Zwischen 20 und 30 Jahren
üeber 30 Jahren ....
7
69
12
circa 18 Procent
n 78-4 „
n 13-8 „
Das Gewicht der normalen Neugeborenen betrug bei einer
Gesammtzahl von 85 nach dieser Richtung untersuchten Kindern
bei 57 derselben mehr als das normale Gewicht von 30(X)'0 Grm.,
i. e. das Gewicht tiberstieg in 61 ^/o mehr weniger die Norm.
12 der normalen Neugeborenen stammten aus dem 9. Lunar-
monate, 3 aus dem 8. Lunarmonate; d. h. aus dem 9. Lunar-
monate 14<>/o, aus dem 8. Lunarmonate: 3*5%.
Bei einem normalen Kinde ist ausdrücklich erwähnt, dass
es eine atrophische Frucht gewesen sei. In einem dieser Fälle
finde ich Lues der Mutter notirt.
Dem Geschlechte nach waren unter 84 normalen Kindern 34
Knaben gegen 50 Mädchen oder 40'4<^/o gegen 59*5Vo.
Unter den 500 Fällen finden sich 6 Zwillingsgeburten.
Bei dreien dieser Geburten fand sich je ein Kind normal,
das andere, stets schwächer entwickelte Kind zeigte in 2 Fällen
hochgradige Thorax- und Schädelrachitis. In einem Falle fand
sich nur Thoraxrachitis massigen Grades. In den anderen Fällen
waren stets beide Kinder rachitisch.
Von den im 7. Lunarmonate der Schwangerschaft geborenen
Kindern, deren Zahl 15 betrug, subsumirten entsprechend den ver-
schiedenen Intensitätsgraden der Erkrankung (siehe pag. 504) unter :
Zur Frage der Bachitis der Neugeborenen. 507
a h 0 d e
9 3 2—1
14 Rachitiker, l Nonnaler. 93-3«/o Räch.
Von dem im 8. Lmiarmonate Geborenen, deren Anzahl
81 betrug, unter :
a b c d e
16 7 2 2 4
27 Rachitiker, 4 Normale. 87% ßach.
Die Summe der im 9. Lunarmonate geborenen Kinder be-
trug 62; davon rangirten unter:
a b c d e
31 14 3 1 12
60 Rachitiker,^ 12 Normale. 80-6Vo Räch.
Die übrigen 392 Neugeborenen waren reife Frttchte.
Auch bei dem vorliegenden untersuchten Materiale liess sich,
was den Einfluss des Geschlechtes auf die Rachitis betrifft, keine
Differenz constatiren, da unter 490 Kindern 250 Knaben und
234 Mädchen sich befanden.
In 15 Fällen konnten an den Müttern der rachitischen Kinder
Residuen einer hochgradigen Rachitis erkannt werden.
Von der relativ kleinen Zahl der während ihres kurzen Auf-
enthaltes an der Klinik gestorbenen Kinder (die Mütter und
Eander verlassen in der Regel am 9. Tage die Klinik) standen
mir 11 zu Gebote.
5 stammten aus dem 7. Lunarmonate
1 stammte „ »8. „
3 stammten „ „ 9. „
12 waren reife, ausgetragene Früchte.
Nach den verschiedenen Intensitätsgraden der Erkrankung
konnten unter a b c
5 5 1 eingereiht werden.
Die von mir an den Leichen vorgenommenen Control-
untersuchungen, die ich geflissentlich, ohne frühere Einsichtnahme
in meine Protokolle, abgefasst habe, ergaben in allen Fällen eine
volle Uebereinstimmung mit den im Leben als solche erkannten
und notirten Abnormitäten und konnte nur nach der Richtung
(18)
508 Schwarz.
hin eine Abweichung constatirt werden, dass die Erkrankung der
Bippen sich insoweit hochgradiger erwies, als die gegen die
Pleura hin gekehrte Seite der Rippen stets eine bedeutend inten-
sivere Anschwellung erkennen liess. Eine Thatsache, die schon
von Yirchow anerkannt und beschrieben wurde.
Um die Bestätigung der Diagnose vollkommen sicher zu
stellen, habe ich in allen Fällen die mikroskopische Untersuchung
sowohl der vorderen Rippenknorpelgrenze, wie der Schädelknochen
vorgenommen.
Ich bediente mich bei der Präparation der gewöhnlichen
raschen Entkalkungsmethode mit salpetersäurehältigem Alkohol
nach vorhergegangener Härtung in Mü Herrscher Flüssigkeit.
Die Schnitte werden theils mit der Doppelfarbung von
Picrocarmin und Hämatoxjlin, theils mit der einfachen Picrocarmin-
farbung behandelt.
An den Längs- und Querschnitten der Rippenknorpelgrenze
fand ich bei der mikroskopischen Untersuchung ausnahmslos die
von Eassowitz geschilderten und auch abgebildeten deutlichen
und charakteristischen Symptome einer floriden Rachitis.
An allen Präparaten ist die starke Verbreiterung der Pro-
liferations- und Säulenzellenzone, femer die ausserordentlich auf-
fallende Hyperämie des Perichondrium ersichtlich. Aus dem gefäss-
reichen Oewebe desselben sieht man, besonders deutlich auf den
Querschnitten, die zahlreichen, zapfenförmigen Gefassschlingen
in radiärer Richtung in den, normaler Weise gefässlosen Knorpel
eindringen und als Ausdruck derselben auf den Längsschnitten
die quer- und schiefgetroffenen Gefässlumina, die scheinbar nach
abwärts gegen die Yerkalkungszone tendiren.
Diese letzte präsentirt sich leider in Folge der Präparations-
methode nicht in ihrer eigenthümlichen, durch die Tinction deut-
licher sich abhebenden Färbung. Nichtsdestoweniger ersehen
wir, dass, durch das nnregelmässige Vordringen der endostalen
Gefässräume , nicht die normale , fast vollkommen gerade vom
Knorpel sich abgrenzende Linie, sondern die festonartige , un-
regelmässige, flir Rachitis charakteristische Abgrenzung der
Verkalkungszone von dem einseitig wachsenden Knorpel sich
darbietet.
(14)
Znr Frage der Rachitis der Nengeborenen. 509
Anf den Querschnitten ersehen wir deutlich den Vor-
gang der directen Umwandlung des Inhaltes der geschlossenen
Enorpelzellen in Bluträume mit ihrem hämoglohinhaltigen Zellen-
inhalte, in den verschiedensten Entwicklungsphasen. Gleich deut-
lich ist die enorme Hyperämie im Bereiche der Spongiosa und
die consecutiv gesteigerte Einschmelzung an den Enochenhälkchen
derselben.
Von Schädelpräparaten bringt Eassowitz keine speciellen
Bilder und möchte ich mir deshalb erlauben, an der Hand eines
in der Abbildung beigegebenen Präparates, der Gegend der grossen
Fontanelle entsprechend, die ganz ausserordentlich schön ent-
wickelten Symptome der Rachitis zu demonstriren.
An dem Präparate ist das die grosse Fontanelle begrenzende
linke Stirn- und Scheitelbein ersichtlich.
Schon bei ganz oberflächlicher Betrachtung ist der ganz
enorme Blutreichthum des sub- und periostalen Stratum, das fast
an ein cavemöses Gewebe erinnert, äusserst auffallend.
Aeusserst deutlich hebt sich, in Form eines schmalen roth-
gefärbten Saumes, das neugebildete, kalklose, osteoide Gewebe
von dem durch Resorption stark reducirten und orangeroth ge-
^färbten kalkhaltigen Enochen ab.
Statt der normalen, kleinen seichten Lacunen sehen wir
die in den verschiedensten Formen sich präsentirenden , den
Enochen einschmelzenden Bluträume, die in demselben vielfach
ausgebreitete tiefe Gruben geschaffen und stellenweise sogar fast
die Continuität desselben unterbrechen.
Das Präparat entstammt einem reifen Einde. In meinen
Protokollen finde ich die folgende Notiz:
Sehr starker Rosenkranz und beide Scheitelbeine in der
ganzen Länge und Breite bis zu den Scheitelbeinhöckem hin
membranö^.
Es dürfte an der Hand dieser mikroskopischen Be-
funde, die sich ausnahmslos in mehr weniger ausgesprochenem
Masse an allen meinen Präparaten finden und die ich auch zur
Begutachtung Herrn Dr. Eassowitz demonstrirt habe, wohl
bewiesen sein, dass die weichen Stellen am Schädel durchaus
nicht als physiologische, sondern als pathologische Befunde anzu-
(16)
510 ScliwarB.
jsprechen seien, die sogar aaf einen vorgeschrittenen Grad der
rachitischen Erkrankung hinweisen.
Gehen wir non daran, die sich ans der Statistik ergebenden
Schlüsse zu ziehen, so finden wir eine volle und auf Zahlen
basirte Bestätigung aller von Kassowitz ausgesprochenen Grund-
sätze. Vor Allem ist es die, keineswegs bis jetzt genügend
gewürdigte Häufigkeit der congenitalen Rachitis.
Die naturgemässe Frage nach den Ursachen dieser auf-
fallenden Erscheinung ist, ganz abgesehen von den durch Kasso-
witz auf das Klarste und Unzweideutigste erbrachten Theorien
über die Pathogenese der Rachitis durch nähere Betrachtung
des Materiales, das der Beobachtung zur Verfügung gestanden,
vielleicht zu erbringen.
Die grösste Mehrzahl dieser Frauen gehört der dienenden
Classe an, die, wenigstens in der Hauptstadt, bei in qualitativer
Hinsicht ungenügender Kost und meist in den ungünstigsten
hygienisch-diätetischen Verhältnissen lebend, wozu noch der Mangel
an der nöthigen Körperpflege, des Genusses der freien Luft , die
ungünstigen übicationen etc., zu rechnen sind, während der Gra-
vidität die schwersten körperlichen Arbeiten verrichten müssen.
Deutlich genug für den ungünstigeren Einflnss dieser eben
angeführten Schädlichkeiten scheinen mir die sich aus Tab. Nr. 3
ergebenden Resultate zu sprechen, da unter der kleinen Anzahl
von Müttern normaler Kinder nahezu die Hälfte Personen waren,
die, auf dem Land lebend, ihrer Beschäftigung in fortwährendem
Genüsse von unverdorbener Luft nachgehen konnten, während;
wie aus Tabelle 4 ersichtlich, ein ungleich grösserer Percentsatz
des vorliegenden Materiales sich aus Personen recrutirt, die den
oben angeführten Schädlichkeiten in grösserem oder geringerem
Grade unterworfen sind.
Diese Thatsache findet eine Bestätigung in den Angaben von
Kassowitz über den Einflnss der „respiratorischen Noxen ^ auf
den in Rede stehenden Krankheitsprocess , wobei wir uns die
Wirkung derselben in der Weise erklären müssen, dass der uns
vorläufig, seinem näheren Wesen nach, noch unbekannte Krank-
heitserreger, resp. der die Krankheit bedingende Reiz, mag man
sich über seine Natur und Beschaffenheit welche Vorstellun g immer
(16)
Zur Frage der Racliitis der Neugeborenen. 511
machen, entweder auf dem Wege der Lungen oder mittelst des
Intestinaltractes wohl in das Blut der Matter gelangen, bei dieser
selbst keinen günstigen Boden finden, dagegen, durch Ueber-
wanderung in den fötalen Kreislauf, daselbst die günstigsten Ent-
wicklungsbedingungen antreffen kann.
Ein Einfluss der hereditären Syphilis konnte in dem vor-
liegenden Materiale durchaus nicht als irgendwie in Betracht
kommend berücksichtigt werden. Auch glaube ich, kann man bei
der enormen Häufigkeit der Kachitis den Einflass der Heredität
nicht allzu hoch anschlagen, da anderweitige Einflüsse mass-
gebender sein dürften.
Es dürfte sich, wenn die Richtigkeit der angegebenen Daten
auch Yon anderer Seite bestätigt werden, ergeben, dass auch die
weiteren, bisher als directe Ursachen der Rachitis beschuldigten
Schädlichkeiten : die Ernährung der Säuglinge, die schweren acuten
wie chronischen Erkrankungen, die Wohnungsverhältnisse nicht
als die Krankheit direct hervorrufende Agentien anzusehen sind.
Bei der , in den allermeisten Fällen , bereits auf die Welt
mitgebrachten Anlage oder der schon manifesten Erkrankung,
wären diese Einflüsse nur als den Ausbruch beschleunigende,
resp. die vorhandene Krankheit steigernde Schädlichkeiten an-
zusehen.
Auch die Bestätigung der Kassowit zischen Angabe von
dem umgekehrten Verhältnisse des Alters der Mutter zu der
Häufigkeit der Erkrankung an den Kindern ergibt sich aus dem
vorliegenden Materiale; gleichwie sich zeigt, dass mit der
steigenden Anzahl der Geburten die Kinder weniger Anlage zur
Erkrankung zeigen«
Obzwar das Geschlecht der Kinder auch unter meinem
Materiale keine Differenz ergibt, ist doch unter den normalen
Neugeborenen das Ueberwiegen des weiblichen Geschlechtes auf-
fallend, ohne dass ich im Stande wäre, aus meinen Notizen
irgend einen Anhaltspunkt zur Erklärung dieses Factums zu
schöpfen.
Auch das Yerhältniss, dass unter der kleinen Zahl von
Zwillingen in der Hälfte der Fälle je ein Kind normal war, ver-
dient hervorgehoben zu werden.
Med. Jahrbücher. 1887. 40 <17)
512 Schwarx.
Der EinflusB der Frühgebarten auf das Häafigkeitspercent
der Erkrankung an Rachitis geht zur Evidenz aus den yorliegenden
Daten hervor, da wir sehen, dass mit der zunehmenden Reife
der Kinder der Percentsatz der Erkrankten abnahm.
Für den praktischen Arzt ergibt sich aus den vorliegenden
statistischen Uebersichten die Pflicht, in erster Linie sein beson-
deres Augenmerk auf die Diätetik der Schv^angeren im weitesten
Sinne zu richten, um jene schädlichen Einflüsse zu eliminiren,
die zwar der Mutter selbst keinen augenfälligen Schaden bringen,
wohl aber dem zarten und im Entstehen begriffenen kindlichen
Organismus gegenüber sich als ein intensiv wirkendes Gift erweisen.
In zweiter Linie hat der Arzt möglichst bald nach der
Geburt genau auf die etwa vorhandenen Symptome der congenitalen
Rachitis an der Frucht zu invigiliren, um, wie dies auch Unruh
proponirt hat, im gegebenen Falle auf eine möglichst frühzeitige
Behandlung der Rachitis mit aller Energie zu dringen.
Zum Schlüsse möchte ich mir noch erlauben, auch an dieser
Stelle dem Herrn Docenten Dr. Kassowitz, sowie Herrn
Dr. C. Hoch Singer für ihre freundlichen Rathschläge meinen
innigsten Dank auszusprechen.
Erklärung der beigegebenen Tafeln.
Präparat, einem reifen Kinde männliclien Geschlechtes angehörend.
Scheitel- und Stirnbein der linken Seite mit ihren die grosse Fonianelle
begrenzenden Partien.
Taf.XXIY. Stirnbein.
Taf. XXV. Scheitelbein.
F. P.: Faserschichte des Pericraninm.
Z. F.: Zellenschichte des Pericraninm (mit zahlreichen stark erweiterten und
strotzend gefällten Blutgefässen).
V. K, : Verkalkter Knochen.
ü. 0,: ünverkalktes osteoides Gewebe.
Z, E.: Zellenschichte des Endocraninm.
F, E,: Faserschichte des Endocraninm.
D.: hyperämisches Doragewebe.
F. M.: FontaneUmembran.
->M<-
(18)
XXI.
Zur Kenntniss der Strophanthinwirkung.
Von
Docent Dr. H. Faschkis und Dr. Th. Zemer jnn.
(Am 11. Juli 1887 von der Bedaction übernommen.)
Zu den im Nachstehenden geschilderten Versuchen bedienten
wir uns erstens einer nach Fraser's (^^) Vorschrift aus Samen
von Strophanthus Eombä bereiteten alkoholischen Tinctur, zweitens
einer wässerigen Lösung von Strophanthin selbst. Die erstere
verhält sich so, wie Fräser angegeben, bis auf den Umstand,
dass sie sich (nach der Extraction der Samen mit Aether) mit
grösseren Mengen Wassers nicht ohne Trübung mischen lässt.
Sie schmeckt intensiv und nachhaltig bitter. Das von E. Merk
bezogene Strophanthin (nach brieflicher Mittheilung gleichfalls
aus Strophanthus Kombä dargestellt) ist ein weisses, krystallinisches,
in Wasser lösliches Pulver. Die wässerigen Lösungen sind nicht
vollkommen klar, sondern opalisirend. Die Opalescenz ninmit mit
der Concentration zu. Die Lösungen rea^ren neutral. In kalter
concentrirter Salzsäure löst sich das Strophanthin farblos; beim
Erwärmen färbt sich die Lösung unter Trübung schön grünlich-
gelb ; in concentrirter Salpetersäure ist es ebenfalls farblos löslich,
beim Erwärmen wird die Lösung schön gelb, bleibt aber klar;
in concentrirter Schwefelsäure löst es sich mit purpurbrauner
Farbe, die bei massigem Erwärmen schwarzgrün wird. Beim Er-
wärmen mit Säuren oder mit Alkalien, mit welch letzteren es
40 ♦ ^i>
514 Pasclikis und Zerner jun.
sich nicht sichtlich verändert, entwickelt sich ein Geruch wie
nach Harz. Wird Strophanthin mit verdünnten Mineralsänren
einige Zeit erwärmt, so redncirt die Lösnng Fehl Ingusche
Flüssigkeit. (Die Autoren sind nicht einig, ob das Strophanthin
ein Glycosid ist, wie ursprünglich Fräser angegeben hat. Das
von uns verwendete Strophanthin wird von Merck einmal als
Qlycosid, einmal ausdrücklich als kein Glycosid bezeichnet.) Wird
etwas Strophanthin in Alkohol gelöst, etwas Weniges Eisen-
chlorid und dann concentrirte Schwefelsäure hinzugefligt, so färbt
sich die alkoholische Lösung gelblichgrün. ^) LOst man Strophanthin
in wenig Wasser, fügt eine Spur Eisenchlorid hinzu und setzt
sodann concentrirte Schwefelsäure hinzu, so trübt sich die Flüssig-
keit imd färbt sich lauchgrün. >)
L Venuohe am Frosch.
An einer kräftigen Rana esculenta beträgt die Zahl der
Schläge des blossgelegten Herzens 46 in der Minute.
10^ 40' Strophanthin 1 : lO'OOO, ein Tropfen aufs blossgelegte Herz.
— 41' Energischere Systole und ausgiebigere Diastole.
— 53' Das Herz schlägt wieder wie zu Beginn des Versuches.
— 54' 2 Tropfen.
— 58' Puls 40, Systole viel energischer; während derselben
wird das Herz vollkommen blutleer.
11 ^ — An der Spitze und den beiden Winkeln der Basis blasen-
artige partielle Diastole; Peristaltik des Ventrikels.
— 4' P. 20, continuirliche Peristaltik ; keine vollständige Systole.
— 6' Kegelmässige Diastole mit partieller abwechselnd.
— 11' Diastole wieder regelmässig, gering entwickelt und erfolgt
in Absätzen.
— 36' P. 17, Peristaltik wechselt mit regelmässigen Diastolen
von immer geringerer Ausdehnung ab.
— 40' Auf zwei Vorhofscontractionen kommt eine Contraction
des Ventrikels.
') Lafond'sche Beaction auf Digitalin.
0 Helbing*8clie Eeaction auf Strophanthin. (The Pharm. Jonm. and
Transact. 1887, pag. 924.)
(2)
Zur Kenntniss der Strophanthiiiwirkaiig. 515
11^ 46' Die vordere Wand des VentrikelB dehnt sich gar nicht
mehr ans.
— 52^ Die Kammer steht in der Systole still, die Wand ist
vollständig erblasst, der enorm ausgedehnte Yorhof
pulsirt noch.
— . 68' Die Vorhofspnlsationen werden immer kleiner.
12^ 5' Stillstand des stark aasgedehnten Vorhofes.
Aehnlich verliefen die übrigen Versnche, welche in der bei-
liegenden kleinen Tabelle zusammengestellt sind. Bei Bana tem-
poraria war in gleicher Weise vergrösserte Energie der Systole und
schliesslicher Stillstand in Systole zu constatiren, während die
überaus charakteristischen partiellen Diastolen und die Peristaltik
fehlten oder nur andeutungsweise auftraten.
Wie Schmiedeberg und Koppe ^) constatirt haben, ist
das Verhalten von B. esculenta und temporaria gegen Digitalin
gerade umgekehrt. Die typisc&e Wirkung, besonders die Peristaltik,
tritt bei der letzteren leicht und rasch ein; bei jener langsam
und undeutlich. Bei dem Strophanthin konnte weder die Ver-
grösserung, noch die Verringerung der Gaben diesen Theil der
Wirkung an B. temporaria beeinflussen. Die Wirkung des Stro-
phanthins (gleichgiltig, ob in wässeriger Lösung oder als Tinctur,
nur dass bei letzterer mitunter im ersten Moment ein Stillstand
eintritt) entspricht bis auf kleine Differenzen ganz der des Digi-
talins: Erhöhung des Blutdruckes, mit dieser zugleich
Verlangsamung der Pulsfrequenz, peristaltische
Bewegung des Ventrikels, Stillstand desselben in
Systole und kurz nachher auch Stillstand der Vorhöfe
in Diastole.
Eine Aenderung dieser Erscheinungen tritt auch nach vor-
hergängiger Atropinapplication nicht ein.
Der Ort der Application des Strophanthins hat auf den Ver-
lauf der Erscheinungen keinen Einfluss. Wir haben die Strophan-
tbinlösung direct auf das Herz geträufelt, subcutan, in die Bauch-
höhle, in den dorsalen Lymphsack injicirt, ohne eine Aenderung
in der Wirkung wahrzunehmen.
') lieber die Digitalinwirkimg am Her2aniiskel des Frosches. Beiträge xar
Anatomie und Physiologie. Festgabe an G. Ludwig, Leipzig 1874.
(3)
516 PaHchkis und Zerner jnn.
Das ausgeschnittene Frosehherz zeigte im Grossen und
Ganzen dieselben Vergiftungserscheinnngen , wie das in situ be-
befindliche. Es war jedoch anfangs oft eine Polsbeschleunignng
zu constatiren und die Peristaltik war nur von kurzer Dauer.
Der schliessliche Stillstand in Systole dauert stundenlang.
Von den genannten Symptomen haben wir nur die Blut-
druckserhöhung graphisch dargestellt. Fig. 1 ist das Bild einer
Cnrve, welche das mit Strophanthus vergiftete Herz eines leicht
curarisirten Frosches lieferte.
Fig. 1.
In der folgenden Tabelle geben wir einen Ueberblick über
unsere nach der geschilderten Methode ausgeführten Versuche.
Um die Einwirkung des Giftes auf die Gefasse zu prüfen,
wurde das Mesenterium schwach curarisirter Frösche unter das
Mikroskop gebracht und den Fröschen entweder von der Tinctur
2—10 Tropfen oder von der wässerigen Lösung des Strophanthins
(1 : 10.000) 5 — 20 Tropfen subcutan injicirt, hin und wieder auch
diese Flüssigkeiten direct auf das Mesenterium aufgeträufelt. Bei
der Injection konnte niemals Gefässverengerung beobachtet
werden.
Bei der localen Application trat allerdings eine zum voll-
kommenen Verschluss der Gefasse ftihrende Verengerung ein.
Doch ist zu bemerken, dass die locale Wirkung bei Anwendung
der Tinctur zum Tbeil auf den Alkoholgehalt der letzteren ' bei
der wässerigen Lösung natürlich nur auf das Strophanthin zu
beziehen ist.
2. Versuche an Händen.
1. Protokoll.
Hund, 8 Kilo schwer, tracheotomirt, schwach curarisirt.
11^ 55'. P. 46. Bldr. 134 Mm.
— 56'. Injection von 0*0002 Grm. Strophanthin in die Vena
jugularis.
— 58'. P. 46. Bldr. 134 Mm.
(4)
Znr EenutniBB der Strophanthinirirbiing.
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518 Paachkis und Zerner jtm.
12^ — . Bl. 134. Lyection von 0-0002 Qrm. Strophanthin.
— 3'. P. 46. Bldr. 134 Mm.
— 4'. Injection von 0*0005 Grm. Strophanthin.
— 5'. Arrhythmie der Pulse, der Blntdruck beginnt zu sinken.
— 6'. P. 28 (?). Bldr. 119 Mm. (die kleinsten Pulse vielleicht
nicht gezählt).
— 7'. Pulse wieder regelmässig, Blutdruck steigt.
— 9'. P. 45.
— 11'. Bldr. 189 Mm. Blutdruck sinkt.
— 13'. P. 50. Bldr. 172 Mm.
— 16'. P. 46. Bldr. 154 Mm. Blutdruck ändert sich nicht mehr.
— 17'. Bldr. 154 Mm. Injection von 0*005 Strophanthin.
— 18'. P. 47. Blutdruck beginnt zu sinken.
— 19'. P. 50. Bldr. 125 Mm.
— 20'. Arrhythmie des Pulses. Nach wenigen solchen Pulsen sinkt
der Schreiber rapid auf die Abscissenaxe.
Die Section zeigt Ventrikel und Vorhöfe dilatirt.
2. Protokoll.
Hund, 5 Kilo schwer, Vagi durchschnitten, sonst dieselbe Vor-
bereitung.
4^ 3'. Bldr. 200 Mm. Injection von 0001 Grm. Strophanthin.
— 7'. Bldr. 1S2 Mm.
— 10'. Bldr. 140 Mm.
— 11'. Bldr. 118 Mm. Arrhythmien, wechseln mit regelmässigen
Pulsen.
— 12'. Bldr. 110 Mm. Continuirliche Arhrythmien des Pulses.
— 13'. Bldr. 110 Mm.
— 14'. Der Druck beginnt wieder zu steigen.
— 15'. Bldr. 148 Mm.
— 17'. Bldr. 174 Mm.
— 19'. Injection von 0'0005 Grm. Strophanthin.
— 22'. Bldr. 162 Mm. Druck beginnt zu sinken.
— 23'. Bldr, 154 Mm.
— 24'. Bldr. 132 Mm. Arrhythmie des Pulses.
— 25'. Bldr. 92 Mm. Nach wenigen arrhythmischen Pulsen sinkt
der Schreiber auf die Abscissenlinie.
(6)
Zar Kenntnisa der Strophanthinwirkniig. 519
Bei der Section sind Ventrikel und Vorhöfe im Zustande
der Dilatation.
Die mit Hilfe des Kymographion von den verschiedenen
Forschem ausgeführten Versuche haben bisher keine vollständig
identischen Resultate geliefert. F r a s e r (") erhielt bei seinen Ver-
suchen — an vp^elchen Thieren gibt er nicht an — stets anfäng-
liche Blutdrucksteigerung, nach Langgaard(^^) kommt es
nach Injection ganz kleiner Dosen in die Vene eines Kaninchens
stets zu einer primären nicht unerheblichen Blutdrucksenkung und
dann zum Tod.
Unsere Versuche an Hunden ergaben, dass eine Injection
kleiner Dosen (0-0005 Grm.) Blutdrucksteigerung zur Folge hat,
wonach der Druck wieder zur ursprünglichen Höhe absinkt und
constant bleibt. War die Dosis um etwas grösser, so geht dieser
Blutdrucksteigerung ein anfängliches Sinken mit Arrhythmie des
Pulses voraus. Nach Injection grösserer Dosen (O'OOl Grm.) sinkt
der Blutdruck im Verlaufe von 2 — 3 Minuten. Immer aber kann
sich das Herz, auch' wenn Arrhythmien auftreten und der
Druck sehr niedrig ist, wieder vollständig erholen. Nach Injection
noch grösserer Dosen (0005 Grm.) sinkt der Druck sofort und
binnen wenigen Minuten (2 — 3) tritt Herzstillstand ein. Eine Puls-
verlangsamung konnten wir bei allen Versuchen an Hunden mit
Sicherheit nicht wahrnehmen. Die Vagusdurchschneidung führte
keine Veränderung in den Erscheinungen herbei.
3. Versuche am Menschen. 0
Zum Schlüsse wollen wir noch einige Bemerkungen über
die Wirkung des Strophanthins beim Menschen hinzufügen.
Pins(^^) hat in neuester Zeit ohne Angaben genauer Daten
mitgetheilt, dass „bei gesunden erwachsenen Personen die Tinctur
in täglich dreimaliger Dosis von 5 — 10 Tropfen keinen, wie
immer gearteten Einfluss auf die Herzthätigkeit, Pulsfrequenz oder
Diurese gehabt habe. Wurden 20, respective 15 Tropfen am
*) Ansfölirlichea darüber erfolgt in einer Arbeit des Einen von nns
(Z.) im Vereine mit cand. med. Low aas der Klinik des Herrn Hofrath
y. Bamberger.
(7)
520
Paschkis und Zerner jnn.
selben Tage 2mal gegeben, so erschien die Hammenge in den
nächsten 24 Stunden im Vergleiche zu den vorangegangenen Tagen
wesentlich vermehrt**.
Wir wollen an der Hand einiger Fälle unsere Resultate anfügen.
1. S., 28 Jahre alt, Tischler, die klinische Untersuchung
ergibt einen völlig normalen Befand an Lungen, Herz und Arterien.
Demselben wurden um 10 Uhr 57 Min. 20 Tropfen Tinct Stro-
phanthi gegeben. Die Pulszahl betrug 57, der Blutdruck mit dem
V. Base h'schen Sphygmographen an der Arteria radialis gemessen
80 Mm. Nach 30 Min. sank die Pulszahl auf 55 , der Blutdruck
war auf 89 Mm. gestiegen. Der Patient gab an, sonst absolut nichts
zu verspüren. Die Pulscurven mit dem Du dgeo n'schen Sphygmo-
graphen bei derselben Spannung, vor und 30 Min. nach der Gabe
aufgenommen, boten folgende Bilder: Fig. 2 (vor) und 3 (nach).
Fig. 2.
Fig. 3.
Die Pulswelle ist bedeutend höher. Der aufsteigende Schenkel
besonders in seiner oberen Hälfte steiler ansteigend, der ab-
steigende in eben demselben Theile steiler abfallend, der Gipfel
demgemäss spitzer — Erscheinungen, die auf eine ausgiebigere and
raschere Thätigkeit des linken Ventrikels zurückschliessen lassen.
Dem entspricht auch die stärker ausgeprägte Eückstosselevation.
Um die Einwirkung auf die Diurese zu prüfen, gaben wir in
einem anderen Falle im Verlaufe von 16 Stunden 3mal 15 Tropfen.
2. Z. , 30 J. , Kutscher, zeigt gleichfalls in Bezug auf
Lungen, Herz, Arterien und Nieren einen völlig normalen Befund.
Die Diurese in den früheren Tagen schwankte zwischen 600
und 400 Ccm.
Vor der ersten Gabe 4 h. p. m. war die Pulstrequenz 76 in
der Minute, vor der 3. Gabe 8 h. a. m. 74, 15 Min. nach der-
(8)
Zur Kenntniss der Strophanthinwirknng; 521
selben 68, nach weiteren 37 Min. 60 Schläge in der Minute. Die
Diärese war an diesem Tage und dem folgenden Tage 400 Cem.
Andere Versuche am gesunden Individuum zeigen das gleiche
Resultat.
Eine Vermehrung der Diurese bei Gesunden durch Dosen
bis 45 Ott. Tinct. stroph. lässt sich daher nicht annehmen.
Die pathologischen Fällen entnommenen Gurren zeigen die
oben geschilderte Wirkung des Strophanthins noch um Vieles
deutlicher. Wir fügen hier 2 derartige Curven an, Fig. 4 u. 5, die
einem Falle von Mitralinsufficienz entstammen, bei dem hochgradige
Compensationsstörungen bestanden, die nach vergeblicher Verab-
reichung der verschiedensten Herzmittel, darunter auch der Digi-
talis, erst durch Tinctura Strophanthi behoben wurden. Die erste
Curve wurde vor der Darreichung des Medicamentes, die zweite
1 Woche später aufgenommen.
Fig. 4. Fig. 6.
Auch hier ist die Celerität des Pulses eine mehr ausge-
sprochene, die Pulswelle höher, aber es tritt, der bedeutend ge-
stärkten Herzthätigkeit entsprechend, die erhöhte Spannung durch
die stärkere Ausprägung der Elasticitätselevationen deutlicher
hervor und endlich lernen wir noch eine weitere Eigenschaft des
Strophanthins kennen, nämlich das Vermögen, die Arrhythmie des
Pulses zu beheben.
Fassen wir Alles zusammen, so muss das Strophanthin als
ein intensives Herzmittel aufgefasst werden, dem am Krankenbette
gewiss noch eine Zukunft bevorsteht.
Die Thierexperimente wurden im Laboratorium für allgemeine
imd experimentelle Pathologie zu Wien ausgeftlhrt, die Versuche
am Menschen an der H. medicinischen Klinik.
Literatur:
1. D. et Ch. Liyingstoiie, Bzplorfition du Zamb^ et de ses affloants
et la d^conyerte des lacs Chirona et Nyassa 1858—1864. Tradnit par lime.
Lorean. Paris 1868, pag. 434.
2. Pelikan, Snr nn nonvean poison dn coenr provenant de rin6e on
Onage et employ^ on gaben (Afriqne occidental) comme poison des fldclies.
(9)
522 Pasclikis und Zerner jim.
3. Sliarpey, Prooeedinga of the Rojal Society. Mai 1865.
4. Fagge and Steyenson, Pharmaoentical Jonmal and Transactionfl.
1866—1866 Vol. H.
5. Fräser, On the Kombi arrow poison of Africa. Jonmal of Anat.
and Phys. VH, 139.
6. Fräser, Proceed. of the Royal society of Edinb. Session 1869—1870.
7. Poillon etCaryille, J^tnde pbysiologiqne sur les effets toxiqnes
de rinöe. Arch. de pbys. norm, et path. 1872, pag. 528 — 680.
8. Valentin, Die Giftwirknngen des KombL Zeitschr. f. Biologie.
1874, X, 133.
9. Hardy et Gallois, Gaz. m^d. de Paris. 1877, pag. 113.
10. Hardy et Gallois, Snr le principe actif dn Stropbanthns hispidns.
Journal de Pharmac. et de Chim. 1877, Bd. 25, pag. 177.
11. Fräser, The action and nses of Digitalis and its snbstitatea with
special reference to Strophanthns (Hispidns?). The Brit. Med. Journal. 1885, pag. 904.
12. Fräser, Note on Tincture of Strophanthus. The British Med. Joum.
1887, pag. 151.
13. W. Elborne, A contribution to the Pharmac ognosy of Strophanthus.
The Pharmaceutical Joum. 12. March 1887.
14. T. C h r i 8 1 y , Strophanthus Komb^. New commercial Plauts and Drugs.
1836, Nr. 9.
15. Briefe aus England. Pharmaceutische Zeitung. 1887, Nr. 27.
16. The Chemist and Droggist. Vol. XXX, Nr. 352, pag. 55.
17. Oliyer, Chemiker-Zeitung. 1887, Nr. 11, pag. 20.
18. Hei hing, Pharmaceutische Zeitschrift. 1837, XXXII, Nr. 6.
19. Dräsche, Sitzungsbericht der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom
29. April 1887. Wiener med. Blätter. 5. Mai etc. 18S7.
20. Pins, Sitzungsber. d. Wien. med. Doctoren-Colleg. v. 18. April 1887.
Therapeutische Monatshefte. Juni 1887.
21. Xleinschmidt, The Glasgow Medical Joumal. December 1886.
22. Hill, Brit. Med. Joum. 1887, Bd. I.
23. Langgaard, Therapeutische Monatshefte. Maiheft 1887.
-m^
(10)
XXII.
Das Eiweiss der Kiebitzeier als Nährboden
für Mikroorganismen.
Von
Dottore Domenico Dal Pozzo ans Fafinza (Italien).
(Iu8 dem k. k. enbryoloiisclien Institute des Prof. Schenk in Wien.)
(Von der Bedaction am 3. Juli 1887 ftbemommen.)
Die bedeutenden Fortschritte, welche im Stndium über die
Mikroorganismen in den letzten Jahren sich zeigten, haben ihren
Grund wesentlich darin gefunden, dass ihr Nährboden derart
geordnet wurde, damit deren Eigenthümlichkeiten griindlicher als
vorher erkannt werden. Die bahnbrechenden Arbeiten von Koch
imd seiner Schule in Berlin waren es, welche den Impuls zur
Förderung der Lehren über die Mikroorganismen gaben. Es fanden
sich eine grössere Anzahl bewährter Männer, deren Mittheilnngen
besonders fördernd in der Eenntniss der Pathologie des menschlichen
und thierischen Organismus wurden.
Männer wie Pasteur, A. de Bary, Nägeli, Cohn, Elebs,
Salomonsen, Brefeld, Zopf, Buchner, Flügge,
Lydtin, Bizzozero, Schottelius, Miguel, Levis,
Finkler, Prior, Löffler, Hesse etc., femer die jüngeren
Schüler EocFs: Gaffky, Gärtner, Plagge, Weisser,
Frank, dannHueppe, Fränkel, Johne, Babes etc. haben
sich als Forscher und Lehrer auf dem fraglichen Gebiete ihre
(1)
524 ^a1 Pozzo.
bedeutenden und hochzoschätzenden Verdienste erworben. Es sei
sogleich zu Beginne meiner Mittheilung herrorgehoben, da^s bei
der in letzter Zeit sich täglich mehrenden Literatur in einer
so kurzen Schrift, wie die vorliegende, kaum an eine Erschöpfung
der Literatur des Faches, in welche diese Abhandlung fällt, zu
denken ist. Nur eine kurze Andeutung der Lehren über die gegen-
wärtig in Anwendung stehenden Nährböden zur Züchtung der
Mikroorganismen wollen wir anführen. An diese sollen dann
die Ergebnisse über den von mir gewählten Nährboden und
einige Resultate, welche wir damit erzielten, angereiht werden.
In den Handbüchern von Hueppe^) und FränkeP) ist
die Zusammenstellung der Literatur über die verschiedenen Nähr-
böden und die Methoden zur Reincultur der Bacillen und Coccen
genau angegeben. Es stellt sich heraus, dass man durchsichtige
flüssige Nährböden von verschiedener Zusammensetzung angewendet
hat. Dieselben sind von verschiedenen Autoren auch in ver-
schiedener Weise zur Züchtung benutzt worden. Femer wurden
undurchsichtige feste Nährsubstrate in Anwendung gebracht. Die
bedeutendsten Erfolge auf diesem Gebiete sind durch die Ein-
führung der Gelatinculturen zu verzeichnen. Klebs') wandte
zuerst die Hausenblase zur Cultur der Coccen an, Brefeld*)
versetzte die Nährlösungen mit Carraghen oder Gelatine. Erst mit
der Verwendung der festen Gelatine und Agar-Agar-Nährböden in
der Form von Platten- und Stichculturen, mit der Benützung des
coagulirten Blutserums in der Weise, wie diese Methoden durch
Koch und seine Schule gelehrt werden, sind die Studien leichter
ermöglicht worden und zur allgemeinen Benützung den Fach-
männern zugänglich.
Obgleich man sich gestehen muss, dass die Erfolge, welche
mit Hilfe dieser Methoden aufzuweisen sind, geradezu überraschend
^) Ferd. H neppe, Die Methoden der Bacterienforschnng. 4. Anfl. Wies-
baden 1886.
*) C. Fränkel, Gmndriss der Bacterienknnde. Berlin 1887.
^) Klebs, Beiträge znr Kenntniss der Mikrococcen. Archiv f. experiment.
Pathol. 1873, Bd. I.
*) Brefeld, Botanische üntersnchnng der Schimmelpilze. 1872^1881,
Bd. I-IV.
(2)
Das Eiweiss der Kiebitzeier als Nährboden für Mikroorganismen. 525
wirkten, so Bcheint es doch nicht ausgeschlossen, dass man es
nicht wagen dürfte, die Reihe der Nährböden zu vermehren, in
der Erwartung, vielleicht auf diesem Wege noch Einiges über die
Lebensweise der Mikroorganismen zu erfahren.
Ich suchte daher eiweisshaltige Nährböden anzuwenden. Diese
zeigten sich aber wegen ihrer Trübung, welche sie bei der Ge-
rinnung erlangen, weniger verwendbar. Es war daher angezeigt,
das Eiweiss aus den Eiern der Nesthocker zu wählen, welches
bei der Gerinnung nicht zu einer opaken weissen Masse erstarrt,
sondern bei einer Temperatur, wo das Eiweiss gerinnt, sich zu
einer durchsichtigen starren opalisirenden Masse gestaltet. Auf
diese Verschiedenheit des Eiweisses der Vogeleier wurde von
Tarchanoff^) hingewiesen, indem er durch seine Untersuchungen
zeigte, dass bei den gefiedert geborenen Vögeln (Nestflüchter) das
Eiereiweiss zu einem opaken Coagulum in der Hitze wird, während
bei den nacktgeborenen (Nesthocker) dasselbe bei der gleichen
Behandlungsweise klar und durchsichtig bleibt. Tarchanoff
führt eine längere Reihe der Vögel an, deren Eiereiweiss
dieses Verhalten zeigt. Auch suchte dieser Autor nach einer
Möglichkeit der Umwandlung des in der Hitze trübe werdenden
Eiweisses in die andere Form, was ihm dadurch gelungen war,
dass er Hühnereier durch einige Zeit in Ealilösung liegen liess,
worauf sich das um den Dotter befindliche Eiereiweiss in das
sogenannte Tataeiweiss ^) umgestaltet.
Das Eiweiss der Nesthocker verwendete ich als Nährboden
für die Mikroorganismen. Vorwiegend benützte ich das Eiweiss
der Kiebitzeier, da diese mir leicht zugänglich waren und da sie
verhältnissmässig mit Rücksicht auf ihre Grösse auch ziemlich
viel für unsere Zwecke verwendbares Eiweiss besitzen.
Wenn man das frische Ei der Vögel aufschlägt und den
Inhalt desselben in eine Schale mit einemmale auswirft, so be-
obachtet man, dass das den Dotter umgebende Eiweiss dichter
ist als die Eiweissschichte, welche dieses umgibt und der Schalen-
haut anliegt. Die letzte ist geradezu bei manchen Eiern dünn-
*) Tarchanoff, Pflüger's Archiv d. Physiol. XXX, pag. 303.
*) So nennt Tarchanoff das Eiweiss in den Eiern der Nesthocker. T a t a
ist ein Diminntivnm eines in Bnssland gebräuchlichen Mädchenvomamens.
(3)
526 l>ai Pozzo.
flüssig, während das dem Dotter anliegende Eiweiss nicht leicht
auseinander fliesst. Dieses verschiedene Verhalten ist nicht
allein auf eine verschiedene Concentration des Eiweissgehaltes,
sondern anch anf eine verschieden dichte Anordnung der Septa
in der Eiweissmasse zurückzuführen. Bei den Kiebitzeiern ist
diese äussere Schichte ziemlich stark flüssig und tritt dadurch
die Scheidung dieser von der den Dotter umgebenden Schichte
sehr deutlich hervor.
Man eröfifhe ein Kiebitzei und lasse aus dem vorher mit allen
Cautelen äusserlich gereinigten und mit 1 pro Mille Sublimatlösung
äusserlich desinficirten Eie die flüssige Eiweissmasse in ein sterl-
lisirtes Gefäss abfliessen. Die dichtere den Dotter umgebende
Eiweissschichte verwende man nicht zugleich. Hierauf wird dem
Volumen vom flüssigen Eiweiss der vierte Theil Wasser zugeführt,
welches gleichfalls früher sterilisirt wurde. Von dieser Lösung
giesst man in sterilisirte mit einem Wattapfropf verschlossene
Proberöhren und gewinnt aus einem Ei ungefähr für vier bis fünf
Eprouvetten zu vertheilende flüssige Lösung. So hergerichtete
Eprouvetten werden, in ähnlicher Weise wie beim Herstellen des
Blutserums oder anderer fester Nährböden, passend schief gestellt
und bei einer Temperatur von ungefähr 70® C. zur Gerinnung
gebracht. Es wird zur Sicherheit die discontinuirliche Sterilisining
mit den so hergerichteten Nährböden durchgeführt, was wohl, wie
wir aus den folgenden Mittheilungen ersehen werden , nicht un-
bedingt nöthig zu sein scheint.
Man kann eine Aenderung des Nährbodens insofeme noch
dadurch bewirken, dass mau zu der Eiweisslösung verschiedene
im Wasser lösliche Substanzen hinzufügt, die keine Gerinnung
der Lösung bewirken und deren Zusatz nur insofeme eine Aenderung
des Nährbodens bewirkt, als man dem Eiweiss noch andere füi*
das Gedeihen der Culturen brauchbare Körper beigemengt hat.
Von solchen Körpern wählte ich bisher Glycerin, Dextrin, Kleister,
Zuckerlösung, welche Lösungen vor dem Zusätze filtrirt und sterilisirt
wurden. Das Glycerin verwendete ich vorzugsweise im Gemenge
mit der den Dotter umgebenden dichteren Eiweissmasse, die mit
Glycerin und Wasser gemengt, hierauf filtrirt in ähnlicher Weise
verwendbar wird, wie die aus der verdünnten Eiweissmasse
(4)
Das Eiweiss der Kiebitzeier als Nährboden für Mikrooi^anismen. 527
hergestellten Nährböden. Anch hier tritt die diBContinuirliche
Sterilisation in Anwendung.
An derartig hergestellten Nährboden worden einige Versuche
bei gewöhnlicher Zimmertemperatur zunächst mit Saprophyten
angestellt und auch einige parasitäre Mikroorganismen, soweit
mir Reinculturen zur Verfügung standen, verwendet
Im Allgemeinen zeigte sich das Verhalten des Nährbodens,
wenn man die Stichcultur machte, folgendermassen : An der Stelle
des angebrachten Stiches trat eine Trübung auf, welche sich
bald nach einigen Tagen verdickte, ohne radiär auszustrahlen.
Von der Stelle des angebrachten Stiches trat zuweilen eine
Trübung auf, die nicht so wie im ersten Falle dem angebrachten
Stiche entsprechend sich nur einfach im Nährboden verdickte,
sondern von hier aus in die Eiweissmasse eingreift und sich durch
dieselbe verbreitet, so dass die ganze Masse getrübt erscheint und
von dem Impfstiche aus die Gultur den ganzen Nährboden durch-
greift. Hierbei kann der Nährboden fest bleiben, obgleich er trübe
geworden, oder er beginnt sich von der Oberfläche aus zu ver-
flüssigen. Die an der Oberfläche des Nährbodens mit der Impf-
nadel angebrachten Striche können ihre Stichform beibehalten,
oder sich nach der Breite auf der Oberfläche inselartig aus«
dehnen oder gleichfalls in die Tiefe eingreifen und den Nährboden
trüben und verflüssigen.
Die verschiedenen Formen des Wachsens der Mikroorganismen
auf diesem Nährboden sind so charakteristisch, dass sie je nach
der Art derselben unterschieden werden können. Es mögen hier
einige Erfahrungen mitgetheilt werden, welche ich an einigen
Mikroorganismen machte. Der Micrococcns prodigiosus gedeiht in
einem schönen rosafarbigen Tone besser und schöner auf einem
stärkehaltigem Nährboden. Er verflüssigt nach und nach den
letzteren, bis die ganze Masse von diesen Mikrococcen durchsetzt
ist. In den Fällen, wo das reine mit Wasser gemengte Eiweiss
als Nährboden verwendet wurde, ist die Farbe bei Zimmertemperatur
mit der Zeit mehr weniger schmutzigbraun geworden. Der Ba-
cillus des grünen Eiters verhielt sich in ähnlicher Weise. Der
Nährboden ward schön smaragdgrün, welche Farbe sich bald
Med. Jahrbücher. 1887. 4X (&)
528 ^<^l POBBO.
gleichmässig über den ganzen Nährboden verbreitet nnd nach der
Verflttssigang beibehalten wird.
Der Bacillofi der blanen Milch bräunt anfangs den eiweiss-
haltigen Nährboden. Bei auffallendem Lichte tritt in späteren
Stadien seines Wachsens eine Andeutung von Bläue auf. Der Bacillus
yiolaceus fällt auch hier durch seine schöne violette Farbe auf. Die
Hefe gedeiht gleichfalls schön und tritt bei farbiger Hefe die Farbe
derselben deutlich hervor, jedoch stets in helleren Nuancen als auf
manchen anderen verwendeten Nährböden. Die schwarze Hefe ver-
liert theilweise in dünnen Schichten ihre Pigmentirung und wird
zuweilen gelblich. Die Rosahefe ebenso, die weisse und gelbe Hefe
gedeihen schön und behalten ihre Farbe bei. Der Erysipel-Mikrococcus
(Fehleisen) greift vom Impfstiche bald durch den ganzen Nähr-
boden. Es wird hierbei die Eiweissmasse derart difiundirt, dass
sie ziemlich getrübt erscheint. Dieser Mikroorganismus ist ein
Repräsentant jener Mikroorganismen, welche bei ihrem Wachsthum
die Eiweissmasse als Nährboden durchsetzen und sich in diffuser
Form in denselben verbreiten, dabei den Impfstich stets deutlicher
hervortreten lassen.
Eine Reihe anderer Mikroorganismen zeigten bald das eine, bald
das andere Bild am Nährboden. Manche gedeihen nur sehr langsam.
Zuweilen war gar kein Erfolg der Impfung nachzuweisen oder
derselbe war unsicher.
Eine der ferneren Aufgaben, welche ich mir stellte, war,
zu entscheiden, ob denn in dem frischen, dem Kiebitzei entnommenen
Eiweiss bereits Keime enthalten sind, aus denen sich Mikro-
organismen entwickeln. Zu diesem Zwecke nahm ich das frische
Eiweiss aus dem Ei und trug es, ohne irgend einen Zusatz, auf
eine sterilisirte Glasplatte auf. Die dünne Schichte Eiweiss wurde
unter dem Recipienten einer Luftpumpe über Schwefelsäure ge^
trocknet Die so getrocknete Eiweissschichte ward in eine steri-
lisirte feuchte Kammer gelegt und mehrere Tage, ja sogar
zwei Wochen, liegen gelassen. Bei der näheren makroskopischen
und mikroskopischen Untersuchung ergab es sich wiederholt, dass
die frischen nicht in Bebrütung befindlichen Eier, welche ein
klares Eiweiss besitzen, frei von Mikroorganismen waren.
(6)
Das Eiweiss der KiebitEeier als N&hrboden für Mikroorganismen. 529
Wenn ich die Eiweissschichte auf den Glasplatten, bevor
sie getrocknet wurde, mit irgend einer Reincnltnr geimpft habe,
so bekam ich nach einer Reihe von Tagen die den bezüglichen
Mikroorganismen entsprechenden Inseln in den verschiedensten
Formen zn sehen, ohne dass darin von anderen Beimengungen
enthalten wäre, was der Provenienz den ursprünglich in der Eiweiss-
lösung enthaltenen Keimen entsprechen würde. Auf diese Weise
gelangte ich zu der Annahme, dass im frischen Eiweiss der
Kiebitzeier keine Keime für die Entwicklung der Mikroorganismen
enthalten sind.
Ich versuchte daher mit Hilfe dieser Eiweissmasse Platten-
culturen bei gewöhnlicher Zimmertemperatur in der Weise durch-
zuführen, dass ich auf der Platte mit der Platinnadel impfte
und daselbst die zur Impftmg verwendete Portion im Eiweiss
fein vertheilte. Die so hergerichtete Masse wurde über Schwefel-
säure unter dem Recipienten auf der Platte getrocknet. Hierauf
in die feuchte Kammer gebracht, ging die Entwicklung der
Mikroorganismen vor sich und man konnte von der Platte, die
stets feucht erhalten war, auf bekannte Weise weitere Impf-
versuche durchftihren.
Zum Schlüsse sei noch zu erwähnen, dass man die so her-
gerichteten Platten an einem womöglich dicht verschlossenen, vor
dem Zutritt von Mikroorganismen geschützten Orte trocknen lassen
kann und auf diese Weise ein Substrat für die weiteren Culturen
im Vorrathe behält, welches blos in den feuchten Kammern einige
Zeit gelassen, wieder als zur Verimpfung geeignet benützt werden
kann. Weitere Erfahrungen, besonders über die letzte in An-
wendung gezogene Methode, werden später aus dem Institute des
Herrn Prof. Schenk ausftlhrlicher mitgetheilt werden.
->I$H*
41 * <7>
xxni.
lieber die Abhängigkeit der Speichelsecretion
Yom Blatdracke,
Von
Dr. Th. Zemer jan.
(tüs liin iRstititi fir alli. u. nperlni. Patkolofli zu Wim.)
(Am 30. Juli 1887 von der Redaction übernommen.)
Vor Jahresfrist habe ich die Mittheilung gemacht ^) , dass
daä indigoschwefelsaure Natron durch die Olandnla submaxillaris
des Hundes zur Ausscheidung gebracht werden könne, wenn man
das Halsmark dieses Thieres durchschneidet.
Die Resultate der Arbeit waren in Kürze folgende : Beizt man
nach erfolgter Injection des Farbstoffes die Chorda, so wird zunächst
eine gewisse Menge (1 — 2 Ccm.) ungefärbten Speichels secemirt,
hierauf erfolgt eine intensive Blautärbung desselben. Bei der mikro-
skopischen Untersuchung der gereizten Drüse findet man im Lumen
der AusfÜhrung8gänge und Alveolen blauen Farbstoff, insbesondere
in den sogenannten Speichelröhren. Auch in den Zellen selbst
gelang es, den Farbstoff zur Fällung zu bringen, und zwar sowohl
in den Schleimzellen, als auch hier und da in den Stabchenzellen,
die die Speichelröhren auskleiden. ^) In den Alveolen ist nur dort
') Medicinische Jalirbüdier der k. k. Gesellschaft d. Aerzte. Nene Folge.
1806, Bd. L
') Grfinde, die mich nebst anderen bewogen haben, die Vermnthnng aus-
zusprechen, dass die Speichelröhren an der Secretion theilnehmen. Siehe 1. c.
pag. 197 n. ff.
(1)
TTeber die Abhängigkeit der Speidielsecretion vom Blutdrncke. 531
der Farbstoff zu finden, wo das Lmnen derselben weit, der Zell«
belag niedrig ist. Zumeist fand man die Alveolen mit weitem
Lumen respective mit Farbstoff und andererseits wieder jene mit
engen Lumen in Gruppen beisammenliegend. In Bezug auf die
Menge des ausgeschiedenen Farbstoffes schien es, als wenn der
Sympathicus rascher und in etwas grösserer Menge den Farbstoff
zur Ausscheidung brächte.
Vor Kurzem erschien nun eine Arbeit Eckhardts ^), in
welcher er zu dem Schlüsse gelangt: ^dass das indigoschwefel-
saure Natron aus dem Bindegewebe der Drüse in alle Theile des
Systems des Ausftihrungsganges durch die Wände desselben
diffundire und bei Reizung der Drüse vom Speichel blos mit fort-
geführt werde."
Ohne vorerst auf wesentliche Differenzen bei der Anordnung
und Ausführung meiner Versuche und jener Eckhardts einzu-
gehen, möchte ich darauf hinweisen, dass eine aufmerksame
Lecttire der von mir mitgetheilten Protokolle das Bedenken, das
indigoschwefelsaure Natron gelange durch Difiusion in die Aus-
führungsgänge, hätte zerstreuen müssen. Die Versuchsanordnung,
wie sie im III. Protokoll wiedergegeben ist, hatte eben den
Zweck, mir die Aufklärung zu verschaffen, ob eine solche
Deutung, wie sie Eckhard gibt, zulässig sei. Es ergab sich
dabei , dass , wenn man auf der einen Seite Chorda und Sym-
pathicus durchschneidet, auf der anderen die Chorda reizt, die
mikroskopische Untersuchung der nicht gereizten Drüse keinerlei
Farbstofhiederschlag weder in den Speichelröhren, noch in den
Alveolen erkennen lässt, obzwar die gereizte Drfise denselben in
der oben (pag. 530) angegebeneu Vertheilung zeigt. Wenn also bei
der Ausscheidung des Farbstoffes blosse Diffusion im Spiele wäre,
warum sollte sich der Farbstoff nicht auch in der ungereizten
Drüse finden ? Das Bindegewebe ist auch in dieser Drüse bläulich
gefärbt, ja wie es schien, noch intensiver, als in der anderen-
Warum femer findet die Diffusion immer nur in einer Gruppe
von Alveolen und Speichelröhren statt und concentrirt sich das
^) Ueber den Eintritt des in das Blat injicirten indigoschwefelsanren
Natrons in den Speiohel. Beiträge znr Physiologie G. Ludwig gewidmet 1887,
pag. 13.
532 Zernerjnn.
indigoBchwefelsanre Natron in compacten Massen nur in einzelnen
AnsfUhmngsgängen ? Wamm endlich bevorzugt die Difiosion
gerade die Speichelröhren? Dieser zuletzt genannte Umstand ist
auch Eckhard aufgefallen und zwingt ihn zu der Aeusserung:
„Ob dabei die das Gangsystem auskleidenden Zellen eine be-
sondere Anziehung zum Farbstoff haben, oder dieser ohne eine
besondere Thätigkeit jener durch Imbibition aus dem benaqh- ,
harten Bindegewebe eindringt, darüber enthalten die Versuche
kein ausschlaggebendes Moment.^ Wenn die Zellen „eine besondere 1
Anziehungskraft^ haben sollen, wie verträgt sich dann diese mit
dem rein passiven Vorgang der Diffusion?
Eckhard hat übrigens das wichtigste Moment meiner
Versuche unbeachtet gelassen. Auf pag. 193 (3) hebe ich hervor,
dass es mir erst durch eine Aenderung in der Versuchsanordnung
gelungen ist, das negative Resultat Heidenhai n's zu einem
positiven umzugestalten, und das gleich anschliessende Protokoll
zeigt, dass dieselbe in der Durchschneidung des Halsmarkes
besteht Trotzdem schreibt Eckhard (pag. 16) „Zerner hat
bei seinen Versuchen vorher das Rückenmark durchschnitten.
Einen Grund für dieses Verfahren hat er nicht angegeben, und
da ich nicht einsehen kann, welcher Vortheil durch diese Yor-
operation erzielt wird, so habe ich dieselbe unterlassen.^
Betrachten wir, um die Bedeutung dieser Unterlassung in
das rechte Licht zu stellen, die Ergebnisse einzelner Versuche.
Um 9 Uhr 34 Min. hatte Eckhard die Iigection von
34 Ccm. einer gesättigten Lösung von indigoschwefelsaurem
Natron in die Venen eines 8 Kilo schweren Hundes vollendet.
Trotz einer hierauf durch 26 Min. andauernden Reizung lieferte
die Drüse keinen irgendme gefärbten Speichel. Erst nach einer
abermaligen Injection von 34 Gem., im Ganzen auf 1 Kilo über
8 Ccm., erhielt Eckhard nach einigen ungefärbten zwei kaum
bläulich und hierauf einige intensiver gefärbte Tropfen Speichels.
Auch diese waren, wie sich aus den zusammengefassten Ergebnissen
pag. 16 ergibt, nur „bläulich" gefärbt. Sodann tropfte der
Speichel wieder farblos ab.
Dem gegenüber habe ich einem ungefähr 25 KUo wiegenden
Hunde nur 25 Ccm. einer kalt gesättigten Lösung des Farbstoffes
(8)
üeber die AbhSngigkeit der Speiohelfleoretion vom Blnidmcke. 533
injicirt — auf 1 Kilo circa 1 Ccm. — . Nach 2 Min. langer
Reizung war der Speichel bereits blau, ja wie ich ausdrücklich
(pag. 195) angebe, intensiv blau gefärbt. Die ersten Tropfen
(ungefähr 2 Ccm.) waren stets' farblos; eine weitere Aeuderung
der Farbe konnte ich nicht wahrnehmen.
In welcher Weise die Rückenmarksdurchschneidung eine
solche Verschiedenheit des Erfolges erklärt, soll im Folgenden
gezeigt werden.
Als die wesentlichsten Ausscheidungsorgane des indigo-
schwefelsauren Natrons sind die Niere und die Leber anzusehen.
Nach wenigen Minuten ist der Harn bereits blau gefärbt. Durch-
schneidet man jedoch das Halsmark, so wird, wie Cl. Bernard ^)
zuerst angegeben, die Secretion der Niere sistirt. Freilich wird
damit die Ausscheidung des Farbstoffes durch die Nierenzellen nicht
hintangehalten >) , aber derselbe wird, da er in den Canälchen
sich anhäuft, nicht so rasch und vollkommen ausgeschieden. Es
bleibt in Folge dessen mehr Farbstoff im Blute zurück und kann
reichlicher durch die Speicheldrüsen secemirt werden. Dies
geschieht umsomehr, als durch die Rückenmarksdurchschneidung
auch die Lebersecretion vermindert, ja nach einiger Zeit sistirt
wird. ') Und thatsächlich findet man in der Leber bei mikro-
skopischer Untersuchung nur sehr geringe Mengen, ja in manchen
Fällen gar keinen Farbstoff.
Ausser diesen, gewiss auch Eckhard bekannten Aende-
rungen in der Secretion der Niere und der Leber nach Durch-
schneidung des Rückenmarkes hatte ich bei meinen vorjährigen
Versuchen auch eine solche Aenderung in der Secretion der
Speicheldrüse wahrgenommen, die jedenfalls auch die Auffindung
des indigo-schwefelsauren Natrons in der Drüse erleichterte.
Diesem Momente habe ich jetzt erneute Aufmerksamkeit geschenkt
und führe in Folgendem an der Hand einiger Protokolle zunächst
die neu gewonnenen Thatsachen an.
') Cl. Bernard, Le^ons snr les liquides de rorganisme. 1859| II, pag. 153.
*) Heidenhain, Max Schnltze'a Archiv. B. X, pag. ].
*) Aap, Berichte der Sachs. Gesellsch. d. Wissensch. 1873, pag. 89.
(4)
534 Zernerjvit
I. Protokoll
Ein über 25 Kgr. schwerer Hund wird tracheotomirt, chloro-
formirt^) in den Ductus Whartonianus eine Canüle eingebunden,
die Chorda präparirt und auf den Reizgeber gelegt.
In einem vorher geglühten und gewogenen PlatintiegeP)
werden ungetähr 5 Ccm. Speichel, die unter dem Einflüsse
der Ghordareizung secemirt wurden , aufgefangen >) und sofort
gewogen. Hierauf wurde der Sympathicus freigelegt und durch
eine gleich lange Zeit gereizt. Ungefähr 1*5 Gem. Speichel
konnten während der Reizung aufgefangen und hierauf gewogen
werden.
Nun wurde die Durchschneidung des Halsmarkes in der
Höhe des 1. Wirbels vorgenommen, künstliche Athmung einge-
leitet, und die Chorda so lange gereizt, bis abermals ungefähr
5 Ccm. Speichel secernirt waren. Die nun folgende Reizung des
Sympathicus ergab eine so minimale Menge von Speichel, dass
derselbe gar nicht aus der Canüle ausfloss. Ich musste daher bei
der chemischen Untersuchung den Sympathicus ganz ausser Be-
tracht lassen, und es wurden blos die durch Reizung der Chorda
vor und nach der Halsmarkdurchschneidung gewonnenen Speichel-
mengen von meinem CoUegen Dr. A. Katz im Laboratorium des
Herrn Prof. Ludwig in Bezug auf ihren Gehalt an Trocken-
substanz und speciell an organischen und anorganischen Sub-
stanzen bestimmt.
Die folgende Tabelle zeigt das Ergebniss der chemischen
Untersuchung.
*) Ich mied bei allen meinen Speicheldrüsenversnchen das Cnrare, weil
es einen nnzweifelliaften Einflnss auf die Secretion nnd bei längerer Versnchs-
daner anch anf die Speicbelzellen selbst hat.
') Diese Procednren werden in der Folge nicht mehr erwähnt.
^) Es sei hier bemerkt, dass ich niemals die ersten 10 — 15 Tropfen auf-
gefangen habe, da ich dieselben als von der früheren Reiznng znräckgeblieben
betrachtete.
(5)
Ueber die Abhängigkeit der Speichelsecretion vom Blutdrücke. 535
Quantität des 1
aufgefangenen |l
Speichel in 1
Grammen. !|
Anzahl der H
Tropfen in dern
Minute. 1
Gehalt an 1
festen Bestand-|l
theilen in ^/q. H
Gehalt an orga-||
nischen Be- H
■tandtheilen a
in 7o. II
I.
n.
vor Halsmark-
dnrchschneidung
5-7551
6-1084
19
10
M2
0-638
0-484
wasserhelle
faden ziehende
Flüssigkeit
nach Halsmark-
dorchschneidung
1
1-852
0-731
104
Der Speichel ist
mehr faden-
ziehend, dicklicher
etwas trüber
Man ersieht ans diesen Zahlen, dass in der Portion n die
Menge der organischen Substanzen mehr als verdoppelt enthalten
war. Zieht man in Betracht, dass nach Becher und Ludwig^)
„mitder Dauer der Absonderung der Gehalt desSecretes an festen,
und zwar vorzugsweise an organischen Bestandtheilen sinkt ^,
in unserem Falle aber auch noch der Sympathicus, der in dieser
Hinsicht von weit grösserem Einfiuss ist durch über 6 Minuten
gereizt worden war, so muss eine derartige Vermehrung der
organischen Bestandtheile umsomehr in^s Gewicht fallen. Es er-
geben sich also aus diesem und anderen Versuchen die folgenden Sätze :
I. Die Halsmarkdurchschneidung bewirkt eine Verlang-
samung der Speichelsecretion.
II. Der Speichel wird dabei insoweit verändert, als er
dicklicher, fadenziehender wird und sein Gehalt an organischen
Substanzen sich vermehrt.
Ich lasse die Frage offen, ob diese Sätze auch für die
Sympathicussecretion gelten. Erwähnen will ich blos, dass C.
Ludwig und später Heidenhain zu der Erfahrung gelangt
sind, dass Sympathicus- und Ghordaspeichel nicht specifisch ver-
schieden sind, dass beide ihre festen Bestandtheile aus denselben
Drttsenelementen beziehen.
Die nächste Frage richtete sich nun darauf, wodurch die
Bückenmarksdurchschneidung eine solche Veränderung in der
^) Becher und Ludwig, Zeitschrift f. rationeUe Medicin, N. F. I,
pag. 278» 1851 nnd Heidenhain in den später citirten Arbeiten.
Med. Jahrbücher, isai. ^ (d)
536 Zernerjun.
Speichelsecretion hervorrufe. Die Ursache konnte ehenso in der
Durchtrennung von Nervenbahnen, die etwa durch das Halsmark
zur Drüse fahrten, liegen als auch in dem durch die genannte
Operation herabgesetzten Blutdrucke. Nicht leicht konnte man
die verminderte Sauerstoffzufuhr zur Erklärung heranziehen. Denn
einerseits war die Blntznfuhr eine ungehinderte und andererseits
fiihrte eine sehr ausgiebige künstliche Athmung keine Aenderung
im Resultate herbei. Es mussten daher zunächst die beiden erst-
genannten Erwägungen in Betracht kommen. Um zu einer Ent-
scheidung zu gelangen, änderte ich die Versucbsanordnung in der
Weise, wie sie das folgende Protokoll beschreibt.
2. Protokoll
Ein ungefähr 28 Kilo schwerer Hund wird unter Chloroform-
narcose denselben vorbereitenden Operationen unterzogen, wie in
dem erstbeschriebenen Versuche.
IQ^ 52^—10** 56™ Reizung der Chorda bei einem Rollenabstande
von 53 Mm. — In der ersten Minute fallen
19 Tropfen, in den folgenden fliesst der
Speichel continuirlich. — Die in der ganzen
Zeit aufgefangene Menge wiegt 7 '6021 Grm.
10^ 57m £)iß Vena cava inferior wird auf ein Compres-
sorium gelegt.
11^ 7™ Die Cava wird comprimirt.
llh 7"»— 11^1 10°^ Reizung der Chorda bei einem Rollenabstande
von 53 Mm.
Uh lom—iih 13m Reizung der Chorda bei volbtändig aufge-
schobener Rolle.
Im Ganzen sind 8 Tropfen aus der Canüle
gefallen. Die Beschaffenheit derselben ist die-
selbe, wie des bei der ersten Reizung genom-
menen Speichels. Sie entsprechen eben der
von der früheren Reizung her in der Cantüe
und den Speichelgängen zurückgebliebenen
Flüssigkeit.
11^ 13°» Wiederherstellung der Durchgängigkeit der
Cava inferior.
(7)
I
Debsr die Ahhängigbpit der Speichelsecrefioi:
1 BlutdruckB. 537
11h 14m Reiznng der Chorda. — Secretionsgeachwindig-
keit nnd Beschaffenheit des Speichels wie vor
der Compression der Cava inferior,
llh 15m Dnrchschiieidimg des HaUmarkes in der Höhe
des 1. Wirbels.
11h 2V° — lli> SS"* Beiznng der Chorda bei einem Rollenabstande
von 53 Mm.
11h 3()m — iih 32m Abermalige Reizung in der gleichen Weise.
In der ersten Minute falten 4 Tropfen, in
den späteren je 3—4 Tropfen. Die Gesanunt-
menge beträgt 2*5281 Onn. Der Speichel ist
bedentend dicker, zäher, mehr weisalich; die
Tropfen grosser.
Die sieb hier anschliessende Tabelle tbeilt das Ergebniss
der chemischen Untersnchong mit. Trotz einer Torhergehenden
BeiztiDg dnrch 11 Minuten znm Theile bei völlig anfgeschobeoen
Rollen hat nach der Rttckenmarksdnrchschneidnng der Gehalt an
organischen Bestandtheilen nicht ab, sondern nm beilänfig zwei
Drittel der in der ersten Forlion enthaltenen Menge zngenommen.
I
il
i
ill
m
Anrabl der
Tropfen in der
Minnte,
ff
1 f
Sjl
Mi
I.
vor Halsmark-
dnrch-
SChMitollg
in der IT Uin
19 Tropfe»,
spAter conti-
anirUcher
2-667
0-718
1-949
n.
nach H»la.
mukdnrch-
7
2-5281
4
3782
0-693
3-129
des- Spdekel
ist dick«,
tShta, die
Tropfen
grtwr
Man sieht denmach, dass trotz TöUiger Intactbeit des Cen-
tralneirensystems die Secretion anf ein Minimum herabgesetzt
werden kann, wenn der Blutdruck gleichzeitig auf eine sehr ge-
42« W
538 Zerserjait Ueb. d. Abhängigkeit d. SpeiehelBacrvtion y. Blutdraeke.
ringe Höhe gesetzt wird. Damit entfallt aber die Nothwendigkeit
der Annahme, dass bei der Durchsehneidimg des ßäckenmarkes eine
etwaige Verletzung von Secretionsneryen stattfinde. Wir müssen
daher an dem Satze festhalten, dass mit der Herabsetzung
des Blutdruckes sich die Secretionsgeschwindig-
keit des Speichels vermindert und derselbe an or-
ganischen Bestandtheilen reicher wird.
Die in der Literatur angeführten Thatsachen widersprechen
keineswegs den hier mitgetheilten Erfahrungen. Bereits die von
Gianuzzi^) ansgeflihrten Versuche machten es wahrscheinlich,
dass die in den Capillaren eintretende Erhöhung des Druckes
die Bildung der Lymphe Tcrmehre. Je ergiebiger aber diese in
den die Acini umgebenden Räumen erfolgt, desto leichter und
reichlicher können die Zellen Flüssigkeit aufsaugen, desto grösser
konnte also die Secretionsgeschwindigkeit sein und das Secret
selbst an festen Bestandtheilen yerarmen. Die von Heidenhain ^)
ausgeführten Versuche beziehen sich nicht auf die Herabsetzung
des Blutdruckes, sondern auf die Verminderung der Blutzufnhr
und kommen daher bei unserer Frage nicht in Betracht.
Herrn Assistenten Dr. G. Gärtner, sowie meinem CoUegen
Dr A. Eatz, der in bereitwilligster Weise die chemischen Ar-
beiten ausgeführt hat, statte ich meinen innigsten Dank ab.
^) Giannizif Yersnche fiber die Speichelaecration. Ber. der k. sächs.
€^. d. Wissensch. sn Leipzig, 1865.
') Stadien des physiologischen Institates zu Breslsn. 1868, 4. Heft und
Pflflger's Archiv f. d. ges. Physiologie. 1878, Bd. XYII, psg. 34.
•Höh-
Druek von GotUicb Qiitcl ä Comp, in Wien.
WeBFriiiediiiD.JHliitaiciier,J*)irgutf US'
Vtrljgion Alfred llül(ltr,k.k.Ho[iilltiiversiUs-BuditianillFrin«len.
ffiriuTmrduiiLJahi^i'lKr.Jahrfsü^ UIH;
Ycrijg iton Alfred Holder, UHohllnneralaisBiidiUndlerin Wien
XXIV.
lieber Jejunostomie oder die Anlage einer
Ernährungsfistel bei radical inoperabler
Pylornsenge.
Von
Dr. Carl Maydl,
Privatdocent far Chlrargle, chirnrgiBober Abtheilongsvorstand an der Poliklinik
in Wien.
(Xo8 der Bllgemelnen Poliklinik in Wien.)
(Von der Bedaction am 14. October 1887 übemommen.)
Vor Einftihrnng der antiseptischen WnndbehandluDg in die
Chirurgie hätte es sich wohl schwerlich um den folgenden Gegen-
stand handeln können. Denselben gegen etwaige mit ihm con-
cnrrirende Eingriffe abznwägen, hat eben die letzte Zeit, welche
mannigfache, dasselbe Leiden bekämpfende Eingriffe hervorge-
bracht, ermöglicht.
Es handelt sich hier mn einen Eingriff, welcher die Be-
schwerden einer Pylorusverlegung, mag sie nun durch eine Neu-
bildung, eine Narbe oder durch Druck von aussen, von Seite
irgend welcher Geschwulst hervorgebracht sein, erleichtem oder
beseitigen soll. Es ist auch gleichzeitig Gegenstand folgender Ab-
handlung, zu entscheiden, ob zu dieser Operation nicht in Fällen
gegriffen werden sollte, die unter die soeben erwähnten Rubriken
nicht hineinfallen, sondern in denen es wünschenswerth ist, dem
Med. Jabrbücher. 1887. 43 (i)
540 MaydL
erkrankten Magen auf längere Zeit mechanische Rahe zn ver-
schaffen oder ihn gleichzeitig auch von seiner ftmctionellen Thätig-
keit für kürzere oder längere Zeit ansznschliessen.
Der Eingriff, nm den es sich handelt, ist wohl am besten
eine Jejnnostomie zn benennen und bedeutet dieser Name die
Anlage einer Emähmngsfistel an einer Stelle des Dünndarmes,
welche technisch nicht schwer erreichbar ist, nnd welche dnreh
ihre hohe Lage am Dünndarm die ganze Länge dieses nnd des
Dickdarmes znr Verdanung aoszanützen gestattet.
Die Anlage einer solchen Emähmngsfistel ist weder in ihrer
Idee, noch in ihrer AusfÜhmng eine Neuheit, denn schon im
Jahre 1878 erörterte Sarmay(^) in einem gediegenen Aufsätze und
sozusagen akademisch, ob dieselbe bei Pylorusstenose und Magen-
krankheiten, Entzündung, Ulcus und nervösen Stömngen nicht
zweckmässig, ja sogar geboten wäre.
Die theoretische Erledigung der Frage war damals eine bei
weitem einfachere als jetzt, wo dem eben genannten Eingriffe im
Zweck gleichwerthige, in der endlichen Beseitigung des Leidens
aber fallweise überlegene Eingriffe gegenüberstehen. Kannte man
ja damals noch nicht die nun so häufig in den letzten 5 Jahren
geübte Excision des Pylorus, auch nicht die Gastroenterostomie.
Es hätte sich damals nur gehandelt um die Abwägung des Ein-
griffes der Anlage einer Emähmngsfistel am Zwölfifinger- oder
Dünndarm einem Vorgange gegenüber, welcher in den letzten
Jahren mehrmals eingeschlagen wurde, nämlich der Bekämpfung
der Pylorusstenose von einer am Magen, entweder für einen ein-
maligen energischen Eingriff (Loretta) oder für eine länger
dauernde allmälige Erweitemng (Schede) anzulegenden Fistel.
Doch nicht einmal dies war in dem Surmay'schen Artikel
noth wendig, da ja auch die Idee dieser Eingriffe bis dahin
nicht aufgetaucht war und die Gastrostomie bis zu jener Zeit aus-
schliesslich zur Umgehung einer Verengemng der Speiseröhre ge-
dient hat.
Anders steht die Angelegenheit heutzutage, wo wir den Ein-
griff einer Emähmngsfistel am Dünndarm abzuwägen haben:
1. Gegenüber der von Loretta vorgeschlagenen und auch aus-
geführten einmaligen forcirten Dilatation des verengten Pyloms.
(2)
Ueber Jejxmostomie oder die Anlage einer Emähningsfistel etc. 541
2. Gegenüber der Anlage einer Magenfistel nnd einer allmäligen
Erweiterung der verengten Stelle am Pförtner, wie sie Schede
vorgeschlagen hat. 3. Der radicalen EntfemTing des verengenden
Hindernisses dnrch eine Pylomsexstirpation , wie sie von Fäan
zuerst vorgenommen und von Billroth zum erstenmale mit
glücklichem Erfolge durchgeführt wurde. 4. Der Anlage einer
Fistel zwischen Magen und Dünndarm, der Gastroenterostomie
Wölfler's. 5. Der Längsincision einer Narbenstrictur mit folgen-
der querer Naht, wie sie H e i n e k e zuerst und nach ihm Miku-
licz ausgeführt haben. Es sind dies lauter Eingriffe, welche erst
unter dem Schutze der antiseptischen Wundbehandlung theils von
glücklichem Erfolge gekrönt wurden, theils überhaupt erdacht
werden konnten.
Es ist auch, was in dem Surmay'schen Artikel nicht ge-
nügend geschehen ist, die Berechtigung dieses Eingriffes auf
Grund physiologischer Thatsachen zu begründen, es ist die Zu-
verlässigkeit dieses Eingriffes auch dnrch Beobachtungen zu be-
legen, welche nachweisen, dass der Eingriff nicht zwingend einen
letalen Ausgang herbeiführen müsse. Die Möglichkeit einer Er-
örterung dieser letzteren zwei Fragen hätten allerdings schon einige
in den letzten Jahren am Menschen ausgeführte Eingriffe dieser
Art geliefert, wenn sie nur nicht, sämmtlich in der kürzesten
Zeit ungünstig endend, weiter nicht verwendbar wären.
Endlich ist auch der Beweis zu fähren, dass bei der speciellen
Art der carcinomatösen Pylorusstenose die Ernährung ebenso gut
vom Dünndarm stattfinden und ebenso genügen,könne, wie sie bei
Bestand einer hohen Dünndarmfistel, wie z.B. im Busch^schen
Falle, bei sonst gesundem Organismus genügte.
Erst mir ist es gelungen, durch einen erfolgreich operirten
Fall die Zulässigkeit dieser Operation auch in Fällen nachzu-
weisen, wo man es nicht nur mit einem an einer bestimmten
Stelle durchtrennten, sonst aber in seinen beiden von einander
geschiedenen Strecken zur Verdauung verwendbaren Digestions-
tractus zu thun hat, sondern wo die Verhältnisse es gebieten,
sich mit der Verdauung der Strecke von unterhalb des Pylorus
bis an das Ende des Dickdarmes zu begnügen und wo gleich-
43 ♦ <»>
542 Maydl.
zeitig eine schwere, an und für eich tödtliche Erkrankung des
Organismns bestand.
Dieser Fall ist anch Veranlassung zu der vorliegenden
Publication.
Dieselbe gliedert sich in folgende Abschnitte: in
I. eine historische Einleitung,
n. in einen physiologischen Theil,
m. in die eigenen Beobachtungen, und auf Grund der
letzteren,
IV. in eine Kritik des Eingriffes anderen, bei demselben
Leiden in Frage kommenden Eingriffen gegenüber und
V. in Besprechung der Technik der Operation.
I. Gapitel.
Historisohe Einleitimg.
In diesem Abschnitte ist an erster Stelle die schon erwähnte
Publication von Surmay zu nennen, welcher, von dem Stand-
punkte ausgehend, dass Rectal-Cljsmen , sowie subcutane Ein-
spritzungen von Nahrungsstoffen ungenügend seien, auf die Länge
das Leben zu erhalten, und dass nach den damaligen Begriffen,
— mancitirte damals nur den Vorschlag vonMerrem — die
Pylorusexstirpation zwar prakticabel, aber nicht praktisch sei,
sich bezüglich der Entscheidung der Frage, ob in passenden
Fällen zur Jejxmostomie gegriffen werden solle, folgende Punkte
zur Beantwortung vorlegte:
1 . Ob die Darmverdauung an und für sich zur Verarbeitung
der Nahrungsmittel derart genüge, dass sie assimilirbar und
nähriahig wären, ohne dass es nothwendig wäre, die Magenver-
dauung in Anspruch zu nehmen.
2. Ob es möglich ist, für die Anlage einer Oeffnung am
Dünndarm einen passenden Ort ausfindig zu machen, durch welche
Oeffnung gewisse, angepasste Substanzen eingeführt werden könnten,
um im Dünndarm jene Veränderung zu erleiden, deren sie zur
Nähriahigkeit benöthigen.
Bezüglich der ersteren Frage erinnert er daran, dass
Dr. L e y e n der Akademie der Medicin in Paris die durch zahlreiche
Experimente erhärtete Thatsache berichtet hat, dass die Function
(4)
Ueber JejimoBtomie oder die Anlage einer Emähnmgsfistel etc. 543
des Magens keine andere sei, als die Nahrangsmittel vermöge
der Moskelhant des Magens und des Magensaftes zu zerreiben
und za zertheilen nnd dass, wenn der Magensaft anch zur Peptoni-
sining der Eiweissstoffe beitrage, er es nicht früher thae, als bis
die Nahmngsmittel im Darme angelangt sind. Betreffs der Stärke-
mehlsnbstanzen erinnert er, dass dieselben dorch den Speichel,
den Fancreassaft nnd den Darmsaft in Glycose umgewandelt, die
Fettsubstanz aber durch die Galle, den Fancreassaft und den
Darmsaft emulsionirt werden.
Nach diesen Thatsachen würde sich daher bei weitem
schwerer der Darm als der Magen entbehren lassen.
Bei dieser Gelegenheit citirt er den später zu erwähnenden
Fall von Busch.
Zur weiteren Unterstützung der Berechtigung einer Jejuno-
stomie erinnert er an den Ausspruch von Corvisart, dass der
Fancreassaft erst nach einigen Stunden, nachdem man die Nah-
rungsmittel in den Magen eingeführt hatte, die Eigenschaft er-
lange, das Eiweiss zu peptonisiren, was S u r m a y dahin umdeutet,
dass es ebensoviel sei, als zu sagen, dass er diese Eigenschaft
erst dann erlange, wenn die Nahrungsmittel im Darme angelangt
sind. Die Anwesenheit derselben im Darme scheint den Reiz
abzugeben zur Erlangung dieser Eigenschaft. Dieser Reiz würde
aber höchst wahrscheinlich in gleicher Weise hervorgebracht
werden, ob nun die Nahrungsmittel vom Magen aus oder von
einer im Darm angelegten Emährungsfistel in den letzteren
gelangen.
Würde es sich für die Verarbeitung gewisser Stoffe als noth-
wendig erweisen, dass dieselben mit Fepsin und Speichel durch-
tränkt sind, so hätte man ja dieselbe vor ihrer Einftihrung in
den Dünndarm mit Fepsin zu versetzen oder jenen Vorgang nach-
zuahmen, welchen Schönborn einschlagen liess bei einem wegen
einer Narbenverengerung der Speiseröhre gastrostomirten Knaben,
welcher angewiesen wurde, seine Nahrungsmittel zu kauen und
sie dann durch einen Trichter und Schlauch in den Magen ein-
zubringen. Schliesslich als letzte Möglichkeit erwähnt er, dass die
gekauten und geschluckten Nahrungsmittel wieder erbrochen (!)
(5)
544 Uaydl.
oder mittelst einer Magenpnmpe heranfgeBchafft nnd in den Dünn-
darm eingeflösst werden könnten.
Die Entbehrlichkeit des Magens, welche anf Gmnd physio-
logischer Erwägungen als wahrscheinlich hingestellt werden mnsste,
belegte Snrmay durch eine Beobachtang von Dn Jardin-
Beanmetz, welcher einen Fall in der medicinischen Gesell-
schaft von Paris vorstellte, wo ein Mann, nachdem er sich mit
Schwefelsäure eine Verätzung des Magens beigebracht hatte, noch
14 Tage lebte, bei ziemlich normaler Verdauung. Der Mann war
bei Milchdiät gehalten worden. Die Section wies nach, dass der
ganze Magen bis auf einen geringen Theil um die Pylomsgegend
und mit ihm die anliegenden Theile des Netzes und des Zwerch-
fells abgestorben waren.
Bezüglich der zweiten Frage schlägt Surmay einen Vor-
gang vor, welchen wir in dem fünften, den technischen Theil der
Operation berührenden Abschnitt des Genaueren erwähnen wollen.
Er schliesst seine Abhandlung mit den Worten ^^und so
wäre denn vom Standpunkte der Chirurgie die Enterostomie eine
vollständig geregelte Operation, vom Standpunkte der Physiologie
eine vollständig veinünftige; es fehle ihr nur die Sanction der
Ausführung am lebenden Menschen^. Diese Sanction blieb aach
nicht lange aus, denn nach einem allerdings wenig detaillirten
Berichte in den Verhandlungen des Gongresses der Chirurgie im
Jahre 1880 berichtete bereits Langenbuch (2) von einer bei
einem carcinomatösen Pylorusverschlusse ausgeführten Duodeno-
stomie, wo er den Zwölffingerdarm angenäht und in einer zweiten
Sitzung, und zwar am 7. Tage, den Darm eröffnet hatte, wo aber
der Tod am 10. Tage eintrat.
Nach diesem Eingriffe war es einige Zeit still geblieben bis
im Jahre 1884 im „British Medical Journal" (pag. 1146) ans dem
königlichen Spital in Manchester von Southam(') ein ähnlicher
Fall berichtet wurde, welchen ich des Interesses wegen hier im
Auszuge mittheilen will.
2. John H., 45 Jahre alt, trat ein am 5. März 1884 und litt
an den Symptomen einer Verlegung des Pylorus. Einige Monate
früher hatte er Magenbeschwerden gehabt, welche in ihrer Inten-
sität beständig zunahmen.
(«)
Ueber Jejanostomie oder die Anlage einer Emälinmgsfistel etc. 545
Sie bestanden in localisirtem Schmerz an der Spitze des
Magens mit Empfindlichkeit bei Druck und beständigem Erbrechen.
Das Erbrochene war manchmal mit Blut gemischt. Der Patient
war bei seinem Eintritt hochgradig abgemagert, indem er nur
7 St. 5 Lbs. wog. Keine Nahrung wurde im Magen behalten.
Selbst Fltlssigkeiten wurden sofort zurtlckgegeben. Im Urin war
etwas Eiweiss. Der Kranke litt auch an einer chronischen Bronchitis.
Die Untersuchung des Unterleibs liess in der Nabelgegend
die Anwesenheit eines harten, gut begrenzten, frei beweglichen
Knotens entdecken, ungefähr von der Grösse einer Wallnuss,
dessen Lage von Zeit zu Zeit sich veränderte, entweder nach
auf- oder nach abwärts oder nach rechts oder links vom Nabel.
Man diagnosticirte einen Scirrhus des Fylorus.
Ungefähr 14 Tage hindurch nach seinem Eintritte wurde
der Patient nur mit ernährenden Klystieren, welche man alle
4 Stunden applicirte, genährt, doch trotz dieser Behandlung kam
er rasch herab, so dass er 5V4 Lbs. in 6 Tagen verlor. Da der
Patient und seine Freunde etwas für denselben gethan sehen
wollten , so entstand die Frage , ob ein operativer Eingriflf ge-
wagt werden soll. Die Beweglichkeit des Knotens, seine geringe
Grösse und Umschriebenheit waren der Exstirpation günstig, aber
der äusserst schwächliche und erschöpfte Zustand des Patienten,
die Anwesenheit von Eiweiss im Harn liess es als unwahrscheinlich
erscheinen, dass er den Insult einer solchen Operation überstehen
würde. Man schlug vor, als eine Palliativmassregel eine explorative
Incision zu machen mit der eventuellen Absicht, eine Duodeno-
stomie, d. h. eine Oefihung am ZwöfGngerdarm jenseits der Ver-
engerung anzulegen, oder wenn dies unmöglich wäre, eine Gastro-
stomie auszuführen und dann zu versuchen, ob man durch die
verengerte Stelle einer Röhre nicht hindurchzudrängen veiinöchte,
so dass Nahrungsmittel durch diese in den Darm eingespritzt
werden könnten. Bevor man hiezu schritt, machte man den Ein-
griff der Duodenostomie mehrmals an der Leiche und man fand,
dass es sehr schwer halte, den ersten Theil des Duodenums gegen
die Oberfläche zn bringen und es war überhaupt zweifelhaft, ob
dies am lebenden Körper ausführbar sein werde. Am 20. März
vmrde in der Narcose unter antiseptischen Cantelen eine Incision,
f7)
646 Maydl.
ungefähr 3 Zoll lang in der Mittellinie, gemacht, in der Mitte
zwischen dem Schwertfortsatz des Brustbeines nnd dem Nabel.
Nach Eröffnang der Bauchhöhle in derselben Ansdehnong bekam
man den linken Leberlappen zu Gesicht und unter ihm scheinbar
das Fylorusende des Magens, was sich aber später als das
Anfangsstück des Duodenums erwies. Mit dem Finger fand man
einen verhärteten Ring die ganze Peripherie des Pylorus ein-
nehmend, welcher ungeföhr einen Zoll nach links von der Mitte
der Incision lag. Die Krankheit war auf den Pylorus beschränkt
und es waren keine Adhäsionen, Heranziehungen der nachbar-
lichen Theile vorhanden. Das so ohne Schwierigkeiten in die
Bauchwunde eingestellte Duodenum wurde mit einer einfachen
Reihe von 11 Seidenknopfnähten an die Bauchwand angenäht,
und zwar so, wie es bei der Gastrostomie (allerdings nur in
England) üblich ist, nämlich, dass einerseits durch die Naht die
ganze Dicke der Bauchwand, andererseits die Serosa und ein
Theil der Muscularis des Eingeweides mit gefasst wurde.
Der obere und der untere Theil der Bauchwand wurde
verschlossen, die Bauchhöhle drainirt(!) und ein Lister'scher
Verband angelegt. Nach der Operation wurden abermals ernäh-
rende Klystiere applicirt. Am nächsten Morgen war die Tempe-
ratur 99^ F., Puls 104. Der Patient hatte eine gute Nacht und
schien sich wohl zu befinden. Am zweiten Morgen war die Tem-
peratur 102®, der Puls 138. Patient klagt über Durst und hat
einen leichten Husten. Die Emährungsklystiere wurden alle be-
halten. Am 3. Morgen war eine entschiedene Wendung zum
Bösen zu constatiren. Die Gesichtszüge des Patienten waren
zugespitzt und er erschien sehr coUabirt und erschöpft; Tempe-
ratur 103^ F., der Puls 160 und so schwach, dass er kaum fühl-
bar war. Seit Vormittag wurde kein Kly stier mehr behalten. Indem
der Patient an Collaps zu sterben drohte, so erschien es zweck-
mässig, das Duodenum ohne weiteren Verzug zu eröfi&ien, um auf
diesem Wege Nahrung zuzuführen. Man machte die Wunde zu-
gänglich, öfihete das Eingeweide, welches fest au die Bauchwand
adhärent war und flösste zwei Unzen von peptonisirter Milch
durch einen elastischen Catheter ein, dies wurde alle 2 bis
3 Stunden wiederholt, der Patient erholte sich aber nicht, wurde
(8)
Ueber JejunoBtoxnie oder die Anlage einer Emähmngsfistel etc. 547
iiDiner schwächer und schwächer und starb am Ende des 3. Tages.
Bei der Section war keine Peritonitis vorhanden. Das Duodenum
war fest, adhärent , die Induration war auf das Pylorusende des
Magens beschränkt und liess das Duodenum vollständig frei, dem
blossen Äuge erschien dieser Ring carcinomatös, doch ergab die
mikroskopische Untersuchung nur die Anwesenheit von Binde-
gewebe, wahrscheinlich als Folge einer narbigen Schrumpfung
nach einer chronischen Ulceration.
In den Anmerkungen wird die L an gen buc hasche Ope*
ration erwähnt, in welchem Falle die Krankheit längs der kleinen
Curvatur des Magens sich weiter erstreckte, in demselben war
die Pylorusresection beabsichtigt, erschien aber unausführbar.
Ungefähr vor 12 Monaten soll eine ähnliche Operation von
Dr. Robertson in Oldham mit Unterstützung Dr. Thompson
ausgeflihrt worden sein wegen einer einfachen Strictur des Pylorus,
aber der Patient, welcher zur Zeit der Operation bereits sehr
erschöpft war, starb ungefähr 12 Stunden nach derselben an Shock.
Hieran werden folgende Bemerkungen geknüpft. Die Duo-:
denostomie sei am lebenden Menschen ausführbar und unter allen
Umständen an solchen Kranken, welche durch Inanition aus
irgend welchen Ursachen erschöpft sind und bei denen die Bauch-
Wandungen dünn und eingezogen sind. Unter solchen Umständen
sei die Operation keine schwere, sei rascher und leichter und von
weniger Shock gefolgt als der „furchtbare" Eingriff der Pylorus-
ectomie. In jenen Fällen von Pyloruskrebs, in welchen die Pylorus-
ectomie ausser Erwägung steht, mag die Duodenostomie nach
denselben Grundsätzen ausgeführt werden, wie die Gastrostomie
bei bösartigen Stricturen der Speiseröhre, einfach als eine Palliativ-
massregel in der Aussicht, den Patienten vor Yerhuugerung zu
bewahren und das Leben zu verlängern. In den Fällen einer ein-
fachen Strictur des Pylorus ist die Operation anstatt der Pylorus-
resection, welche auch in diesen Fällen ausgeführt wurde oder
anstatt der digitalen Erweiterung des verengerten Pylorus zu
vollziehen. Der durch die letztere Operation geschaffene Vortheil
ist blos zeitweilig, indem die Strictur die Neigung hat, sich wieder
zusammenzuziehen. In jenen Fällen einer einfachen Ulceration
des Magens, welche aller Behandlung widersteht und endlich mit
(9)
548 Maydl.
dem Tode endigt und derentwegen man sowohl die Fjloros-
resection als anch die einfache Excision des Geschwüres jüngst
ausgeführt hat, sei die Duodenostomie, wenn andere Massnahmen
gescheitert sind, zuzulassen als ein Mittel, den Magen in den
Znstand physiologischer Rahe zn versetzen, in welcher die Heilung
des Oeschwüres erfolgen kann. Wenn dies erreicht ist, wäre kein
Grund vorhanden, die Fisteleröffhung des Darmes nicht wieder zu
schliessen und den Vorgang der Ernährung wieder auf normalem
Wege vor sich gehen zu lassen. In dem gegenwärtigen Falle
war zweifellos der tödtliche Ausgang dadurch bedingt, dass die
chirurgische Hilfe zu spät in Änspmch genommen wurde, sonst
sei kein Grund einzusehen, warum der Patient vor der Operation
nicht hätte genesen und sein Leben für längere Zeit verlängert
werden können.
3. Die ebenerwähnte Operation von Robertson (*) wurde
bei einem 47jährigen Manne wegen einer fibrösen Strictur des
Pylorus ausgeführt, man hatte eine Ernährungsfistel am Duode-
num angelegt. Dasselbe wurde eingenäht, doch erfolgte der Exitus
letalis bereits 8 Stunden darauf.
Eine andere sehr verwandte Operation wurde in folgenden
Fällen versucht.
1. Golding Bird('^) hat einen Mann operirt, der 46 Jahre
alt war und seit 10 Monaten an Verlegung des Pylorus litt. Man
tastete einen Tumor in der Pylorusgegend, der Mensch war hoch-
gradig abgemagert, weil er Alles erbrach und deswegen auch
jede Nahrung verschmähte. Golding Bird wollte am 25. Oc-
tober 1885 die Resection machen. Doch erwies sich sowohl der
Tumor als die Leber adhärent, weswegen sich der Operateur zur
Jejunostomie entschloss. Er Hess mit Zangen eine Partie des
Dünndarms emporhalten, welche 2 Zoll vom Duodenum entfernt
war und vereinigte die Bauchwunde derart, dass das Jejunum in
den unteren Winkel der Wunde eingenäht werden konnte. Patient
wurde durch das Rectum und durch den Mund ernährt. Am
3. Tage eröffnete man den Darm und ernährte den Kranken von
hier aus. Wenn die Nahrung eine Pinto überschritt, so bekam der
Kranke Indigestion. Wenn sie nicht 10 Unzen erreichte, so ging
es gut. Am 9. Tage wurde aus Versehen die Nahrung wahrschein-
(10)
üeber Jejunostomie oder die Anlage einer Emähntngsflatel etc. 549
lieh dnrch eine Drainstelle in die Peritonealhöhle eingespritzt,
woranf der Patient nach 12 Standen starb. Die Adhäsionen waren
fest, nnr bestand eine ganz kleine Lücke. Bei dieser Gelegenheit
bespricht Bird das Verhältniss der Operation znr Pylorectomie
und Gastroenterostomie and betont, dass bei der letzten Operation
ein grosser Mangel darin bestehe, dass der Magen nicht von
seinen physiologischen Aafgaben dadurch entlastet wird, dass
man den Durchgang durch den Pylorus nicht beansprucht. Die Je-
junostomie hätte denselben Nachtheil wie die Gastrostomie, sie
ist aber die beste Palliativoperation bei P^loruscarcinom, ohne die
Gefahr der Gastroenterostomie, da sie die übrigen Organe weniger
in Mitleidenschaft zieht.
Durch die Dünndarmemährung kann die vollständige Emäh-
rang gesichert werden.
Die Regurgitation der Nahrung, wie sie bei der Gastero-
enterostomie möglich ist, ist bei der Jejunostomie ausgeschlossen.
In der darauffolgenden Discussion wurde von Bryant die
Operation als einzig dastehend in der Chirurgie bezeichnet.
2. Pearce Gould(«) fährte bei einem Ingenieur, welcher
im August 1885 im Spitale aufgenommen war und seit Juni 1884
krank war, im Juli 1885 Blut erbrach (desgleichen ging in den
Stühlen ab), eine ähnliche Operation aus. Der Patient wurde seit
seinem Bluterbrechen durch Rectalklysmen ernährt ; jeder Versuch,
durch den Magen ihn zu ernähren, war von Schmerz und kaffee-
satzartigem Erbrechen gefolgt. Im Magen wurde wässerige Flüssig-
keit mit saurer Reaction vorgefunden und Torulae cerevisiae,
ohne Sarcine. Magen aasgedehnt, kein Tumor bestimmt tastbar.
Die Radicaloperation war nicht zu machen.
Man schlug die Jejunostomie vor, welche auch am 8. Sep-
tember 1885 ausgeführt wurde. Der Schnitt wurde in der Mittel-
linie geflihrt und dann am Pylorus eine Geschwulst getastet,
sodann das ganze Netz nach oben gezogen und das obere Ende
des Jejunnm in die Wunde vorgezogen und mit zwei Reihen
Garbolseidenähten angenäht. Die Bauchwunde ebenfalls vernäht.
Nach 66 Stunden trat der Tod ein ohne Peritonitis. Am 2. Tage
hatte man den Darm eröffnet. Das Jejunum erschien bei der
Section mit der vorderen Bauchwand innig verklebt. Es waren
(11)
550 Maydl.
keine Metastasen yorhanden. Man hatte in diesem Falle die
Pylornsresection verworfen, weil der Zostand des Patienten au
schlecht war, ebenso die Gasteroenterostomie, welche an 2 Standen
dauert nnd bei dem Zustande des Patienten unzulässig war.
Ausserdem soll die letztere Operation nach dem Verfasser 3 Nach-
theile haben, nämlich die Nothwendigkeit von intraperitonealea
visceralen Nähten, Unmöglichkeit der Ruhe und der Entlastung
für den in Unordnung befindlichen Magen und die Unmöglichkeit
den Riickfluss von Galle und Pancreassaft in den Magen zu
hindern, was mit der Magenverdauung in ernstlichem Conflict führt.
Auf der anderen Seite erscheint die Jejunostomie als ein gering-
fügiger Eingriff, indem sie in sich, wenn überhaupt, eine nur ge-
ringe Gefahr schliesst und den Vortheil hat, dem Magen so weit
als möglich Ruhe zu verschaffen, sowie die Möglichkeit, Nahrung
in einen Theil des Verdauungscanales einzuführen, wo Verdauung
und Resorption sehr lebhaft sind. Diese Operation war die erste
ihrer Art und jene Golding Bird's wurde 2 Monate später
gemacht. Hingegen wurde die Duodenostomie (wie wir es an-
fuhren) schon Smal ausgeführt, die Fälle verliefen aber sämmtlich
tödtlich.
Das Jejunum hat ein langes Mesenterium und kann leicht
hervorgezogen werden, während das Duodenum für diesen Zweck
sehr unbrauchbar ist, wegen seiner anatomischen Lage. Die
Medianincision war ausgeführt worden, doch würde sich fast jene
auf der linken Seite besser empfehlen, da bei derselben das Netz
weniger aus seiner Lage gebracht wird und der Darm weniger
Zug und Verlagerung erleidet. Man zieht den Darm vor und die
vom Mesenterium abgewendete Partie wird eingenäht. Die Er-
öfi&iung kann am 5. Tage gemacht werden, aber auch früher oder
später, wenn es der Zustand des Patienten erfordert oder erlaubt.
Die Eröffnung des Darmes sollte man quer zur Längsaxe des
Darmes machen. Ueber die Ernährung kann nichts Bestimmtes
ausgesagt werden, doch sollte man die Nahrung nur in kleinen
Quantitäten eingeben, besonders in der ersteren Zeit eher nur
langsam, damit sich dieselben mit der Galle und dem Pancreas-
saft; mischen könne. Man soll immer dickere Nahrung reichen;
sie sollte immer von saurer Reaction sein und man sollte immer am
(12)
üeber Jejnnostomie oder die Anlage einer Ernälmmgaflstel etc« 551
besten Obers oder peptonisirte Milch oder Beeftea geben. Es
entleert sich dann nichts von Darminhalt oder Gallensaft, was
man sorgfaltig vermeiden sollte.
Wenn wir die berichteten Fälle der Dnodenostomie und Jejn-
nostomie übersehen, so könnten wir, trotz der optimistischen Anslegong
des Erankheitsverlaofes seitens der Operateure, in den Resultaten
der Fälle in keiner Weise eine Aufmuntemng finden, eine ähnliche
Operation versnchsweise noch einmal zu unternehmen. Allerdings
sind die Fälle darnach geartet, dass in der Mehrzahl nicht ohne
Berechtigung der tödtliche Ausgang derselben auf die Schwäche
des Patienten geschoben wurde, doch lässt sich jedenfalls nicht
ein klares Urtheil darüber gewinnen, ob es nicht besser gewesen
wäre, an derlei herabgekommenen Individuen überhaupt jeden
operativen Eingriflf zu unterlassen, oder, ob der Eingriff, so ein-
fach er auch sein mag, nicht durch seine Folgen die tödtlichen
Ausgänge bedingt hat. In dieser Beziehung wäre also allerdings
ein FaD, welcher nachweisen würde, dass auf die Ausfuhrung des
Eingriffes nicht nothwendigerweise der Tod folgen müsse, sondern
dass er als operativer Insult ganz gut überstanden werden könne,
von Werth. Durch den von mir operirten Fall wird dieser Nach-
weis zweifellos erbracht. Es wäre aber auch noch weiter die
Frage zu entscheiden gewesen, ob Patienten, welche mit einem
130 schweren Leiden, als es ein Magenkrebs ist, behaftet sind,
welche höchst wahrscheinlich bis zur Vornahme des Eingriffes
hochgradig geschwächt worden sind, auch wenn sie den operativen
Insult überdauern würden, durch irgend eine zweckmässig ge-
wählte Nahrung für längere Zeit am Leben erhalten werden
können und ich glaube, dass nach dem Ergebniss meiner ersten
Beobachtung auch in dieser Beziehung kein Zweifel obwalten
kann. Bevor ich aber meine Eingriffe unternahm, handelte es sich
mir darum, nachdem schon die concreten Beobachtungen am
Menschen hierüber keinen Aufschluss gaben, mich in den physio-
logischen und experimental- pathologischen Publicationen umzu-
sehen, ob überhaupt ein thierischer Organismus, und zweitens bei
Einführung was für einer Nahrung er am Leben erhalten werden
kann, wenn bei ausgeschlossener Magenverdauung nur die ganze
Darmstrecke zur Verfügung steht. Und thatsächlich fanden sich
(18)
652 May dl.
ttber diesen Gkigenstand einige werthyoDe Untersachiingen vor. Ich
will sie in dem folgenden Capitel, dem physiologischen Theil, zu-
sammenfassen. .
IL Capitel.
Physiologiflolier Theil.
Eine hierher gehörige Versuchsreihe wurde in folgender
Weise angestellt.
C z e r n y und Kaiser excidirten, um die Zulässigkeit einer
mehr oder weniger ausgedehnten Magenreseetion nachzuweisen,
den Magen ganz oder bis auf einen ganz geringfügigen Rest. In
dem Falle E a i s e r's wurde dem Hunde der Magen so weit aus-
geschnitten, dass sich der Zwölffingerdarm fast unmittelbar an
die Speiseröhre anschloss. Als der Hund nach Yerheilung der
Wunde wieder Futter bekam, frass er anfangs gierig und erbrach
dann häufig; letzteres offenbar in Folge von Reizungen der au
der Cardia endenden Yagusäste. Bald aber passte er die Menge
der aufgenommenen Nahrung dem verkleinerten jenseits der Speise-
röhre gelegenen Hohlräume an und gedieh dabei, was unzweifel-
haft aus der Zunahme des Körpergewichtes hervorging. Der
Hand überlebte die Operation 21 Tage.
In einem zweiten von Czerny operirten Falle gelang es,
einen Hund mehrere (6) Jahre hindurch am Leben zu erhalten.
Derselbe wurde dem physiologischen Laboratorium in Leipzig
überlassen und Ogata(^) stellte an ihm eine Reihe sehr inter«-
essanter Beobachtungen an. Aus dem regen Appetit, welchen
dieser Hund den verschiedenartigsten Stoffen entgegenbrachte, aus
der normalen Beschaffenheit seines Kothes und aus dem in Folge
reichlicher Fütterung anwachsenden Körpergewicht konnte man
ersehen, dass seine Verdauung in keinem Punkte der eines ge-
sunden Hundes nachstand. Bei der Section des im Jahre 1882
getödteten Thieres ergab sich, dass an der Gardiaseite ein kleiner
Theil der Magenwand noch vorhanden war, welche eine kugel-
förmige mit Speise gefüllte Höhle umschloss. Hiermit wäre eigent-
lich fiir unsere Frage schon eine genügende physiologische Basis
gewonnen, insofern, als bei Thieren, denen der Magen bis auf
einen geringfügigen Rest entfernt worden war, der Organismus
(14)
Ueber Jejnnostomie oder die Anlage einer Ernälurongsflstel etc. 553
Wochen-, ja jahrelang erhalten werden konnte nnd das Körper-
gewicht desselben hierbei zunahm.
Eine zweite Versuchsreihe wurde im Laboratorium von Karl
Ludwig in Leipzig angestellt, und zwar in folgender Weise: Man
legte in die unmittelbare Nähe des Pylorus eine Magenfistel an,
von der man die Fförtnermündung sehen konnte. Durch die Magen-
fistel Hess sich ein passend gebogenes Glasrohr in das Pylorus-
lumen einschieben und durch dasselbe die Nahiung mit Umgehung
des Magens in den Zwölffingerdarm einbringen. Wenn die Speisung
des Dünndarmes geschehen und die Glasröhre entfernt worden
war, wurde nach den Vorschriften von Tappeiner und A n r e p (®)
ein gestielter, dünnwandiger Gummiballon durch den Pylorus ge-
schoben und dessen hohler Stiel so weit mit Wasser geflillt, bis
ein dichter Ab schluss des Pförtnermundes hergestellt war; hierauf
endlich wurde in die Canüle der Magenfistel der steife Hals eines
breiten Kautschukbeutels eingesetzt. Es ist ersichtlich, dass damit
dem Magensafte der Zutritt zur Darmhöhle verwehrt und zugleich
die Ueberflihrung von Speiseresten, die trotz der sorgfältigen Rei-
nigung des Magens zurückgeblieben sein konnten, in den Darm
unmöglich war. Da aber beim Ausziehen des Glasrohres, dem
Einsetzen des gestielten Gummiballons und dessen Ausdehnung
durch Wasser ein Antheil der eingeführten Stoffe wieder gegen
den Magen zurückfliessen kann, so bediente man sich später zur
Vermeidung dieses Rückflusses folgender Vorrichtung (Ogata):
In die eine Oeffnung eines an den zwei gegenüber liegenden
Polen durchbohrten Gummiballons wurde ein kurzer Ring einge-
bunden, dessen Lichtung mit einem doppelt durchbohrten Stopfen
verschlossen war.
Durch den Stopfen liefen 2 Gummicatheter. Der eine der-
selben endete in dem Hohlräume des Ballons, der andere dagegen,
welcher weiter und länger war, durchsetzt auch die Oeffiiung am
anderen Ende des Gummibeutels und ragt mit seinem freien Ende
5 Cm. über denselben hinaus. An dem Orte , wo er den Ballon
verliess, war der Gatheter in die Wand des Beutels dicht einge-
bunden. Das Verschlussstück wurde leer durch den Pylorus ge-
schoben, dann durch das in seine Höhlung mündende Rohr so
(15)
554 MaydL
weit mit Wasser gefiUlt, bis sich der Ballon an die Wand des
Duodenums fest anlegte.
Dann wnrde durch das zweite in den Darm hineinragende
Rohr die Speisemasse eingebracht ; der in dem Rohr verbleibende
Speiserest durch etwas Wasser nachgespült und hierauf endlieh
auch die freie Mündung des weiteren Catheters verstopft. Nach
1 — IVi Stunden fliesst nichts mehr ab. Auch der Magensaft muss
aus dem Magen während der Verdauung leicht abfliessen können,
so lange die Verdauung im Dünndarm nicht beendet ist.
Hierzu genügten, wie die Versuche zeigten, 2 — 3 Stunden.
Der Stopf ballon im Dünndarm darf nicht allzu viel gespannt sein,
da er sonst Erbrechen hervorruft. Tappeiner und Anrep
klagten hierüber als über einen Uebelstand der Methode.
Aus den in der vorbeschriebenen Weise angestellten Ver-
suchen ergab sich, was ftlr unsere Angelegenheit am wichtigsten
ist, dass nach der Ausschaltung des Magens die Fleischfresser die
zur Erhaltung des Körpergewichtes genügende Men^e der Nah-
rung auf ein- oder zweimal täglich aufnehmen und vollkommen
bis zur Bildung des normalen Kothes ausnützen können. Zur Be-
friedigung der Bedürftiisse, welche die Verdauung zu erfüllen hat,
ist darum der Magen weder als Vorrathskammer , noch als Er-
zeuger des Labsaft;es unumgänglich nothwendig. Durch den Hin-
zutritt des Magensaftes empfangen allerdings zahlreiche Nahrungs-
mittel erst die Vorbereitung, deren sie durchaus bedürfen, wenn
sie vom Dünndarm verdaut werden sollen. Dahin gehört der Ein-
fluss der Säure auf das freie oder verkalkte Bindegewebe.
Weit grösser ist die Zahl der NahrungsstoflTe, die durch ihre
Veränderung der Oberfläche oder durch Zerlegung in kleine
Stückchen im Magen erst die Befähigung erlangen, im Darme so
lang als möglich zu haften, um dort vollständig aufgenommen zu
werden. Aus diesem Grunde gewinnt der Fleischfresser durch den
Magen die Möglichkeit, sein Bedürfniss nach Nahrung auf einer
breiteren Grundlage zu befriedigen und das Genossene weit voll-
kommener auszunützen.
In ähnlicher Weise angestellte Experimente beleuchteten in
belehrender Weise die Schnelligkeit der Peristaltik, die Wirkung
der Abführmittel u. s. w. (Hess (»).
(16)
Ueber JeJTinostomie oder die Anlage einer Emähningsfistel etc. 555
Auch jene Versuchsreihe wies also nach , dass in überein-
stimmender Weise mit der Angabe von Leven an der franzö-
sischen Akademie der Magen zwar ein bedeutender Vortheil, aber
kein unumgänglich nothwendiges Bedürihiss sei. Er vertheilt die
Nahrungsmittel so, dass eine grössere Oberfläche desselben dem
Darmsafte geboten wird, er macht gewisse Sorten von Nahrungs-
mittel für die Ernährung zugänglich, die wir sonst für dieselbe
kaum verwenden könnten. Doch er ist insofeme nicht unumgäng-
lich nothwendig, als seine Wirkung sowohl die der Zerreibung
als die der Lösung des Bindegewebes auf künstlichem Wege er-
setzt werden kann, indem man die Nahrungsmittel zerkleinert
und eventuell mit einer salzsäurehaltenden Fepsinlösung früher
versetzt und ausserhalb des Körpers die Umwandlung, die sie
sonst im Magen erlitten hätten, durchmachen lässt und sie erst
darnach in den Dünndarm einführt. Von Seite der thierischen
Physiologie wäre demnach gegen einen Eingriff, wie ihn eine
Duodenostomie oder Jejunostomie darstellt, nichts einzuwenden.
Der Zufall, wie er seine wichtige Rolle aach bei der Legi-
timirung der Magenfistel gespielt hatte, kommt uns auch in der
Basirung des uns interessirenden Eingriffes mit einer Beobachtung
am Menschen zu Hilfe.
Es ist bekannt, dass der berühmte Fall von Beaumont
(Schuss in den Magen, Vorfall desselben, Entstehung einer Magen-
fistel, durch deren Bestand der Betroffene jahrelang in seinem
Wohlbefinden kaum gefährdet wurde) mit dazu beitrug, der Praxis
der Gastrostomie Eingang zu verschaffen. Auch für unseren Ein-
griff, finden wir, hat der Zufall für eine ähnliche Beobachtung
vorgesorgt. A priori wäre ja auf dem Wege eines Traumas oder
auf dem einer incarcerirten Hernie wohl ein Fall zu denken, wo
von der Verletzung oder von der Einklemmung eine der obersten
Dünndarmschlingen betroffen würde, wo die Person nach üb er-
standener Lebensgefahr doch genesen wäre und wo sich an Stelle
des durch Trauma oder Gangrän perforirten Darmes eine blei-
bende Darmfistel etablirt hätte. Doch ist uns, wie wohl die Beob-
achtungen von Fisteln, welche nach Hernien zurückgeblieben
sind, ziemlich zahlreich sind, kein Fall bekannt, wo die Ein-
klemmung eine der obersten Dünndarmschlingen betroffen hätte
Med. Jahrbücher. 1887. 44 (17)
556 MaydL
nnd in Folge derselben auf dem Wege der Gangrän der einge.
klemmten Darmschlinge eine Dttnndarmfistel entstanden wäre.
Wohl gibt es eine grosse Reihe solcher Fisteln, welche dem
untersten Abschnitte des Jejannms oder dem Anfangstheil des Colon
angehören. Bei dem sonst ausgezeichneten Emährnngszostande der
mit der Fistel letzterer Art behafteten Patienten kann kein Zweifel
obwalten, dass der Bestand einer solchen Fistel in keiner Weise
den Organismas in seinem Bestände bedroht. Allerdings ist auch
hierbei wieder zu bemerken, dass bei der tiberwiegenden Mehr-
zahl solcher Fisteln, insbesondere solcher, welche nach Incar-
ceration und Gangrän einer Darmschlinge, oder nach einer circa-
lären Darmnaht entstanden sind, kein Hindemiss besteht, dass
auch die unterhalb der Fistel gelegenen Darmpartien ftir die Ver-
dauung ausgenützt werden, da der von oben kommende Speise-
brei oft nur zum allergeringsten Theil nach aussen fliesst and der
grösste Theil davon die abwärts gelegene Darmstrecke durch-
wandert. Nur ein verhältnissmässig geringer Theil der Fistel ist
so beschaffen, dass ein Darmlumen vollständig in der Bauchwand
eingewachsen ist und sämmtlicher Darminhalt sich durch die-
selbe entleert, während das ebenfaDs in der Bauchwand einge-
wachsene, aber abftihrende Stück vollständig leer bleibt, durch
die mangelnde Yorwandung atrophirt.
Doch sind auch solche Fälle an grösseren Anstalten nicht
gar selten. Eine solche beobachtete ich an einem Kranken, welcher
nach einer eingeklemmten gangränösen Hernie des Cöcums und
des zufahrenden Dünndarmes einen Anus praeter-naturalis bekam,
wo beide Darmlumina neben einander in der Wunde lagen und
der Kranke von dem schweren Leiden, welches er durchzumachen
hatte, genas und trotz der Entleerung sämmtlichen Darminhaltes
bei der Wunde heraus und ohne Benutzung der aufsaugenden
Oberfläche des ganzen Dickdarmes vollständig gut gedieh, wodurch
ähnlich wie ftlr den Magen die Entbehrlichkeit dieses untersten
Darmabschnittes zweifellos erwiesen ist. Eine Beobachtung, wo
die Gangrän den obersten Theil des Jejunum betroffen hätte und
ein wahrer Anus praeter-naturalis entstanden wäre, ist nicht zu
unserer Kenntniss gekommen.
(18)
üeber Jejmiostomie oder die Anlage einer Emähnmgsfistel etc. 557
Eine gerade fttr unsere Frage höchst wichtige Beobachtung
jedoch, wo Verletzung das veranlassende Moment war, lieferte
uns Busch(i<^) aus seiner Bonner Elinik, welche wir wegen des
einschlägigen Interesses mittheilen wollen. Es wurde auf die Klinik
eine 31jährige Frau aufgenommen, welche von einem wtithenden
Stier auf die Homer genommen und in die Luft geschleudert
wurde; durch das eine Hom wurde eine b" lange Querwunde
gerissen, welche ungefähr in der Mitte zwischen Nabel und Sym-
physis verlief. Aus der Wunde, welche die Bauchwand durchbohrte,
fielen scheinbar unverletzte Eingeweide vor. Diese wurden zurück-
gebracht und jene durch die Naht geschlossen. In den ersten
3 Tagen nach der Verletzung befand sich die Patientin den Um-
ständen gemäss wohl, auch erfolgte in der Nacht ein Stuhlgang.
Aber es entstanden heftige Schmerzen, die Wunde brach wieder
auf und entleerte Serum. Der Stuhl stockte und unter Zunahme
der Schmerzen drang endlich auch Darminhalt und unverdaute
Nahrungsmittel aus der Wunde. Trotzdem, dass bald darauf die
Schmerzen aufhörten und sich ein gewaltiger Appetit einstellte,
verfiel die Patientin ausserordentlich schnell, so dass sie die An-
gehörigen in der 6. Woche nach der Verletzung nach Bonn trans-
portirten. Der Zustand, in welchem sich die Patientin bei der
Aufnahme befand, war ein äusserst trauriger. Sie hatte das Aus-
sehen einer 50 — 60jährigen Person; sie bot einen Grad der Ab-
magerung, wie man ihn selten zu beobachten Gelegenheit hat.
Unter der schlaffen, welken Haut liess sich keine Spur von Fett
mehr wahrnehmen, weiter ragten alle Knochenvorsprtinge vor, die
Muskeln waren schlaff und welk und hatten geringen Umfang.
Die Schwäche derselben war so gross, dass Patientin ohne fremde
Hilfe sich nicht im Bette umzuwenden vermochte, sondern in ihrer
zusammengekrümmten Lage verharren musste. Besonders auffallend
war die Unthätigkeit der Muskeln in dem eingefallenen abge-
magerten Gesicht. Mühsam und unvollkommen bewegten sich die
Lippen beim Sprechen. Der physiognomische Ausdruck blieb immer
derselbe, leidend, ohne dass eine Veränderung wegen des man-
gelnden Spieles der Gesichtsmuskeln wahrzunehmen war. Dem-
entsprechend hatte auch das Auge etwas Lebloses, indem es tief
in der fettlosen Orbita zurückgesunken und mit sichtbarer An-
44 ♦ (19)
658 Maydl
strengUDg bewegt wurde. Aach das Herz zeigte eine geringe
Thätigkeit, 40—50 Schläge in der Minute, der Pols klein, faden-
förmig. Die Athemzttge waren entsprechend oberflächlich and
geschahen 10— 12mal in der Minnte. Die Stimme war heiser
nnd tonlos , das Sprechen selbst , wie jede noch so geringe An-
strengang mühsam. Bei der äusseren Untersuchung des sonst tief
eingefallenen Leibes fand sich zwischen dem Nabel und dem
horizontalen Schambein eine rundliche längliche Geschwulst, welche
sich als ein Bauchbruch erwies. Auf der unteren Hälfte war ein
ungefähr 1 ^/a'' langer, querlaufender Hautdefect, in welchem man
die durch ihre Querspalte und wurmförmigen Darmgänge leichter
erkennbare innere Oberfläche des Darmes offen zu Tage liegen
sah. Links und oben an diesem Querspalte befand sich eine rund-
liche Oeffnung, aus welcher von Zeit zu Zeit eine mit GaDe ge-
färbte und mit Nahrungsresten untermischte Flüssigkeit hervor-
kam. In diese Oeffnung drang der Finger leicht ein, ebenso eine
elastische Sonde, ohne jedoch ein Ende des Rohres zu erreichen.
Darunter, ungefähr in der Mitte des Querspaltes, erschien ein
kegelförmig umgestülptes Darmstück, welches in seiner Mitte eine
Oeffnung zeigt, in die man mit dem Finger ebenfalls eindringen
konnte ; auch hier erreichte der Finger kein blindes Ende, dagegen
quoll eingespritzte Flüssigkeit wieder vor und ein in diese Oeffnung
eingeführter elastischer Catheter bog sich um und kam mit der
Spitze wieder zur Oeffnung heraus. Diese Apertur führte also in
einen Blindsack, welcher vom Darm gebildet und nicht in das
untere Ende des Yerdauungscanales , welches in den Mastdarm
endet. Erst nach mehreren Tagen gelang es, an dem rechten
Winkel des Querspaltes eine dem Gesichte durch eine Falte ver-
deckte Oeffnung aufzufinden, welche durch die narbige Contraction
der Darmschleimhaut auf den Durchmesser eines starken Sonden-
knopfes verengt war, sich aber bald so weit ausdehnen liess, dass
der Finger eindringen konnte und so in das untere Ende des
Yerdauungscanales gelangte. Rings um den Querspalt war die
Haut des ganzen Unterleibes durch fortwährendes Berieseln mit
Verdauungssaft und Speisebrei excoriirt und wund. Die bioss-
liegende innere Darmwand erschien durch starke Ii\jection gleich-
massig hochroth. Aus der Lage dieses widernatürlichen Afters
(80)
üeber Jejnnostomie oder die Aolage einer Emähnrngsfistel eto. 559
unterhalb des Nabels und dem Caliber des zugänglichen Darmes
schloss man auf den Dünndarm. Der Umstand, dass an dem bloss-
liegenden Theile die Valvulae conniventes Eorkringii so dicht
standen, dass ihre freien Ränder sich berührten, bewies, dass der
obere Theil des Dünndarmes frei lag. Hierfür sprach auch noch,
dass die Verdauungssäfte in reichlicher Menge ausströmten, dass
der Speisebrei bei gemischter Nahrung mehr flüssige als feste
Bestandtheile, und dass die in demselben enthaltenen Nahrungs-
brocken wenig verändert zum Vorschein kamen. Ja, Busch ver-
muthete sogar, dass die Fistel nicht sehr fern von der Einmün-
dungssteile des Gallen- und Pancreasganges sich befand, denn
Morgens im nüchternen Zustand waren die herausfliessenden Ver-
dauungssäfte ganz grasgrün gefärbt, welche Farbe wir doch be-
kanntlich in entfernten Theilen des Dünndarmes nicht mehr an-
trefien und erst bei längerem Zusehen, wenn frisch secernirte
Galle zuströmte, nahmen sie die goldgelbe Farbe an. Die hohe
Lage der widernatürlichen Oeffiiung erklärt den rapiden Verfall
der Patientin trotz der reichlich eingeführten Nahrung genügend,
denn aus den eingeführten Nahrungsmitteln wurde nur wenig auf
dem kurzen Wege, welchen sie durchlaufen haben, aufgenommen
und der Körper verlor eine ganze Menge abgesonderter Verdauungs-
flüssigkeit, welche hier frei abströmte, weil sie im normalen Zu-
stande grösstentheils im Darme wieder aufgesogen wird, ein be-
trächtliches Quantum.
Leider wurden zur Zeit der Abmagerung keine Wägungen
vorgenommen.
Nachdem ein UeberfÜhren des durch die obere Oe£Fhung
abfliessenden Speisebreies in die untere misslang, war man ge-
zwungen, die Kräfte der Patientin auf andere Weise zu heben.
Man brachte in das untere Darmende, zu welchem weder der
Magensaft, noch Galle und Pancreassaft gelangen konnten, sondern
welches nur von Darmsecreten befeuchtet wurde, Nahrungsmittel-
hinein, und zwar melr proteinhaltige als vegetabilische Stoffe;
damit dieselben leichter verdaut werden könnten, wählte man
vorzüglich die flüssige Form, kräftige Fleischsuppe, in welcher
Eier gerührt waren, zuweilen wurde auch Mehlsuppe in reich-
licher Menge eingespritzt ; aber auch Stücke von gekochten Eiern
560 HaydL
und Fleisch worden mit 4em Finger hineingestopft, und zwar in
ziemlich hedentonder Quantität. Der Erfolg war ein überraschender.
Denn während man vorher, als man zu dieser Emährong ge-
schritten war, bei der reichlichsten Kost keine Eräfteznnahme
bemerken konnte, war die Besserung schon einige Tage, nachdem
auch das untere Darmende gefallt worden war, augenscheinlich
und ein Jeder konnte sich überzeugen, dass von Tag zu Tag die
Kräfte zunahmen. Zwar war das noch nicht am Eörpervolumen
zu beobachten, aber die Muskeln gewannen an Energie, das
Gesicht verlor seinen verzerrten, todtenahnlichen Ausdruck, das
Auge wurde wieder glänzend, die Sprache erhielt ihren Klang
die Patientin konnte sich wieder aufrichten u. s. w.
Nach achtwöchentlichem Aufenthalte im Spitale hat sich
schon wieder etwas Fett angesammelt und die Patientin war so
weit gestärkt, dass sie ohne Hilfe durch die Stube gehen konnte.
Zu dieser Zeit betrug das Gewicht das einer mittelgrossen Frao,
68 Pfund 4 Loth. 5 Wochen später, also 13 Wochen nach der
Aufnahme wog sie 75 und noch 8 Wochen später 85 Pfund. Er-
wähnenswerth ist noch , dass, als die Kräfte auf einen gewissen
Punkt wieder gehoben waren, reichliche Ernährung vom Monde
allein genügte, um allmälig den Körperzustand der Patientin zu
verbessern. Busch studirte an derselben verschiedene Erschei-
nungen. So vor AUem den Hunger. Es ergab sich, dass man bei
demselben zweierlei Empfindungen unterscheiden müsse: 1. Ein
Allgemeingefilhl, welches der Zustand des Nervensystemes ist und
in welchem wir uns bewusst werden, dass ein Verbrauch statt-
gefunden hat, welcher Ersatz fordert. 2. Die zweite Art des
Hungergefühles, welche in einer Affection der Nerven der Ver-
dauungsorgane besteht und sich uns durch eine unangenehme
Empfindung im Magen durch Speichelfluss im Munde bemerkbar
macht. Weiter studirte er die Peristaltik. Auch wenn kein Speise-
brei mehr im Darm war, wenn aber die peristaltische Bewegung
dabei fortdauerte, wurde von Zeit zu Zeit aus dem widernatür-
lichen After wenigstens gallige Flüssigkeit hervorgestossen.
Das Lager der Patientin war stets durchnässt. Als sie sich
schon helfen konnte, fing sie alles den Tag über Ausfliessende
in Schüsseln auf. Während der Nacht jedoch, wo sie diese Vor-
(aa)
üeber Jejmiostoiiiie oder die Anlage einer EnuUmingsflstel etc. 561
sieht nicht gebrauchen konnte, blieb ihr Lager dennoch trocken;
von 10 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens floss nichts ans, selbst
Theile der am Abend genossenen Mahlzeit wurden zurückbehalten ;
auch wenn sie schlief, floss zu jener Zeit nichts ab.
Die Angaben Lndwig^s und Schwarzenberg^s, dass
alle Körper nur in der Richtung gegen den After fortbewegt
würden, konnte Busch nicht bestätigen, denn im unteren Darm-
ende spürte man recht unangenehm die antiperistaltische Bewegung.
Bezüglich des Darmsaftes fand Frerichs in einer abge-
bundenen Dünndarmschlinge (ohne Galle und Fancreassaft) den-
selben alkalisch. Die Secretion des oberen Theiles des Dünn-
darmes ist keine massenhafte. Auch Busch fand, dass, wenn viel
herausfiiesst, es Magensaft, Galle und Fancreassaft ist. Die Flüssig-
keit reagirt stets alkalisch. Frerichs fand weiters, dass der Dünn-
darmsaft Stärke in Zucker umwandle, leugnete hingegen die Wirkung
auf Eiweisskörper. B idder und Schmidt fanden, dass der Darmsaft
auch Eiweisskörper zerlege. Diese Differenz zu klären unternahm
Busch einige Versuche. Er brachte protemhaltige Nahrungsmittel
in die untere Fartie des Darmcanales, worauf jeden Tag ein Stuhl
erfolgte. Später wurde derselbe wieder träger, so dass man nach-
helfen musste. Die ausgeschiedenen Massen waren von solchem
Ansehen, wie sonst, nur selbstverständlich nicht mit Galle ge-
färbt und von furchtbar aashaftem Gerüche. Unverdaute Stücke
Hessen sich darin nicht entdecken. Da die Patientin sich hierbei
erholte, so musste ProteYb verdaut worden sein. Allerdings gibt
Busch auch zu, dass dieser Beobachtung in der Literatur auch
widersprechende Beobachtungen entgegenstehen, wo in eine Darm-
fistel eingebrachte Nahrungsstoffe unverdaut abgingen. Aber in
B u s c h's Falle musste eben die grösste Strecke des Darmes durch-
laufen werden, und da wurde auch Alles verdaut. Busch unter-
nahm auch Versuche mit Stärke, Bohrzucker und Fett und es er-
gaben sich aus diesen Versuchsreihen folgende ftir unseren Zweck
vdchtige Schlussfolgernngen. Der Darmsaft kann stärkemehlh altige
und proteKnhaltige Körper zersetzen. Der Darmsaft verwandelt
Stärke in Traubenzucker. Der Darmsaft löst ProteYnkörper unter
der Erscheinung der Fäulniss. Der Darmsaft verwandelt Bohr-
zucker nicht in Traubenzucker, der Bohrzucker wird aber als
(28)
662 Maydl.
solcher resorbirt und erscheint im Urin wieder. Fett wird, wenn
es nicht mit der Galle und mit dem Pancreas in Berührang
kommt, entweder gar nicht oder nur in geringer Menge vom
Darme aus resorbirt.
Fett wird von den in den Dünndarm gelangenden Flüssigkeiten
emulgirt, wenn diese Flüssigkeiten, wie es ja gewöhnlich der Fall
ist, alkalisch sind, hingegen nur theilweise, wenn sie sauer sind.
Das im Dünndarm befindliche Gemisch von Verdauungssaften
wirkt verdauend auf ProteYnkörper.
Bezüglich der Zeit, in welcher durch den Mund genossene
Nahrungsmittel bei der oberen Darmöffnung erschienen, werden
folgende Angaben gemacht. Die ersten Nahrungsmittel erschienen
15 — 20 Minuten nach dem Genüsse.
Diesen Angaben von Busch stehen einige, wie schon
erwähnt, widersprechende entgegen, und zwar bezieht sich der
Widerspruch auf Folgendes :
Nach den Untersuchungen von Bernhard Demant("),
welcher dieselben an einer Fistel anstellte, durch welche 2 Darm-
lumina, vollständig von einander isolirt, hervortraten, und welche
von einer gangränösen, inguinalen Hernie herstammte, welche
aber höchst wahrscheinlich, sowie in den meisten Fisteln die
Partie des Darmes unweit des Blinddarmes betraf, ergaben sieb
folgende Resultate : Dieser Patient, welcher einen Theil des Dünn-
darmes und das ganze Colon für seine Verdauung nicht verwenden
konnte, hat während einer ITtägigen Untersuchungsdauer mehrere
Pfunde an Körpergewicht gewonnen, übereinstimmend also mit
unserem höher oben bereits angeführten Fall. Bezüglich der
Secretion des Darmes scheidet sich angeblich des Morgens nur
sehr wenig Saft ab, ja oft kommt kein einziger Tropfen heraus^
aber Nachmittags, da Patient eine reichliche Mahlzeit genossen
hat, rinnt viel mehr Saft aus; gewöhnlich begann die Secretion
um 3 Uhr und dauerte bis TVa Uhr. Dann wird die Menge des
Saftes immer geringer; während der Nacht ist keine Aus-
scheidung von Saft vorhanden. Wenn Patient zu Bette ging, legte
er immer einen frischen Verband an, des Morgens fand man auf
diesem Verbände keine Flecken. Ich erwähne diesen Umstand
d eswegen, weil er bezüglich der Versorgung der Kranken, welche
(24)
Ueber Jejanostomie oder die Anlage einer Ernfthningsfistel etc. 563
eine Jejanostomie durchgemacht haben, dieser Umstand darauf
hinweist, den Verbandwechsel Abends vorzunehmen, damit die
zur Fistel herausfliessenden Flüssigkeiten beseitigt und mit ihnen
der ziemlich bedeutende Reiz der Hautdecken entfernt werde«
Dieser Verband hält dann über Nacht und über den nächst-
folgenden Tag bis ein paar Stunden nach der Hauptmahlzeit vor.
Demant äussert sich in Bezug auf die Verdauung der ProteYn-
körper, dasszwar Thiry, Loebl, Quincke, Schiff angaben,
dass rohes Fibrin im Darmsaft verdaut werde, wobei Peptone
entstehen; dass nach seinen Versuchen jedoch, die, wie ich be-
merken will, stets ausserhalb des Körpers in einem Verdaunngs-
ofen des Laboratoriums der medicinischen Klinik zu Erlangen
angestellt wurden, er kein einzigesmal im Stande war, Peptone
nachzuweisen. Gekochtes Fibrin und Hühnereiweiss , Pflanzen-
fibrin und Legumin blieben vollständig unverändert. GaseYn wurde
ohne Entstehung von Peptonen gelöst, was aber nur von der
alkalischen Reaction des Darmsaftes herrührt. Er kommt daher
zu dem Schlüsse, dass der menschliche Darmsaft kein peptoni-
sirendes, Eiweiss verdauendes Ferment besitze und sich ganz
indifferent zu den verschiedenartigsten ProteYnkörpem verhält. Be-
züglich der stärkemehlhaltigen Substanzen herrschen auch ver-
schiedene Ansichten. Thirj, Loebl und Quincke konnten
bei ihren Versuchen mit thierischem Darmsaft eine Umwandlung
des Amylums der stärkemehlhaltigen Substanzen in Traubenzucker
nicht feststellen, dagegen geben Frerichs, Paschutin und
Eichhorst an, dass der Darmsaft ein diastatisches Ferment
enthalte, welches Amylum in Traubenzucker umwandelt.
Demant konnte die Angaben der letzteren Autoren be-
stätigen in Uebereinstimmnng auch mit Busch. In Bezug auf
Rohrzucker geben Kühne, Loebl und Paschutin an, dass
der Darmsaft den Rohrzucker in Traubenzucker umwandle, was
Busch in seinem Falle nicht constatiren konnte.
Mit der grösstmöglichsten Sorgfalt ausgeführte, vor Gährungs-
organismen geschützte Versuche Demant's lehrten, dass der
menschliche Darmsaft Rohrzucker in Traubenzucker umzuwandeln
vermag. Bezüglich der Wirkung des Darmsaffces auf Fett behaupten
die meisten Autoren, dass Fett vom Darmsaft gar nicht angegriffen
(26)
564 MaydL
werde, auch Busch konnte es zugeben. Nor Frer ic hs und S ch i f f
sprechen sich darüber positiv ans. Die Untersuchungen De man fs
ergaben, dass Fette, die, wenn auch geringe Quantitäten freier
Fettsäuren enthalten', Yom Darmsaft emulgirt werden, dagegen
neutrale Fette durch denselben nicht angegriffen werden.
Nach diesen Untersuchungen würde die Kost der Patienten
einzurichten sein, wobei man noch im Auge behalten muss, dass
abweichend von der Untersuchung B u s c h^s und D e m a n t's Galle
und Pancreaseaft bei dem operirten Kranken zur Disposition
stehen, demnach die Verhältnisse ungefähr so liegen, wie in den
Versuchen 0 g a t a's, wo nur die Magenverdaunng und das Magen-
secret ausgeschlossen wurde. Die Kost würde demnach keine be-
sondere Zubereitung erfordern, es würde genügen, stärkemehlhaltige
Substanzen, Traubenzucker und Rohrzucker einzufahren, proteYn-
haltige Substanzen vor ihrem Einführen künstlich zu peptonisiren
oder eines der zahlreichen im Handel befindlichen Peptone, wo-
durch sich allerdings die Ernährung etwas theuer gestaltet, zu
verwenden. Bezüglich der Fette konnte man, um den Versuche
Dem an t's Rechnung zu tragen, darauf sehen, dass dieselben
etwas freie Fettsäure enthalten, was aber gar keiner besonderen
Zubereitung erfordert, da das gewöhnliche Fett, z. B. Mandel- oder
Olivenöl, immer etwas freie Fettsäure enthalten, blaues Lackmus-
papier roth färben und nur chemisch reines Fett eine neutrale Re-
action gibt.
Wir sind im Verlaufe dieses Capitels demnach belehrt
worden, dass ein sonst gesunder Organismus , dessen Verdauung,
dessen Secretion und Resorption, also die Thätigkeit der zur Ver-
fügung stehenden Darmstrecke normal ist, der von keiner sonstigen
Krankheit heimgesucht ist, zweifellos von einer hoch gelegenen
Darmfistel ernährt werden könne (Busch) — eine Angabe, welche
auch durch die Thierexperimente, wie sie von Czerny, Kaiser
und 0 g a t a angestellt wurden, vollständig bestätigt wird.
Fraglich erscheint am Schlüsse dieses Abschnittes, und was
zu entscheiden eben die Aufgabe der eigenen sofort zu berichtenden
Beobachtungen ist, ob ein Organismus, dessen Darmverdauung
wegen eines am Pylorus bestehenden Hindernisses durch Wochen
und Monate hindurch auf das geringste Maass reducirt war, ein
(86)
Ueber Jejanostomie oder die Anlage einer Emährongsfifitel etc. 565
Organismus, welcher ausserdem, wie es z. B. bei den Carcinomen
der Fall ist, eine ihn tief schädigende tödtliche Erkrankung in
sich birgt, von einer hohen Dünndarmfistel aus für längere Zeit
am Leben erhalten werden können. Die Beantwortung dieser Frage
sei der Gegenstand des nächstfolgenden Capitels.
m. Capitel.
Eigene Beobaohtungen.
Mathias Lenz, 53jähriger Taglöhner, wurde am 22. April
des Jahres 1887 auf die Spitalabtheilung der Poliklinik auf-
genommen. Derselbe gibt an, zeitlebens schwächlich gebaut gewesen
zu sein. Im Jahre 1870 machte er eine Smonatliche Erkrankung
(Lungenentzündung) durch. Im Anfange der 1870er Jahre begannen
die Achsellymphdriisen zu schwellen, brachen zeitweilig auf, heilten
wieder für einige Zeit zu. In letzterer Zeit schwollen auch die
Leistendrüsen an, ohne bisher aufgebrochen zu sein. Husten und'
Blutauswurf waren nie vorhanden. Magenbeschwerden datiren seit
Ende 1886. Anfangs ging das Essen noch ganz gut vor sich,
doch stellten sich nach ungefähr 2 Stunden Beschwerden ein,
Druck in der Magengegend, Auftreibung derselben. Der Schmerz
dauerte mit Remissionen bis gegen Abend und wurde während
des Gehens angeblich erträglicher. Abends ass der Patient, um
alle Beschwerden bei Nacht zu vermeiden, bereits durch Wochen
hindurch, nichts Anderes als Erdäpfelpur^e und Milch. Erbrochen
hat Patient nie. Der Stuhl ist in letzter Zeit hart, erfolgt alle
3^-4 Tage ohne Nachhilfe, ohne Blutspuren. Die Bildung eines
Tumors hat Patient nicht bemerkt, bis er Mitte März sich im
Rudolphinerhause anfrug, wo ihm das Vorhandensein eines solchen
mitgetheilt wurde. Doch als ihm eröffiiet wurde, dass eine Ope-
ration, u. z. eine auf Leben und Tod, nothwendig sei, schreckte er
zurück und blieb während der letzten 4 Wochen zu Hause und
arbeitete nichts mehr. Appetit war zwar noch vorhanden, doch
vertrug der Patient nur Suppe, Milch und Erdäpfelpuröe, Fleisch
und Brod machten ihm unerträgliche Schmerzen. Als sich Patient
am 23. April vorstellte, war er bereits hochgradig abgemagert und
anämisch. In der rechten und linken Achselhöhle, aus mehreren
harten Drüsen bestehende Tumoren von Hühnereigrösse , gegen
(«7)
566 Maydl.
welche eiternde Fisteln binftihrten, ebenso in den beiden Ingoinal-
gegenden grosse DrUsentnmoren , aber ohne Aufbrach. In der
Mittellinie des Banches, in der Mitte zwischen Nabel and Schwert-
fortsatz tastete man einen fanstgrossen nnregelmässig gestalteten
höckerigen Tamor, welcher über der Unterlage beweglich ist,
aber in nicht sonderlich ausgiebiger Weise, da derselbe an die
vordere Bauchwand angewachsen ist, was sich aus der Fixirong
beim Aufsitzen, hauptsäehlich aber daraus erkennen lässt, dass beim
Anfassen der Nabelnarbe der Tumor alle Bewegungen, die man
mit ihr ausfuhrt, genau mitmacht, hauptsächlich sich aber auch
bei demselben Manöver in verticaler Richtung beträchtlich em-
porheben lässt. Der Tumor reicht ziemlich weit in die Tiefe
und sendet einen nicht weiter verfolgbaren Fortsatz gegen den
rechten Rippenbogen, hinter welchem sich dieser verliert. Man
deutete den Tumor als ein an die vordere Bauchwand fixirtes Pyloms-
carcinom und den Fortsatz als infiltrirte Lymphgefassstränge, die
gegen den I^eberhilns hinziehen. Von allen diesen Verhältnissen
tiberzeugte man'sich auch in einer längeren Lustgas-Sauerstoffharcose.
Man dilatirte den Magen mit Kohlensäure und überzeugte sich,
dass der Tumor in der Magenwand sitze und angewachsen sei,
da die tympanitische Magenpercussionszone wohl nach abwärts,
aber nicht nach rechts über die Mittellinie vorrückte und sich
gegen den Tumor hin zu schärfte ; eine hohe Infusion mit kohlen-
sänrehältigem Wasser per rectum demonstrirte ad oculos durch
die abgemagerte Bauchwand die Füllung des queren Colons, welches
weit ab vom Tumor verlief, V-förmig gegen die Symphyse herab-
sinkend. Die prompte Füllung des Colon ascendens bei dieser
Infusion erwies auch noch zum Ueberflnss die Abwesenheit einer
jeden Strictur des Colon transversum, an welche man bei der
Seltenheit des Stuhls und dem vollständigen Mangel an Erbrechen
hätte denken können. Die genaue Palpation in der Narcose er-
gab gleichzeitig die Unmöglichkeit eines radicalen Exstirpations-
Versuches und man erwog nun die zwei möglichen Palliativeingriffe,
nämlich die Gastroenterostomie und die Jejunostomie. Die erste
war wegen der Anwachsung des Magens in der Mittellinie in der
vorderen Bauchwand, daher wegen der Unmöglichkeit der Ver-
schiebung und Vorlagerung behufs der Wolf le raschen oder auch
(28)
üeber Jejanostomie oder die Anlage einer Ernährongsfistel etc. 567
der Herabdrängang behafs der y. Hacke raschen Operation in
der typischen Weise onaasfdhrbar. Ich dachte nun daran, entweder
die Gastroenterostomie von einem unter dem linken Rippenbogen
angelegten Schnitt auszufahren, indem ich eine oberste Jej unoschlinge
gegen den linken Magenrand emporheben und sie hier mit dem
Magen vertaähen würde, oder die Jejunostomie auszuführen, indem
ich die oberste Jejunumschlinge behufs Anlegung einer Emährungs.
fistel in die vordere Bauchwand einnähte. Zu diesem Zwecke
machte ich am 24. April 1887 eine horizontale Incision links vom
Nabel bis gegen den linken Rippenbogen, eröffiiete nach Durch-
trennung der Muskelschichte der Obliqui und des äusseren Randes
des linken Rectus die Bauchhöhle. Nun überzeugte ich mich, dass
der tastbare Tumor thatsächlich, u. zw. mit ziemlich breiter Fläche
an die vordere Bauchwand fixirt war; dass diese Verwachsung
die Vorlagerung des Magens so weit behindere, dass ich die
Nähte bei einer Gastroenterostomie nur äusserst mühsam in der
Tiefe hätte anlegen müssen. Ich entschloss mich daher zur Jeju-
nostomie. Nach Emporheben der Flexura lienalis coli kam die
Austrittsstelle des Duodenums hinter dem peritonealen Ueberzug
der hinteren Bauchwand zum Vorschein. Ich wählte jetzt eine
Stelle des Jejunums, die von diesem Platze circa 20 Cm. weit
entfernt war, um die Inhaltscirculation im Colon, an der Stelle, wo
der mobile Theil des Colon transv. in den retroperitonealen des
Colon descendens übergeht, auch bei bedeutender Ausdehnung
desselben nicht zu beengen. Denn die Flexura lienalis coli musste
ja der eingenähten Dünndarmpartie gewissermassen reitend auf-
lagern. In einer emporgehobenen iPalte des Dünndarmes liess ich
zwischen zwei Fingern die Schleimhaut entgleiten und legte durch
die zwischen den Fingerspitzen verbleibende Muscularis und Serosa
zwei dickere Seidennähte, behufs Markirung jener Partie, an, welche
später mit dem Paquelin eröffiiet werden sollte. Nun vereinigte
ich die Serosa parietalis mit der Serosa und einem Theil der
Muscularis des Dünndarmes mittelst 18 feiner Seidenknopfnähte,
wie es bei der Magenfistel üblich ist. Die übrige Bauchwunde
vereinigte ich durch tiefe und oberflächliche Nähte, selbstverständlich
ohne die Bauchhöhle zu drainiren. Im Bauche war keine ascitische
Plüssigkeit, auch nirgends eine knötchenartige Dissemination des
im
568 Mtydl.
Leidens an den DannmeBenterien and dem Netz vorhanden. Ueber
die Wunde worde ein Snblimatbolz-Charpieverband gelegt Der
Verlauf der Operation war ein vollständig fieberloser, der äasserst
mhige Patient hielt sich streng an die Weisungen, wurde tätlich
durch 2 Rectalclystiere ernährt, welche aus Kemmerich'schem
Pepton, je 2 rohen Eiern , einem halben Liter Milch und einem
viertel Liter Wein bestanden. Die Clystiere wurden ziemlich hoch
infundirt xmd ausgezeichnet behalten. Zum Stillen des Darstes
gestattete man dem Kranken löffelweise gewässerten Wein oder
Milch zu trinken. Am 30. April wurde der Darm eröffnet mittelst
des spitzen Brenners des Paquelin'schen Thermocauters, in die
enge Oeffnung ein dünnes Drainrohr eingeführt und durch dasselbe
dieselben Quantitäten vne beim Rectalclystiere und statt der
letzteren eingespritzt. Die Fistelöffhung am Darme erweiterte sich
allmälig, so dass man, um das Ausfliessen des Darmsaftes zu
verhindern, zu stärkeren Drainröhren übergehen musste. Trotz
der letzteren floss so viel einer galligen Flüssigkeit, die nach
wiederholten Prüftingen schwach alkalisch reagirte, aus, dass in
2 — 3 Tagen die ganze nach links liegende Partie des Bauches
bis zur Wirbelsäule oberflächlich excoriirt war.
Wir mussten, um dies zu verhüten, das Drainrohr weglassen
und die Fistel mit einem aufgelegten Wattatampon verschlossen
halten. Diese Entleerung der Verdauungssäfte dauerte auch that-
sächlich nur etwa 5 Stunden nach der gemachten Einspritzung,
deren zweite wo möglich auf die Mittagsstunde verlegt wurde.
Gegen Abend wurde der Verband frisch gewechselt, welcher auch
bis zur nächsten Einspritzung gewöhnlich trocken blieb. Wegen
Reinigung der Localitäten wurde der Kranke mit geformter
Dünndarmfistel nach Hause entlassen, worauf wir uns, meine
Hilfsärzte und ich, der Aufgabe unterziehen mussten, jeder alle
4 Tage zweimal des Tages in die ausserhalb der Stadt ge-
legene Wohnung des Patienten behufs Fütterung desselben zu
begeben. Sobald die Fistel etwas formirt war, und man durch
Einführang der Nahrungsstoffe nicht eine Ablösung des Darmes
von der Bauchwand befUrchten musste, wurde auch geschabtes
Fleisch und Mehl, in Fleischnudeln geformt, und solche, die einem
Gewichte von 30 Dg. Fleisch entsprachen, täglich einmal nebst
(80)
üeber Jejnnostomie oder die Anlage einer Ernlhningsflstel etc. 569
seiner sonstigen Kost eingefiihrt. Patient befand sich seit dem
14. Mai in seiner Behausung, hatte ziemlich guten Appetit, wurde
nur Yon Durst geplagt, welchen aber mit den geringsten Quan-
titäten Flüssigkeit zu stillen ihm aufgetragen wurde, da sonst die
Durchnässung des Verbandes eine ziemlich bedeutende war und
in Folge dessen die Haut gleich excoriirt wurde und ziemlich
schmerzte. Zu Hause wurde die Kost variirt, indem Wochen hin-
durch statt des rohen Fleisches Rostocker Pepton verabreicht wurde,
u. zw. ungefähr 30 Gr., zweimal am Tage, oder Milch in grösseren
Quantitäten, natürlich mit Eiern und Wein gemischt. Im Allgemeinen
zog der Patient die flüssige Nahrung vor, da ihm das Durchführen
der Fleischnudeln durch die Fistel leicht schmerzhaft war, die
Füllung des Darmes auch durch die ziemlich trockene Nährsubstanz
unangenehm empfunden wurde.
So wurde er täglich zweimal gefüttert, immer um 7 Uhr
Abends verbunden, schlief ziemlich gut, hielt sich die erste Zeit
auf seinem Eintrittskörpergewicht von 56 Eg., fing dann aber
sichtlich an abzumagern, u. zw. am Schlüsse der 6. Woche nach
der Operation. Die Eörpergewichtsabnahme jedoch in Ziffern
auszudrücken, ist mir leider unmöglich, da ich im Hause des
Kranken keine Wage zur Verfügung hatte. Der Stuhl erfolgte,
ohne Nachhilfe, regelmässig, entweder alle Tage oder jeden
2. Tag. Der Kranke empfand sonst keine Schmerzen, nur tastete
man durch die Bauchdecke eine ziemliche Zunahme des ursprüng-
lichen Magentumors, welcher durch die abgemagerte Bauchwand
flach-kugelig, nahezu kindskopfgross prominirte, aber keine Passage-
störungen im Darme machte. Seit dem 5. Juni stellte sich beim
Patienten ein trockener Husten, sowie kleinblasiges Rasseln auf
der linken Seite ein. Die Zunge trocken. Patient ziemlich matt.
Der Stuhl etwas angehalten, erfolgt am 7., ist von ziemlich fester
Consistenz.
Am 8. fühlt sich Patient sehr schwach. Bei der Eröffnung
des Verbandes quillt eine ziemlich grosse Menge schwach alkalisch
reagirende Flüssigkeit hervor. Patient hochgradig abgemagert,
stirbt in der Nacht, 9. Juni, um *U 4 Uhr des Morgens, demnach
7 Wochen nach der Operation.
Section konnte nicht gemacht werden.
(81)
570 MaydL
W. S.y 40 Jahre alt, eingetreten aaf die Spitalsabtheilung der
Poliklinik am 12. Mai 1887, gibt an, zeitlebens ziemlich gesund
gewesen zu sein ; keine auf die Krankheit bezüglichen anamnesti-
schen Daten sind eruirbar. Er datirt seine Krankheit, seitdem
er in Serbien als Gärtner bei einem der dortigen Gesandten
Dienst genommen ^ nämlich seit Herbst 1885, und während der
Abwesenheit seiner Herrschaft nach seiner Aussage gezwungen
war, um mit dem zugemessenen Kostgelde auszukommen, als
Getränk einen im Hause fabricirten sehr scharfen Pflaumengeist
(Slivowitz) zu trinken, was er auch nach eigenem Zugeständniss
öfters über das Maass that. Seit der Zeit datiren sich seine
Magenbeschwerden. Auch nachdem er wieder auf geordnete Kost
. kam, war er nicht mehr im Stande, sie zu ertragen und mnsste,
um sich dieselbe selber auswählen zu können, seinen Posten in
Belgrad aufgeben und als Gärtnergehilfe in Wien einen Dienst
antreten. Nach mannigfachem Zu- und Abnehmen des Leidens
verschlimmerte sich sein Zustand in der letzten Zeit so, dass er
nicht im Stande war, von gewöhnlicher Kost sich zu nähren, und
nur flüssige Speisen ^ Milch, l^uppe zu sich nahm. Seit Herbst
1885 leide er an Aufstossen einer wasserklaren Flüssigkeit. Im
Jahre 1886 (Frühjahr) trat häufiges Erbrechen auf ohne Gallen-
beimengung. September 1886 trat „Blutspucken^ auf, das Blut
war hellroth; im Sophienspital wurde das Blatauswerfen mit
Pulvern gestillt und trat niemals mehr auf. Seit Februar 1887
muss er auf künstliche Stuhlentleerung bedacht sein. Als er sich
vorstellte, fand man einen bedeutend abgemagerten Mann von
40 Jahren von ziemlich gesunder, gebräunter Gesichtsfarbe, seine
Musculatur schlaff, das Unterhautzellgewebe vollständig fettlos.
Brustorgane normal, Bauch eingezogen, in der Gegend zwischen
dem Nabel und dem Schwertfortsatz ein querer, höckeriger Tumor
tastbar, welcher etwas nach links von der Mittellinie begann und
wurstförmig bis an die Lebergrenze nach rechts hinüber reichte.
Dieser Tumor allseitig beweglich, nicht schmerzhaft; nach abwärts
von ihm ein zeitweise tastbarer, zu anderen Zeiten undeutlich
tastbarer Tumor von der Ausdehnung von ungefähr 8 Centimeter
in der Quere, an demselben beim Kneten des Bauches Gurren
nachweisbar. Man deutete den Tumor als einen Krebs der grossen
(82)
lieber JeJTinostoinie oder die Anlage einer Emähningsflstel etc. 571
Curvatnr des Magens und des Pylonis mit Uebergreifen desselben
anf das Colon transversnm, eventuell das Netz. Im Bauche ausser-
dem eine massige Menge aseitischer Flüssigkeit nachweisbar. Bei
Eingiessen von kohlensäurehältigem Wasser in den Magen und
desgleichen in^s Rectum lässt sich nachweisen, dass der erste
Tumor unzweifelhaft dem Magen angehört, der zweite wird aber
bei der Füllung des Colon transversum vom Mastdarm aus etwas
undeutlicher. Im Magen keine Salzsäure während der Verdauung
nachweisbar. Da der Kranke, abgerechnet seine Abmagerung,
sonst eine gute Constitution zeigt, entschloss man sich, den für
diesen Fall zu wählenden Eingriff von einem Probeeinschnitt
abhängig zu machen und je nach dem Befunde entweder die
Radicalexstirpation des Krebses, u. z. eventuell in der Weise
vorzunehmen, dass beide nach der Exstirpation zurückbleibenden
Lumina des Magens und des' Duodenums zugenäht, versenkt
würden und eine Gastroenterostomie ausgeführt würde, oder beide
Lumina in die vordere Bauchwand einzunähen, oder im schlimm-
sten Falle eine Emährungsfistel im Dünndarm anzulegen. Bei der
Operation am 15. Juni 1887 wurde ein querer Einschnitt durch
die Bauchdecke von ungefähr 10 Cm. Länge über dem Magen-
tumor gemacht, wobei man sich überzeugen konnte, dass der
Magen bedeutend (bis auf das Dünndarmcaliber) geschrumpft war,
der Tumor die ganze grosse Curvatur befallen hatte, dass die
Neubildung auch bereits vom Mesocolon auf das Colon trans-
versum anfing zu übergreifen, beides knapp an die grosse Cur-
vatur heranziehend, den grössten Theil der Peripherie des Colon
jedoch noch freilassend. Bei der Incision entleert sich aus dem
Bauche eine ziemliche Quantität einer leicht blutig gefärbten,
dünnen Flüssigkeit.
Da man sich überzeugte, dass der Radicaleingriff in Hinweg-
nahme der erkrankten Theile des Magens, des qaeren Grimm-
darmes, des grossen Netzes bestehen müsste, mau aber einen
solchen Eingriff für zwecklos hielt, so begnügte man sich, mit
Rücksicht auf die Prognose derartig complicirter Fälle , mit der
Anlegung einer Dünndarmfistel. In der Höhe des Nabels wurde
von der Linea mamillaris bis zum Rippenbogen ein zweiter querer
Einschnitt in die Bauchhöhle gemacht. Nach Eröffiiung derselben
Med. Jahrbücher. 1887. ^g (38)
572 May dl.
stellte sich sofort das linke Ende des s'chrumpfendea Netztamors
in die Wunde ein, welches aber mit der Banchwand nicht ver-
wachsen, nach oben gedrängt nnd die Milzflexnr des Grinun-
darmes zar Ansicht gebracht wurde. Die nun sich einstellende
nächste Diinndarmschlinge wurde gefasst und man probirte, an
den Schenkeln anziehend, ob man nicht zu einer Stelle kommt,
welche fixirt und nicht mehr gegen die Oberfläche gezogen wer-
- den kann. Dies gelang thatsächlich nach dem Abtasten des oberen
linken Schlingenschenkels , welchen man also nach dem Rathe
Surmay^s für eine oberste Jejunenschlinge hielt. Eine directe
Ueberzengung von der Richtigkeit der Annahme unterliess man
in diesem Falle. Da man nun glaubte, eine oberste jejunale
Schlinge vor sich zu haben, so nähte man sie, wie in dem vorigen
Falle , in die Wunde ein , und versorgte die Wunde mit einem
Sublimatverband. Der Verlauf war ein fieberloser, die Wunde
granulirte in 4 Tagen lebhaft, jene des Probeeinschnittes war
per primam geheilt. Der Patient wurde indessen mit Rectal-
clystieren genährt. Am 4. Tage wurde der Darm eröffnet mit
dem spitzen Brenner vonPaquelin, ein Drainrohr in die Fistel
eingeführt und die Fütterung von da vorgenommen. Trotz des
Eingiessens von zweimal täglich Vj^ Liter Milch, 2 Eiern, ^U Liter
weissen Wein und 20 Grm. Pepton hob sich die Ernährung des
Patienten durchaus nicht. Er vertrug auch nichts, besonders
in den ersten Tagen per os zu nehmen. Insbesondere widerstand
ihm der Genuss von Milch, der ihm in kleinen Quantitäten ge-
stattet wurde. In der Nacht vom 8. auf den 9. Tag nach der
Operation starb der Kranke unter zunehmenden Zeichen einer
mangelhaften Ernährung. Die Tags darauf vorgenommene par-
tielle Section wies nach, dass keine Peritonitis vorhanden war,
dass die Wunde des Probeeinschnittes vollständig geheilt war
und jene der Jejunostomie ebenfalls eine feste Anlegung des Dai^
mes an die vordere Bauchwand zeigte. Letztere wurde excidirt
behufs mikroskopischer Untersuchung. Bei dem Sectionsbefhnde
stellte sich weiter heraus, dass die Omentaldrüsen zu Haselnuss-
grösse geschwellt waren und die Dünndarmfistel an einer
Stelle des Darmes angelegt worden war, welche ungefähr
in der Mitte zwischen Anfang des Jejunums und Ende des Ileums
(34)
üeber Jejnnostomie oder die Anlage einer Emähnmgsflstel etc. 573
lag. Abgesehen also von dem ursprünglichen Leiden des Patienten
wäre mnthmasslicher Weise diese Emähnmgsfistel insofern als
unzulänglich zu betrachten, als durch sie den eingeführten Nahrungs-
mitteln nicht der ganze, sondern nur die Hälfte des Dilnndarmes
zugänglich gemacht worden wäre. Es würde sich demnach in
den künftigen Fällen empfehlen, die Stelle, wo die Fistel anzu-
legen sei, nicht nach der obigen von Surmay empfohlenen Weise,
sondern, wie in dem ersten Falle, durch directe Inspection fest-
zustellen.
Durch diese eben berichteten Beobachtungen ist der un-
zweifelhafte Beweis für etwas erbracht worden, was früher auch
bei der besten thierexperimentellen Fundirung des in Frage
stehenden Eingriffes und nach den bisherigen Beobachtungen am
Menschen noch immer sehr fraglich war, nämlich:
1. Dass der Eingriff ein derartiger ist, dass er in sich keine
dringende Todesgefahr involvirt.
2. Dass derselbe auch von Menschen, welche von einem
sonst tödtlichen Leiden, wie die Carcinose ist, behaftet sind, gut
vertragen wird.
3. Dass daher Menschen, welche mit einer anderen, als
von einer malignen Neubildung herrührenden, Pylorusstenose
behaftet sind, um so bessere Chancen haben, den an und flir
sich recht eiufachen Eingriff zu überleben.
Nach einer anderen Richtung ergibt sich aus den her-
gebrachten Beobachtungen:
1. Dass von einer hoch angelegten Jejunalfistel ganz gut
die Ernährung eines Organismus stattfinden k((nne, denmach die
Uebertragung der thierexperimentellen Erfahrungen auf den Men-
schen statthaft ist.
2. Dass eine solche Ernährung auch bei Individuen genüge,
welche von einem tiefen Allgemeinleiden, wie es die Carcinose
ist, heimgesucht sind ; diese Erfahrung ist um so werthvoUer, als
die Angaben von van derVelden, wiewohl von mancher Seite
angezweifelt, mit einigem Rechte vermuthen lassen, dass bei der
eben genannten Erkrankung auch die Zusammensetzung der Ver-
dauungsflttssigkeiten eine tiefgreifende Aenderung erleiden kann.
Unsere Beobachtung zeigt aber, dass, wenn eine solche auch
45* C»6)
574 Maydl.
vorhanden wäre, sie jedenfalls nicht so schwer ist, am die Er-
nähniDg von einer Jejunostomie aus nnmöglich, weil angenügend,
zn machen.
Ans Allem ergibt sich daher
ä. dass Menschen, deren Pylorusstenose mehr eine locale
Erkrankung (von Narben oder äusserer Compressiou herrührend)
darstellt, um so gerechtfertigtere Anwartschaft haben, von dem
abgehandelten operativen Eingriffe eine weitgehende palliative
ja nahezu radicale Hilfe zu erwarten, ohne sich in nennenswertbe
Gefahren zu begeben.
IV. Capitel.
Indicaüonen zur Jejonostoniie.
Eine wie immer geartete Stenose des Verdauungstractus bis
zur AusmUndung des Duodenums in^s Jejunum kann eine Indication
zur Jejunostomie abgeben, sofern sie nicht anders beseitigt werden
kann. Eigentliche strenge Indication sind zwar die Stenosen
zwischen Magen und Jegunum, da bei höher gelegenen Stenosen
meist eine Magenfistel genügende Abhilfe schaffen kann, aber
e^ gibt Fälle, wo trotz hoch gelegenen Hindeiiiisses eine Gastro-
stomie nicht ausführbar erscheint, oder wo sich mit einem höber
gelegenen Hinderniss ein solches am Pylorus combinirt. Einen
solchen Fall berichte ich in meiner Publication über Gastrostomie.
(Wiener med. Blätter, 1882, Nr. 15—19 und 21—23), anlässlicb
der Section von Fall 12. Da heisst es : Cardia durch eine Narbe, an
der die Magenschleimhaut absetzt, auf unter Gansfederdicke verengt,
der Magen so klein, dass er kaum ein Hühnerei zu fassen im
Stande ist, am Pylorusring die Schleimhaut vollständig fehlend,
derselbe in der Länge von über 1 Cm. fast in der ganzen Dicke,
seiner Wand in ein bei Va Cm. dickes Narbengewebe umgewandelt
und so verengt, dass höchstens eine dünne Sonde denselben passiren
kann. Der Magen zeigt in seiner ganzen Ausdehnung so zahb*eicbe
verzweigte Narbenstränge, dass die gewulstete und oberflächlich
leicht geröthete Schleimhaut ein fast mamellonirtes Ausseben
gewonnen hat, die Submucosa des Magens schwielig verdichtet,
allenthalben in Form weisser Stränge in die blasse atrophische
Musculatur greifend.
(S6)
üeber Jejunostomie oder die Anlage einer Ernährnngsflstel etc. 575
Einen nahezu gleichen Fall berichte ich in meiner zweiten
Pnblicaiion über Gastrostomie (Wiener med. Presse, 1883, Nr. 47
nnd 48), siehe Fall 2: Eine Strictar, kaum für die feinste Sonde
durchgängig , lag 3 Cm. unter dem Ringknorpel , eine 2. Strictur
an der Cardia ; der Pylorustheil des Magens verödet, geschrumpft,
stark verdickt, von Narben ttberkleidet, die in Form von Streifen
sich gegen die Gardia fortsetzen.
Beide Patientinnen haben in selbstmörderischer Absicht,
also energisch, Schwefelsäure getrunken, bei beiden war auch die
Gastrostomie wegen Retraction des Magens gegen die Cardia ver-
sucht und unausführbar befunden worden.
In meiner Publication über die Magenchirurgie der letzten
5 Jahre (Internat, klin. Rundschau, 1887) führe ich bei dem
Capitel Gastrostomie 3 Fälle, bei dem Capitel Magenresection
2 Fälle an, wo von der beabsichtigten Operation und auch jeder
anderen abgestanden werden musste wegen carcinomatöser Infil-
tration der ganzen vorderen Magenwand.
Ist es nicht ohne Möglichkeit eines Widerspruchs klar,
dass eine Jejunostomie bei den erst angefahrten 2 Fällen lebens-
rettend, bei den letzt citirten wenigstens lebensverlängernd hätte
wirken müssen, während der Chirurg den Fällen damals ohnmächtig
gegenüberstand ?
Abgesehen von diesen Fällen, liegt die Hauptaufgabe der
Jejunostomie doch vor Allem in der Umgehung eines auf der
Strecke zwischen Magen und Jejunum gelegenen Hindernisses;
dieses kann in der Entwicklung eines Carcinoms, einer Narbe,
einer Compressionsstenose oder Verstopfung der Lichtung durch
Fremdkörper von aussen entweder am Pylorus oder im Verlaufe
des Duodenums bestehen.
Allerdings gibt es heutzutage zur Bekämpfung dieser
Zustände auch andere und gründlichere Eingriffe und diese mögen
auch angewendet werden, insoweit ihre Ausführung für möglich
gehalten wird ; es sind damit, ausser der Dorchtrennung von ein-
schnürenden Strängen, wie ein von v. Hacker am 17. November
1887 in der Gesellschaft der Aerzte in Wien vorgestellter Fall
ein solches Beispiel repräsentirt, die radicalen theilweisen wand-
ständigen und circulären Resectionen des Magens gemeint.
(87)
676 Maydl.
Diese unterliegen einer verschiedenen Beortheilang je nach-
dem sie wegen Narbe oder Carcinom ansgeflihrt werden soUen.
Ist Narbenstrictor Veranlassung za denselben, dann möge, wenn
irgend möglich, die Radicaloperation versucht werden. Bei hierzu
ungeeigneten Fällen greife man zur Gastroenterostomie, da vom
Vorhandensein derselben bisher keine irgendwie beunruhigend^i
Nachtheile gemeldet werden, es auch wünschenswerth erscheint,
einen Patienten, der bei gelungener Operation eine normale Existenz-
dauer zu erwarten hat, nicht mit einem irreparablen, wenn auch
nicht gar schweren Defect zu behaften; man hat gleichsKeitig
dadurch auch der Ernährung des Kranken einen abwechslnnga-
reichen Spielraum geschaffen. Geht auch dies nicht an, wegen
irgendwelcher Umstände, dann wäre immer noch der Vorschlag
8 c h e d e^s, eine Gastrostomie anzulegen und von da die allmälige
Dilatation der Narbenstenose zn versuchen, oder der Vorgang
Heineke^s, die Strictur der Länge nach einzuschneiden und den
Schnitt in querer Richtung zu nähen, zu berücksichtigen. Erst
wenn alle diese Eingriffe nicht ausführbar sind, greife man zur
Jejunostomie , wie z. B. in den Eingangs dieses Capitels citirten
2 Beobachtungen.
Anders beim Carcinom:
Es sind allerdings die meisten Beobachtungen von Pyloms-
excision wegen Carcinom ganz darnach angethan, uns von unserer
Leistungsfähigkeit dieser Krankheit gegenüber keine besondere
Meinung beizubringen, denn wenn auch, vne jüngst am XVI. Cour
gross der deutschen Gesellschaft für Chirurgie, einige wenige Fälle
gemeldet wurden, wo das Recidiv bis nach 3j ähriger Beobachtung
nicht eintrat, so beweisen Fälle wie jener Wölfler's und
Rydygier^s, dass ein solches auch nach Jahren trotzdem ent-
stehen könne. Doch wenn auch der Werth der Operation als
Radicaleingriff bestritten werden kann, so muss derselben angesichts
der mehrfach gemeldeten jahrelangen Pausen in der localen Ent-
wicklung des Leidens, ja des gänzlichen Ausbleibens derselben
an der früheren Stelle eine bedeutende Leistungsfähigkeit zum
Mindesten als Palliativeingriff zugesprochen werden, insofern die
einfacheren Fälle für die Operation ausgesucht werden. Denn da
die hohe Mortalität unmittelbar nach dem Eingriff aller Wahr-
(88)
Ueber JejanoBtoinie oder die Anlage einer Emähnmgsfistel etc. 577
scheinlichkeit nach auf Rechnung der complicirten Fälle zu schrei-
ben ist, so würden ganz gewiss die temporären, länger dauernden
Heilungen und vielleicht einmal auch eine Dauerheilung in der
Kategorie der sogenannten uncomplicirten Fälle zu suchen sein.
Für diese reservire man daher die radicalen Heilversuche. Anderer-
seits ist es durch die bisherigen Erfahrungen geboten, dass man
die complicirten Fälle angesichts der eben angefahrten Umstände
— hohe Moiialität, Unwahrscheinlichkeit selbst einer längeren
Pause, sowie die Wahrscheinlichkeit eines abermals stenosirenden
Localrecidivs — überhaupt nicht mehr einem operativen Versuche
eine Radicalheilung durch Excision unterziehe.
Es würde sich nun darum handeln, da andere Eingriffe in
solchen Fällen nicht in Frage kommen, ob solche Fälle eher der
Gastroenterostomie oder der Jejunostomie zugewiesen werden sollen.
Im Allgemeinen dürfte sich der Patient, dem man die Wahl
zwischen beiden Eingriffen überlassen würde, nach Schilderung
derselben, zweifelsohne ftir die einfache, nahezu gefahrlose der
Jejunostomie entscheiden. Die „wissende" Umgebung, besonders
die medicinischen Rathgeber ausser dem Hospital, dürften auch
der einfachen Fistelanlegung den Vorzug geben. Die kleine, fiir
höchstens Monate berechnete Erleichterung, die Gewährung der
psychischen Beruhigung für den Patienten^ der die Gefahr des
Verhangems von sich abgewendet erblicken soll, dies Alles wird
durch die einfache Anlage einer Jejunostomie erreicht. Endlich
ist dieser ein geringes Instrumentarium und eine geringere
technische Fertigkeit, sowie die weniger zahlreiche, kaum
besonders geschulte Assistenz erforderliche Eingriff auch den
weitesten Kreisen zugänglich. Eine einmalige Einübung in cadavere
macht alle wissenswerthen Details gewiss vollständig geläufig.
Demgemäss dürfte zur Anlegung der Jejunostomie eine genügend
wiederkehrende Gelegenheit geboten werden, die man auch eher
dem Patienten wird empfehlen können trotz seines meist gewiss
herabgekommenen Emährungs- und Kräftezustandes als die fiir
ebensolche Fälle sicherlich höchst bedenkliche Gastroenterostomie.
Diese Operation birgt in ihrer langen Dauer, dem complicirten
Verfahren, der Nothwendigkeit einer protrahirten Narcose und
der Möglichkeit einer Störung der Darmcirculation , wie sie dem
(N)
W ö 1 f I e r'flchen Verfahren innewohnt , ebensoviele das Leben
bedrohende Umstände.
Dem entgegen scheint der Einwand einiger englischer Antoren,
der offene RUckflnes des gallehältigen DanDiDhaltea könne für die
Hagenfnnctionen nicht gleichgiltig sein, nicbt bcHODderä Mticbhältig
zn sein. ErstenB stutzen denselben keine hierauf zn beziehenden
nnangenebmen Symptome während des Lebens der gastroentero-
stomirten Patienten, zweitens sprechen dagegen Experimente,
die direet zar Eotecheidung dieser Frage angestellt wurden. —
Nach früheren Ansichten soll die Galle der pepti.schen Vcrdanaog
abträglich sein, and zwar entweder deshalb, weil ^ie nach Lussana
die Aeidität des Magensaftes nentralisirt, oder weil sie nach B o k-
hart das Pepsin ausfällt, oder weil sie nach Uammcrsten das
Eiweiss schwerer angreifbar macht. Oddi in Perugia injicirle
nun einem Hunde Ochsengalle in verycliietlenen Quantitäten
während oder in verschiedener Zeit nach der Verdauung (bis zu
272 Com. durch mehrere Tage hindurch). Das Thier hatte keine
Verdaunngsbeschwerden , nabm im Gegeutlieil au Kürpergewicht
zn. Oddi legte nnn eine Fistel zwischen Gallenblase und Magen
an ; die Thiere wurden ungemein gefrässig und nahmen an Gewicht
zu. Der mit der Magensonde herausgeholte Magensaft war stets
sauer. Die VerdannngsprodBcte des Magens enthielteu sehr grosse
Mengen von Peptonen.
Nach Anlage einer Jejunostomie trätet der Patient allerdin^
einen Defect an sich, der jedoch dem Zwecke gegeutilier, der die
Operation erreichen soll , hanm in die Wagschale fallen dürfte,
der auch ziemlich leicht zn beherrschen ist. lieber den Werth
des Schede'schen Vorschlages (Gastrostomie mit Dilatation der
Stenose von der Magenüstel ans) kann nicht gcurtheilt werden,
da ansser einem Fall, in dem der Patient an der Operation starb,
keine weiteren Erfahrungen vorliegen. Treadclenbnrg bestätigte
die Ausführbarkeit dieser Operation an einem wegen anderweitiger
Ursache gastrostomirten Patienten.
Ebenso kann Über Loretta's Operation keine endgiltige
Schätzung vorgenommen werden, da Über seine Methode [eintnalige
Dilatation der Stenose von einer Gastrotomiewunde) nur längere
Ueber Jejanostomie oder die Anlage einer Emähnmgsfistel etc. 579
Beobachtang entscheiden kann, durch welche das Nichteintreten
einer Recidive constatirt würde.
Die Qnersntur einer der Länge nach incidirten Stenose nach
Heineke ist zweifelsohne flir geeignet« Fälle ein leistungs-
fähiger Eingriff und würde selbstverständlich alle anderen
Operationen, daher auch die Jejunostomie, überflüssig machen.
Wir sehen daher mit grossem Interesse der Publication einschlägiger
Fälle entgegen. Ein in gleicher Weise von Mikulicz operirter
Fall (Bericht über den XVI. Congress der deutschen Gesellschaft
für Chirurgie, 1887) starb am 3. Tage an CoUaps; der momentane
functionelle Erfolg war aber eclatant.
Nach Allem im Vorhergehenden Gesagten wird demnach eine
Jejunostomie im Ganzen eine ziemlich seltene Operation sein ; sie
wird selten sein als Eingriff, zu dem man nach Ausschluss anderer
radicaler Operationen sich endlich wird gedrängt sehen ; sie kann
häufiger als Ersatz geübt werden für Eingriffe, welche zwar
gründlicher das ursächliche Leiden beseitigen würden, welche
aber wegen ihrer Schwere, sie vorzunehmen, der herabgekommene
Zustand der Patienten, die unsere Hilfe suchen, verbietet.
Dass sich je ein Internist entschliessen wird, bei lang-
dauernden catarrhalischen, ulcerösen oder sonstigen, z. B. nervösen
Störungen, eine Jejunostomie zu empfehlen, behufs mechanischer
oder functioneller Ruhigstellung des Magens, dies würde ich
beinahe bezweifeln; es hängt Alles von der Meinung ab, die er
von der Leistungsfähigkeit seiner sonstigen Therapie hegt. Im
Allgemeinen sind ja auch thatsächlich viele der im Obigen
berührten Affectionen einer unblutigen Behandlung mit rascherem
oder zögenidem Erfolge zugänglich.
V. Capitel.
Die Teohnik der Operation der Jejanostomie.
Wir haben in den aus der Literatur gesammelten Fällen von
Duodenostomie die hierbei beobachtete Technik des Genaueren
beschrieben. Wenn es auch, wie aus einem Falle hervorgeht,
ab und zu ausführbar erscheint, bei einer Pylorusstenose ein
Stück des Duodenums von vom noch zu erreichen, bevor das-
selbe gegen die hintere Bauchwand in die Tiefe verschwindet,
(41)
680 Maydl.
80 dürfte diese Operation kanm als Typns einer Emährungsfistel
unterhalb des Pylorus angesehen werden. Für Carcinome ist es
Überhaupt nicht gerathen, in der unmittelbarsten Nachbarschaft
die Fistel anzulegen, da ein Fortwuchern der Neubildung die
Fistel wieder, und zwar ehestens, verlegen könnte. Bei Narben
aber würde das Vorhandensein einer, den Pylorus gegen die
Nachbarorgane fixirenden Adhäsion — die ja einen radicalen
Eingriff contraindiciren muss — die Anlegung einer Duodenostomie
ebenso vereiteln, wie narbige Schrumpfung des Magens die Anlegung
einer Magenfistel nahezu unmöglich macht. Ueberdies werden die
Fälle, in denen das Anfangsstück des oberen horizontalen Duo-
denumstückes zugänglich bleibt, zu den Ausnahmen gehören.
Den übrigen Verlauf des Duodenums zur Anlage einer Er-
nährungsfistel zu wählen, wird Niemandem einfallen, der die
Zugänglichkeit desselben mit jenen des Anfangsstttcks des Jejunnms
vergleicht.
Wir verdanken W. Braune(^*) eine in dieser Beziehung
werthvoUe Arbeit über die operative Erreichbarkeit des Duodenums.
Nach demselben ist der obere Theil des Duodenums so beweg-
lich an seinem Mesenterium aufgehängt, dass er (von rückwärts)
ohne Verletzung des Bauchfells nicht erreichbar ist. Der hori-
zontale liegt vollständig hinter dem Bauchfellsack und wird von
Wirbelsäule, Aorta, V. cava gekreuzt und gedeckt. Wollte man
dem Duodenum beikommen, so müsste man sich an die Pars
verticalis halten. Diese steigt neben der V. cava, M. psoas herab,
begrenzt nach aussen von der Flexura coli dextra, und die rechte
Niere, welche mit ihren 6efassen so gelegen ist, dass sie die
obere Krümmung des Duodenums, sowie ein Stück des verticalen
Theiles bedeckt (von rückwärts). Um zu dem verticalen Theile
des Duodenums zu kommen, muss man bei Bauchlage des Ca-
davers auf der rechten Seite des Rückens einen Längsschnitt von
der Gegend des hinteren oberen Darmbeinstachels bis über die
12. Rippe hinauf machen, etwa 5 Cm. nach aussen von der
Mittellinie ; man durchschneidet dann den Latissimus dorsi, Serratus
post. inf. und legt nach Durchschneidung der Fascie das Muskel-
fleisch des Sacro lumbalis in der ganzen Länge der Wunde bloss.
Bei nicht zu stark entwickelter Musculatur kann- dieser Muskel
(42)
lieber Jejimostoiiiie oder die Anlage einer Emährangsfistel etc. 581
vollständig geschont werden. Man drängt ihn nach der Mittel-
linie nnd schneidet das sehnige Blatt in der ganzen Länge der
Wnnde ein, welches sich unter diesem Mnskel an die Proc. trans-
yersi ansetzt, nnd ihn von dem damnter liegenden Qaadrat.
Inmbomm trennt ; dieser, welcher den Sacro Inmbalis seitlich über-
ragt, wird der ganzen Länge nach eingeschnitten. Dann macht
man nnter Annähemng an die Wirbelsäule den unteren Rand
der rechten Niere frei und arbeitet nun mit stumpfen Instrumenten
durch die Fascia transversa hindurch nach dem Aussenrande des
Psoas. Der 12. Intercostalnerv mit der entsprechenden Arterie,
sowie der Iliohypogastricus werden quer durchschnitten, die Gte-
fasse müssen sorgßlltig unterbunden werden, um eine reine Wunde
zu erhalten; nach innen erscheint nun der Ureter, mitunter die
Vena cava inf. , welche beide nach innen zu gedrängt werden;
die Niere wird scharf nach innen gedrückt, so dass man nicht
in das Gebiet der Nierengefässe gelangt. Jetzt treibt sich bei
starker Erfüllung der Bauchhöhle oder bei starkem Druck gegen
die Abdominaldecke das Peritoneum als ein Längswulst an der
Aussenseite des senkrechten Duodenalstückes vor und lässt auf
der medialen Seite das Duodenum um so deutlicher erkennen, je
sorgfaltiger die Bindegewebsschicht mittels zwei Pincetten von
demselben abgezogen wird, so dass man endlich einen etwa 2"
langen Längsschnitt in die hintere Wand des Duodenums aus-
führen kann.
Wohl entspringt dieser Vorschlag, wie jener, der lumbalen
Colotomie Amussat's der Furcht vor der Eröffnung des Peri-
toneums, wie man sie in der vorantiseptischen Zeit gehegt hat,
und es wäre zweifellos, möglich, das Duodenum von vorne auf
kürzerem Wege zu erreichen. Immerhin wäre aber bei der retro-
peritonealen Lage des grössten Theiles des Duodenums, sowie
bei der Verborgenheit desselben hinter der Leber, dem Colon
transvers. und den an dasselbe gehefteten Peritonealblättem des
Mesocolon und Netzes die Erreichung des Zwölffingerdarmes, aber
besonders die Anlage einer Duodenalbauchwandfistel, unverhältniss-
mässig complicirt gegen das Verfahren, welches bei der Anlage
einer Jejunostomie eingehalten werden muss.
(48)
582 May dl.
Schon von Snrmay (1. c.) ist ein Operationsvorschlag ge-
macht worden mit folgenden Worten: „Der Operateur steht aof
der rechten oder linken Seite des Patienten. Einen Centimeter
nach innen von dem vorderen Ende der 4. falschen Rippe (von
unten gezählt) macht man eine Incision von 5 — 6 Cm. , so dass
die Mitte des Schnittes dem vorderen Ende der 4. falschen Rippe
entspricht. Es wird dnrchtrennt: Haut, subcutanes Zellgewebe,
Fascia superficialis, Obliquus maj., Aponeurosis, die 2. Muskel-
schichte des Transversus ; dann kommt man auf die Fascia trans-
versa, eröffnet das Peritoneum und findet darunter meist das Netz,
dieses fUhrt man nach aussen und breitet es aus. Unter den
entblössten Därmen erkennt man leicht das Colon transvers. (an
der Richtung; weisser Farbe, Taenien, Haustris und seinem Zu-
sammenhang mit dem grossen Netz). Darunter liegen die Win-
dungen des Dünndarmes. Man führt nun zwischen Colon und Dünn-
darm einen Finger perpenticulär bis auf die Wirbelsäule , fühlt
das Pancreas, dessen linkes Ende und genau nach links davon,
als ob es eine Fortsetzung wäre, einen Darm, der quer vorläuft»
Diesen Darm zieht man mit gekrümmtem Finger nach aussen;
wenn es eine Schlinge ist, welche sich an einem Ende anziehen
lässt, mit dem anderen aber fixirt bleibt, so ist es das Jejunum
an seinem Ursprung. Lässt es sich aber an beiden Enden an-
ziehen, so ist es eine weiter entfernte Portion, und man muss
von Neuem suchen ; hat man endlich die Schlinge, so führt man
sie zwischen die Haut und fixirt sie daselbst mit einer genügen-
den Anzahl von Knopfnähten, eröffnet den Darm und fUhrt die
Nahrungsmittel ein."
Nahezu mit denselben Worten beschreibt Hahn(") den
Vorgang, den er sich nach seinen zahlreichen Versuchen an
Leichen für die Auffindung des Anfangs des Jejunums zurecht-
gelegt hat: „Nach ausgeführter Incision schlägt man das Netz
und Colon in die Höhe und nun sucht man mit Zeigefinger und
Daumen der rechten Hand den auf der Wirbelsäule liegenden
Theil des Pancreas auf, ergreift die Schlinge, die dicht unter
dem Pancreas von rechts nach links herübergeht und zieht die-
selbe an. Merkt man nun, dass die Schlinge dem Zuge nicht
(44)
Ueber Jejimostomie oder die Anlage einer Ernähmngsfistel etc. 583
folgt, SO kann man mit positiver Bestimmtheit annehmen, dass
man den Anfangstheil des Jejnnmns vor sich hat.^
Ich führte die Operation stets so aus : Vom lateralen Rande
des linken Rectos abdominis führte ich im Nabelnivean eine hori-
zontale Incision nach aussen, bis sie den linken Rippenbogen
traf; nach Durch trennung einer doppelten Muskelschichte wurde
Fascia transv. und Peritoneum gespalten, das Netz vorgezogen
und die lienale Flexur des Colon nach oben aussen abgehalten,
das Convolut der Dünndärme wurde in gleicher Weise nach innen
unten mit in eine aseptische Compresse gehüllter Hand abgezogen ;
dann sieht man aus dem Peritonealüberzng der hinteren Bauch-
wand einen Darm emportauchen, der natürlich beim Anziehen
nicht folgt. Dies ist das Anfangsstück des Jejunums; ich rathe
stets, sich durch Augenschein von den anatomischen Verhältnissen
zu überzeugen, und nicht behufs Entscheidung, ob es der Anfang
des Jejunums ist, blos auf das „ Zugmanoeuvre ^ zu recurriren,
da hierbei Täuschungen vorkommen könnten. Das erkannte
Jejunum wird vorgezogen und eine etwa 20 Cm. vom Ursprung
entfernte Stelle zum Einnähen bestimmt. Vorher aber reponire
man das Netz, damit Theile davon auf der eingenähten Schlinge
nicht „reiten"^. Das Lnplantiren der Schlinge nach aussen vom
linken Netzrand, und zwar in eine im Nabelniveau liegende In-
cision, verhindert auch, dass das am Mesocolon transversum auf-
gehängte Colon transv. auf der implantirten Schlinge lastet und
sowohl die feste Anwachsung am oberen Rande hindert, als durch
die eingenähte Schlinge geknickt wird, wie es bei Gastroentero-
stomien ab und zu beobachtet oder vermuthet wurde. Das Im-
plantiren in eine höher gelegene Incision halte ich also nicht für
angezeigt. Eine kreuzerstückgrosse Stelle des Jejunums wird mit
feinsten (etwa 16 — 18) Seidenknopfnähten an die Serosa parie-
talis fixirt, in die Nähte kann man behufs besserer Stütze der
Nähte den Rand der Fascia transversa mitfassen, da manchmal
das atrophirte Peritoneum durch die feinen Nähte leicht einge-
schnitten wird. Die übrige Wunde in der vorderen Bauchwand
wird genäht, ohne ein Drainrohr in die Bauchhöhle einzufuhren,
durch dessen Canal leicht eine Infection der Abdominalhöhle
durch den Darminhalt geschehen könnte; in einem der beob-
(45)
584 Maydl.
achteten Fälle war der tödtliche AuBgang dadurch bedingt, dass
man die Nahrungsmittel in die freie Bauchhöhle einspritzte; die
nach Entfernung des Drains zurückbleibende Fistel kann sehr
leicht mit der Darmfistel verwechselt werden, und die Einflössimg
der Nahrungsmittel an unrechter Stelle geschehen.
Wenn der Zustand des Patienten nicht bedrohlich erscheint,
so lasse man die Wunde granuliren und eröfihe den Darm am
4. — 5. Tage mit dem Paquelin. Hierzu sind aber einige Vor-
bereitungen noth wendig. 1. Muss die Stelle, wo man die Eröffiinng
vornehmen will, bei der Operation genauer, durch 2 oder 3 Seiden-
nähte, markirt werden und 2. muss die Stelle zugänglich erhalten
werden. Zwischen die, die zukünftige Eröffiiungsstelle mar-
kirenden Seidennähte legt man zu diesem Zwecke ein Röllchen
antiseptischer Gaze und knüpft jene leicht über dieser; dieser
Raum wird demnach von den manchmal in 4 — 5 Tagen üppig
aufschiessenden Granulationen nicht ausgefüllt und bleibt leicht
erreichbar.
Ist der Zustand des Patienten besorgnisserregend, so eröfinet
man, nach gehörigem Abschluss der Bauchhöhle, den Darm sofort.
Damit keine Infection geschehe, so pinsle man die Wunde zuvor
mit JodoformcoUodium aus, welches dann eine schützende Decke
gegen die sich entleerenden Verdauungsflüssigkeiten abgibt.
Zur Eröffnung verwende man den spitzen Brenner des
Paqueli naschen Thermocauters und mache die Oeffhung nur
eben so gross, dass ein ganz dünnes Drainrohr in den Darm
eingeführt werden könne, da aus grösseren Oeflhungen neben
dem verstopfenden Rohre Verdauungsflüssigkeiten abfliessen und
die Schleimhaut leicht prolabirt und das Ueberfliessen der Yer-
dauungsflüssigkeit (Galle, Pancreassaft) in den unteren Darm-
abschnitt verhindert. Die Verdauungsflüssigkeiten ätzen leicht
die Haut auf, welche demnach mit einem schützenden Fettüber-
zug gedeckt werden soll.
Nach der Operation stelle man die Darmperistaltik durch
Opium ruhig, damit die Anwachsung rasch und lückenlos erfolge.
Bis zur Eröfliiung lasse man strenge Diät halten ; per os gestatte
man nur so viel Flüssigkeitsgenuss , dass der Durst gelöscht
werde. Sonst helfe man der einstweiligen Ernährung durch
(46)
lieber Jejanostomie oder diB Anlage einer Emährungefistel etc. 585
Mastdarmclystiere nach, die man 2 — 3 täglich appliciren lässt.
Nach der Eröffnung gestatte man den, wenn auch geringen
Genass flüesiger Nahmngsmittel per os, wenn sie vertragen
werden, da der, wenn selbst in geringen Quantitäten iiberfliessende
Magensaft sehr gute Verwendung iSndet. Macht der Speisengenuss
aber Beschwerden, dann lasse man ihn aus. Irgendwie grössere
Flüfisigkeitsmengen « per os genossen, machen sich sehr unange-
nehm fühlbar, da sie die Menge der zurückzuhaltenden Ver-
danungsflüssigkeiten ungebührlich vermehren. Entsprechend dem
Wegfall der mechanischen und chemischen Magenarbeit muss
man die Speisen selbstverständlich in gründlich verkleinertem
Zustande einführen und bezüglich des Eiweisses peptonisiren. Wir
haben mit gutem Erfolg das Kemmerich'sche und Rostocker
Pepton verwendet.
Die Mahlzeiten sind so einzurichten, dass eine reichlichere
Früh, eine ebensolche gegen 1 — 2 Uhr verabreicht wird, damit
die die Verdauung begleitende Peristaltik, welche Darminhalt an
die Fistelöffnung zurückbringen könnte, bis Abend abgelaufen sei,
und der am Abend erneuerte Verband nicht beschmutzt werde,
in dem dann der Kranke bis weni^tens Morgens verbleiben
müsste. Die Möglichkeit des Ausfliessens von Inhalt aus dem
abführenden Darmstück vermindert man, wenn man die Nahrungs-
mittel auf 15 — 20 Cm. tief mittelst eines Drainrohres einführt.
Während der Nacht bleibt der Verband trocken, wenn man
die Vorsicht gebraucht, auf die Nacht nur trockene Nahrungs-
mittel in den Darm einzufuhren, doch auch ohne diese Vorsicht
bleibt der Verband undurchfeuchtet , da die Peristaltik in der
Nacht sistirt (im Schlafe) und selbst bei offen gelassenen Fist^hi
nichts ausffiesst. Uebrigens kann man sich behufs Hintanhaltung
eines doch sich einstellenden Ausflusses von Verdauungsflüssig-
keiten aus dem zufahrenden, oder von flüssigem Darminhalt aus
dem abführenden Stück eines Verschlussapparates bedienen. Zu
diesem Zwecke und gleichzeitig zu jenem, die Entwicklung eines
Spornes, der das Ueberfliessen der Verdauungsflüssigkeiten ans
dem zuführenden in den abführenden Schenkel vollständig hin-
dern könnte, endlich behufs Verhinderung eines Schleimhaut-
vorfalles kann man sich eines folgendermassen construirten
(47)
iSb6
Maydl.
Apparates bedienen. Eb wird ein der Fistelweite entsprechendes
Drainrobr a mit einem seiner Enden in ein anderes (bj gekittet,
so dass ein T-fbrmiges Drainsystem entsteht. Das Rohr &, un-
gefähr 10 — 12 Cm. lang, trägt an seinen beiden Enden dünne
Kautschukballons, von ungefähr 5 Cm. Durchmesser (im auf-
geblasenen Zustande), wie ich sie auch nach Analogie des Magen-
fistelverschlusses zum Verschlasse der Colotomiefisteln mehrfach
verwendet habe. Diese Ballons können vom Drainrohr a, welches
in der Fistel liegt, mittelst eines grösseren Ballons (wie er za
Ohrluftdouchen verwendet wird) aufgeblasen werden und obturiren
das zu- und abführende Darmstück. Das Rohr a geht mitten
durch eine gepolsterte und mit einem impermeablen Stoff (B i 1 1-
roth's Batist, Kautschuk, Wachsleinwand) überzogene Pelotte,
welche um den Körper mittels 2 elastischer Bänder befestigt
wird. Eine in der Pelottenöffnung angebrachte Federvorrichtong
klemmt das Drainrohr a ab, damit die Ballons nicht zusammen-
fallen können und fixirt den Verschlussapparat gegen die am
Körper festsitzende Pelotte.
^1.
Der Apparat wird sehr leicht, die coUabirten Ballons je
einer in's zuführende und abführende Darmstück eingeschoben,
die parallel gestellten Eohrarme bb nachgeschoben, die Ballons
aufgeblasen und nun die Pelotte c über das Rohr a knapp an
den Körper herangeschoben und das Rohr a etwas gespannt ein-
geklemmt, dann endlich die Pelotte fixijt. Zeitweise muss man
den Apparat coUabiren lassen, damit sich die hinter den im zu-
führenden Stück steckenden Ballon ansammelnden Verdauungs-
flüssigkeiten in das abführende Stück überleeren können. Aller-
dings könnte, damit dies fortwährend geschehen könne, durch das
(48)
Ueber Jejanostoinie oder die Anlage einer Emähnrngsfistel etc. 587
Robr bb und die Ballons ein Rohr führen, welches das Ueber-
fliessen der Secrete ermöglichen würde. Dieses Rohr müsste
natürlich in den Darm beiderseits offen münden.
In meinem Falle genügte allerdings schon eine Pelotte mit
einem soliden Zapfen, der einen Wattetampon gegen die Fistel presste.
Im Vorstehenden habe ich alles Wissenswerthe über die
Jejnnostomie zusammengefasst und will alles dies der Nachprüfdng
durch FachcoUegen unterbreiten. Ein einziger Erfolg bürgert
allerdings einen seltenen Eingriff noch nicht ein, und so will ich
der Meldung von gleichen Eingriffen entgegensehen, um auf
breiterer Basis ein günstiges, sollte es aber die unbefangene
Beobachtung erheischen, auch ein absprechendes Urtheil über die
im Vorstehenden besprochene Operation zu fällen. Ich wäre den
betreffenden Herren Collegen zu Dank verpflichtet, wenn sie mir
etwa vorkommende Beobachtungen mittheilen wollten ; ich würde,
wenn eine grössere Zahl solcher vorläge, hierüber einen Bericht
erscheinen lassen, der das endgiltige Urtheil ermöglichen würde*
Literaturverzeichniss.
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1878, pag. 445.
2. Langenbncli, Bericht über d. Congress d. dentscli. G^esellsch. f. CMr. 1880.
3. Sontham, British med. Jonmal. 1884, pag. 1146.
4. Robertson, British med. Jonmal. 1885, Febr. 21.
5. Golding Bird, Clinical sodety of London, Lancet, Dec. 5. 1885. Daselbst
anch
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Physiol. (Dn Bois-Beymond.) 1883, pag. 89.
8. Tappeiner nnd Anrep, Arch. f. Anat. und Physiol. 1881, pag. 504.
9. Hess, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 40. Bd., I.Heft., pag. 93, 1886.
10. Bnsch, Beitrag znr Physiologie der Yerdannngsorgane. Yirchow's Arch.
14. Bd., pag. 140.
11. Demant, Yirchow's Arch. Bd. 75, pag. 419.
12. Oddi, üeber die Wirkung der Galle auf die Magenverdauung etc. (ital.).
Peragia Y. Santucd 1887.
13. Braune, Archiv der HeUk. 17. Jahrg., 1876, pag. 315.
14. Hahn, Bericht über den XYT. Congress der deutj^ch. Ges. für Chimrgie.
.* ''
•s»^
Med. Jahrbücher. 1887, 4Q (49)
XXV.
Notiz zur Neryenfärbung.
Von
Dr. J. Pal.
(Aus dem Institute (llr elliem. u. experlm. Patlioloile der Wiener UnivereltiL)
(Von der Redaction am 14. October 1887 übernommen.)
Im letzten Hefte des Jahrganges 1886 dieser Jahrbücher^)
habe ich über eine Modification der Weigert'schen Nerven-
färbung berichtet, als deren Vorzüge ich die Schärfe der Bilder,
die Möglichkeit der isolirten Zell- und Kemfärbnng und die Kürze
des Verfahrens hervorgehoben habe. Als einen nicht geringen
Vortheil meiner Methode mnss ich noch die vollständige Um-
gehung der Kupferimprägnation nennen.
Im Laufe des heurigen Jahres habe ich weitere Erfahrungen
über diese Färbung gesammelt und einzelne Details zum Vortheile
der Methode abgeändert.
Ich habe zwar angegeben, dass in beliebigen Chrom-
lösungen gehärtete Stücke zur Verwendung gelangen können,
doch ziehe ich gegenwärtig die aus Mülle r'scher Flüssigkeit vor.
Ein Haupterfordemiss ist, dass die Stücke in eben schnitt-
fähigem Zustande zur Präparation gelangen.
') Beitrag zur Nervenf&rbetechnik. Diese Jahrb. 1886, pag. 619, (Heft IX).
46* 0)
690 I^al.
Die Stücke werden ans Mttller'Bcber Fltissigkeit direet in
Wachs eingebettet und dann in Alkohol geschnitten, von wo sie
alsbald in die J^arbstofflösnng gebracht werden. Ich verwende
jetzt eine Vi^/o wässerige Hämatoxylinlösang , die heiss bereitet,
und der nach der Abkühlung etwas Alkohol zugesetzt wird. Diese
Lösung soll nicht alt, auch nicht im Sonnenlichte gestanden sein.
Ich setze das Lithion carbonicum nunmehr der Lösung, nicht wie
früher, unmittelbar nach ihrer Bereitung zu, weil sie in letzterem Falle
rascher verdirbt und dann braun wird. Eine solche braune Lösung
liefert wenig haltbare Präparate, in welchen überdies die mark-
haltigen Fasern einen graulichen Ton zeigen. Der Zusatz erfolgt
deshalb erst unmittelbar bevor die Schnitte in den Farbstoff ge-
bracht werden. Durch das Lithion carb. wird die Lösung tief
violettroth. Ich nehme für 100 Ccm. 2 Ccm. einer gesättigten
Lithionlösung oder circa 3 — 4 Tropfen auf 10 Ccm. Hämatoxylin-
lösung.
Es genügt, wenn man die einem eben schnittfähigen Stücke
entstammenden dünnen Schnitte nur 5 — 6 Stunden (nicht 24 bis
48 wie früher angegeben) in einer solchen frischen Lösung be-
lässt. Die Schnitte werden dann in Wasser gewaschen, dem einige
Tropfen einer ges. Lithionlösung zugesetzt wurden. Dieser Zusatz
ist insbesondere für Schnitte erforderlich, die länger als sechs
Stunden im Hämatoxylin belassen wurden. Das Entfarbungsver-
fahren ist unverändert geblieben. Es wird das Präparat für 15 bis
20 Secunden in eine 1/4^/0 Lösung von Kalium hypermanganicum ')
gebracht und von hier in die Säuremischung (l'O Acid. oxalic.
+ 1-0 Kai. sulftirosum (KaSOs) : 200 Aqu. dest. kalt zu bereiten
und in wohlverschlossener Flasche aufzubewahren) bis zur voll-
ständigen Entfärbung des Zwischengewebes; eventuell ist diese
Procedur zu wiederholen. Die Schnitte werden nun gewaschen.
0 Lösungen des Kai. hypermang^ wnrden nach dem Bekanntwerden der
Carmintinction zur Färbung versucht. In solcher Eigenschaft fuhrt Stephany
das Kali hyp. an (Beitr. z. Histologie der Rinde d. gr. Gehirnes. Inaug.-Diss.
Dorpat 1860, pag. 13). Zur Entfärbung (von Bacillenpräparaten) wurde es von
Lustgarten (d. Jahrb. 18S5) eingeführt.
(2)
Notiz zur Nervenfärbnng. 591
Zar Nacbfarbung sei besonders Alarmcarmin ^) empfohlen.
Im Alanncarmin werden die markhaltigen Fasern hellblaa und
heben sich sehr seharf von den Zellen und den rothgefärbten Kernen
ab, überdies haben sieb diese Präparate als ausserordentlich dauer-
haft erwiesen. Will man die Zellen hervortreten lassen, so empfiehlt
sich eine kurze Färbung in Picrocarmin, der nur wenig ammonia-
kaiisch sein darf und nach Waschung Nachfärbung in Alauncarmin.
In jüngster Zeit ist von Paneth') die Verwendung des
Blauholzextractes (in l<>/o Lösung) als Surrogat für das theuere
Hämato^lin empfohlen worden und soll dasselbe nach Freud
auch für mein Färbungsverfahren geeignet sein.
^) 2*0 Carmin in 500 Ccm. einer 57o Alamüösnng dnrcli 20—30 Hin.
gekocht und kalt filtrirt Biese L5snng färbt rascii nnd intensiv nach.
*) Zeitschr. f. wiss. Mikr. 1887. Bd. lY, pag. 213.
•Hi)H-
(3)
XXVI.
lieber zwei gesonderte Neryenbündel in dei
grauen Aie des menschlichen Rückenmarkes.
Dr. i. Pü.
(im in luUlBl llr illEen. ii- tm\a. PiHbIieIi der WInir ililisnltll)
(Ton der BedKctian am 14. OcUilwr 1887 flb«moiiimaii.J
Im letzten Frühjahre bio ich in den Besitz einiger StlU^e
des Rückenmarkes eines in Wien gehenkten Raabmßrders gtÜAogi.
welche schon circa drei Standen post mortem in Müller'Bctw
Flüssigkeit gebracht werden konnten. j
Znr Präparation benutzte ich meine vor Jahresfrist mit- ]
getheilte Methode ^) , die sich auch seither vorzüglich bewährt i
hat Ich habe im Lanfe dieses Jahres weitere Erfahrungen Eiber 1
die Färbung gemacht und bin durch diese in der Lage, die Fro-
cedni abermals abznkUrzen and die noch bestandenen Mangel in /
beheben. Ueber diese Angelegenheit wird an anderer Stelle*} j'
berichtet, hier sei nnr bemerkt, dass sich die so angefertigten
Präparate durch Schärfe der Zeichnang und Schönheit auszeichnen.
Bei der Untersucbang der Schnitte bin iüh auf zwei beson- \
dere, bisher nicht beschriebene Bündel gestoesen, die ich hier be-
sprechen will.
Das eine dieser Bündel habe ich im Uebergangstheile vom
Brust- in das Lendenmark gefanden. Es länfl aus dem Hinterhom
dem Vorderstrang zu, in welchen es sich einsenkt (a, Fig. 1)-
Dass Bündel aus dem Hinterhoroe direct in die vorderen
grauen Sänlen gelangen, ist bekannt. Diese Bündel geben Fasern
an die Tordere Commissur ab, ein Theil der Fasern zieht m
den Ganglienzellen der Vorderhümer, ein Tbeil, soll in äes i
') TidB pag. 619 d. J»hre. 1836 d. Jahrb. |
■) Hotis aar Ifer?enfArbiiiig, pag. 688 d. Jahib.
üeber zwei gesonderte Nervenbündel etc.
593
Torderen Abschnitt des Seitenstranges gelangen und schliesslich
ist von einem Theile behauptet worden, dass er sich direct den
vorderen Warzeb anschmiege nnd mit diesen das Bückenmark
verlasse. Das sind Fasern des sogenannten ReflQxbogens (S 1 1 1 1 i n g^).
Ueber eine Verbindung von Hinterwnrzelfasem mit dem
Yorderstrange fand ich nur bei Kölliker^) eine Beziehung auf
Glarke und bei Henle') auf Schiefferdecker. Clarke*)
Fig. 1.
gibt an, eine solche Verbindung nur über der Halsanschwellung
bei der Katze beobachtet zu haben und bildet einen Längsschnitt
ab, den ich hier schematisch wiedergebe (Fig. 2).
Angesichts der primitiven Hilfsmittel, deren sich Clarke
bediente (Härtung in Alkohol, Behandlung mit essigsaurem AI-
') Vergl. Stilling, Nenere üntersnchnngen über den Ban des Bücken-
markes. Cassel 1857, pag. 308 etc.
>) Gewebelehre 1867, pag. 263.
') Anatomie, Bd. 3, pag. 82.
*) By certain fimctions of the spinal chord wilh fartber invesügations
into the stnicture. Phil. Transact. 1853, pag. 348 n. 349; hierzn Tafel XXm.
594
Pal.
kohol), angesiehts des Umstandes dass ein so eomplicirter Faseirerlanf
im Längsschnitt selbst bei unseren Hilfsmitteln schwer zu eroiren ist,
kann man die eben genannte Aussage Clarke's noch nicht als
den Yollgiltigen Beweis flir die Existenz solcher Fasern ansehen.
S c h i e f f e r d e c k e r ^), der sich schon des Goldchlorids bediente,
spricht wohl vorübergehend von einer theils directen, theils durch
ein Netz unterbrochenen Verbindung zwischen den aus sensiblen
Wurzeln entstammenden Fasern der Hinterstränge und den Vorder-
strängen. Allein er bildet nur eine durch ein Netz unt^brocbene
Fi«. S.
Vord, Str. H. Ar.
Ä. Wurzd
Vard. Würzet
Verbindung der Hinterstränge mit den vorderen Wurzeln auf einem
Längsschnitte aus dem Bttckenmarke des Hundes ab. Auch in
diesem Falle handelt es sich fik)mit nicht um Fasern, welche mit
den von mir beschriebenen identisch wären.
Ich habe denmach aus der Literatur erfahren, dass eine
Verbindung der hinteren Wurzeln mit den Vorderstrilngen in dem
Sinne, wie dies in meinem hier abgebildeten Präparate der Fall
ist, bis jetzt nicht beschrieben worden ist.
Ueber das zweite Bündel (Fig. 3) vermag ich nur das Fol-
gende zu sagen. Ich fand es ungefähr auf der Höhe der Halsan-
schwellung in mehreren Schnitten. Das Bündel entsteht in der
^) Beiträge cor Kenntniss des Fasenrerlanfes im Backenmarke. Arch. 1
mikr. Anat. 1874, pag. 486.
(8)
lieber swei gesonderte Nervenbündel etc.
595
änsserBten Spitze des Seitenhornes (a, Fig. 3), durchschreitet die
seitliche GanglienzeUengruppe und gelangt gradlinig verlaufend,
ohne nachweislich Fasern an die vordere oder hintere Commissur
abzugeben, bis auf das Niveau der letzteren, wo es dann abzu-
biegen scheint (b, Fig. 3). Es besteht aus Fasern mittlerer Stärke
und ist durch die Dichtigkeit derselben auffällig.
Fig. 8.
Die Dicke dieses Bündels dürfte sich auf mindestens einen
halben Millimeter belaufen. Ich glaube auf dasselbe durch Schief-
stellung des Messers gelangt zu sein, und dürfte ich wahrschein-
lich nicht fehlgehen, wenn ich behaupte, dass das Bündel von
vorne und lateral nach hinten und medialwärts etwas aufsteigt.
Parallel zu diesem Bündel und vor demselben verläuft in der
grauen Yorder^ule ein aus gleichstarken Fasern bestehendes
Bündel, das sich in der abgebildeten Schnittebene als bedeutend
kürzer erwies.
^«K
(4)
xxYn.
Ein Beitrag zur Lehre yon der Kernvermehrang.
Von
Cand. med. Josef Emil Berggrfln.
(Aus dem Institute (Or alliemelne und experimentelle PatholOEle der Wiener Unlversltit.)
(Hierzu Tafel XXVI.)
(Am 31- October 1887 von der Redaction übernommen.)
Da ich in der yorliegenden Schrift über einige Beobachtungen
berichte, welche der heute verbreiteten Lehre von den Eernfiguren
nicht in allen Stücken günstig sind, will ich von vorneherein
bemerken, dass ich die Existenz solcher Figuren, sowie die
Wandlungen, welche sie bei der als Earyokinese bezeichneten
Eemtheilung eingehen, gar nicht mehr als Gegenstand einer
Discussion ansehe.
Für discutirbar halte ich aber die Fragen:
L Ob und unter welchen Umständen sich die Kerne
ohne jene Figurenbildung theilen.
n. Ob das Vorkommen von Kernfiguren mit Sicher-
heit auf eine Zelltheilung schliessen lasse.
Bevor ich auf die Schilderung der thatsächlichen Befunde
eingehe, möchte ich die historische Darstellung, welche vor
(1)
598 Berggrün.
Enrzem von Waldeyer^) veröflfentlicht wurde, noch durch folgende
Bemerkung ergänzen. L e y d i g äusserte sich inGanstatt's Jahres-
berichten (1856) über eine einschlägige Mittheilung Joh. Müller^s
mit folgenden Worten: „Johannes M tiller hat bei Paramaeciom
aurelia den ganzen Inhalt des yergrösserten Kernes in einem
Bausch von zu Locken gekräuselten Fäden fonnirt gesehen. Als
er diese Beobachtung den Herren Lachmann und Glapar6de
mittheilte, erfuhr er, dass sie die Erscheinungen von Fäden im
Kern auch bei Chilodon cucnllulus kannten. Es hatte sich nämlich
das Organ viel mehr yergrössert und war in zwei grosse
Massen getheilt. Im Innern dieser Massen war eine grössere
Menge discreter Fäden, welche aber nicht mehr wie im vorher-
gehenden Falle in Locken geordnet und dicht gezackt waren^
sondern innerhalb der Grenzen des Organs locker zerstreut lagen. ^
Auf meine eigene, hier vorliegende Arbeit nun übergehend,
erwähne ich, dass ich die erste Anregung zu der methodischen
Behandlung des Larvenschwanzes in einem Aufsatze') von
H. Eundrat und E. Klein, „Ueber das Verhalten der fixen
Zellen des Froschlarvenschwanzes ^, erhielt, in welchem die beiden
Autoren zeigten, dass die subepithelialen, verästigten Zellen nach
mechanischen Beizen ihre Fortsätze einziehen und ihre Gestalt
verändern.
Ich benutzte, ebenso wie Eundrat und E 1 e i n , zu meinen
Untersuchungen grössere und stärkere Froschlarven, welche
ich dadurch unbeweglich machte , dass ich sie auf Fliesspapier
legte. Zeitweilig benetzte ich das Thier mit etwas frischem
Wasser, um es vor Austrocknung zu bewahren. Die Reizung
nahm ich mit Hilfe eines Haarpiusels vor , indem ich mehrmals
hintereinander in kürzeren Intervallen das äosserste Schwanz-
ende des Thieres mit den Spitzen des Pinsels bestrich. Nach
einer, eine halbe bis eine Stunde, fortgesetzten Reizung, wobei
ich also während dieser Zeit den bezeichneten Theil des Thieres
einer förmlichen Massage aussetzte, wui'de die Froschlarve sofort
in die von Flemming angegebene Osmium-Chrom-Eisessig*
^) Archiv fttr mikrosk. Anatomie. 1887.
*) Stricker, Stadien ans dem Institute fOr experim. Pathologie. Wien
1869, firanmüller.
(2)
Ein Beitrag zur Lehre von der Eemvermehning. 599
mischnng geworfen und verblieb daselbst ein bis zwei Tage. Ich
färbte hierauf entweder in Safranin mit nachfolgender Aus-
waschung in salzsaurem Alkohol und längerer Aufhellung in
Nelkenöl, oder ich verfuhr nach R a b l's Modification (Hämatoxylin-
Safraninfarbung). In beiden Fällen gelangte ich zu analogen
Bildern. Von dem gefärbten Larvenschwanze wurden nun mit der
Pincette oberflächliche Platten abgeschält.
Untersucht man eine solche Platte mit schwachen Linsen
(H a r t n a c k 4), so fällt uns eine der Längenaxe des Tbieres parallel
geordnete Reihe von Inseln auf, in welchen viel intensiver gefärbte
Formelemente zu sehen sind, als in der Umgebung (vide a^a^a^
Fig. 1). Stellenweise findet sich in einiger Distanz von dieser Reihe
noch eine zweite, die sich gleichfalls durch stärkere Tinction
auszeichnet. Die tiefer gefärbten Formelemente sind zweierlei
Art : 1. Sind es Pigmentzellen, die hier dichter aneinander liegen,
als in der Nachbarschaft und 2. sind es durch die künstliche
Färbung markirte Gebilde, die sich schon bei der schwachen
Vergrösserung als rundliche oder unregelmässig begrenzte Häufchen
von Formelementen erkennen lassen. Untersuchen wir eine solche
Stelle mit einer etwas stärkeren Linse (H a r t n a c k 8), so unter-
scheiden wir an ihr Folgendes: Die Pigmentzellen sind relativ
grosse vielstrahlige Gebilde, die gleichsam wie einer Strasse ent-
lang in zwei Reihen angeordnet sind, welche zwischen sich jene
früher genannten stark tingirten Häufchen von Formelementen
fassen. Ausser diesen Pigmentzellen unterscheidet man übrigens
zahlreiche andere Pigmentzellen mit je einem roth gefärbten Kerne,
mit spärlichem Protoplasma rings um denselben und deutlich
pigmentirten zierlich verzweigten Ausläufern. Diese Ausläufer
scheinen zwischen den Epithelien zu liegen, von welchen sofort
die Rede sein wird.
Betrachten wir das Object bei noch stärkerer Vergrösse-
rung (Inmiers. Hartn. 12), so bekommen wir noch weitere
Details zu Gesichte. Wir erkennen im Präparate ein oberflächliches
Lager von Epithelien. Unter dem Epithellager sehen wir ein
Lager von homogener Grundsubstanz, welches sich durch zahlreiche
feine Fibrillen und durch eingelagerte Kerne, wahrscheinlich Kerne
der Biudegewebskörperchen , auszeichnet. In derselben Ebene
(3)
600 Berggrün.
erkennt man auch scharfgezeichnete Capillaren mit ebenso scharf
gezeichneten und gut tingirten Kernen. Stellt man nun die obere
Schichte des Präparates ein, so ergibt sich mit aller Bestimmt-
heit, dass die früher erwähnten zierlich verzweigten Pigmentzellen
(videFig. 2) mitten zwischen dem Epithel ausgebreitet sind. Ich
hebe diesen Umstand hervor mit Rücksicht auf die von A e b 7 ^)
behauptete Thatsache, dass im Epithel kein Pigment gebildet,
dasselbe vielmehr durch Wanderzellen aus dem benachbarten
Bindegewebe eingeführt werde, eine Beobachtung, welche neuestens
von Ehrmann, Biehl, Karg und endlich Kölliker^)
geprüft und bestätigt wurde. Die zuerst erwähnte Form der
Pigmentzellen, das sind die grossen strahlenartig angeordneten
Pigmentzellen, liegen unter den Epithelzellen, respective in einer
Zone zwischen Epithel und Bindesubstanz.
Man kann sich mit der Stellschraube deutlich davon tiber-
zeugen, dass die zierlich verzweigten Pigmentzellen in einer
anderen Ebene liegen, als die andere mit strahlenartigen Aus-
läufern versehene Form. Hie und da findet man neben den Zellen
der letztgenannten Form verschiedene in derselben Ebene neben-
einander gelagerte Stücke solcher Zellen, das heisst Stücke von
demselben Aussehen, von derselben Farbe und derselben feinen
Granulation, die jene charakterisirt, Stücke, die den Eindruck
machen, als ob sie isolirt nebeneinander lägen, und gleichsam
aus einer Zerreissung jener Pigmentzellen hervorgegangen wären.
Ausser den bisher genannten Geweben findet man unter
dem Epithel sehr schön angeordnete quergestreifte Muskelfasern
mit ihren Kernen und, hie und da, wohl auch Fasern, die als
Nerven gedeutet werden können ; ich muss aber allerdings hinzu-
fügen, dass die eingangs erwähnte Präparirmethode , so zweck-
mässig sie auch sonst sein mag, zur Darstellung von Nerven
nicht geeignet ist.
Kehren wir jetzt zur Hauptsache, zu den Epithelzellen zurück.
Stellt man mit der früher genannten Linse für eine oberste Ebene
des Präparates ein, so erblickt man an den helleren Stellen, in
der Umgebung der Häufchen, die massig tingirten, aber relativ
') Med. Centralblatt Kr. 16. 1885.
') Kölliker, Sitznngsber. d. Wärzbnrger Phys. med. Gresellschaft. 1887.
(4)
Ein Beitrag zur hebie von der Eernvermehnuig. gOl
grossen Kerne, von schmalen, aber hellen Säumen umgeben. Die
hellen Säume erscheinen vielfach durch etwas dunklere Streifen
abgegrenzt, so dass man, etwa der älteren Nomenclatur folgend,
sagen könnte: der schmale dunkle Saum sei die Zellenmembran,
die helle Zone rings um den Kern der Zellinhalt (yide die rechts-
seitige Grenze der Fig. 2 und 3). Wir ziehen es aber natürlich
vor, die helle Zone sammt dem schmalen Saume nach der von
Brücke eingeführten Nomenclatur Zellleib zu nennen.
Wir haben es also mit fast ungefärbten Zellleibern zu thun,
in deren Innerem gefärbte Zellkerne liegen. Untersuchen wir
diese Epithelzone mit noch stärkerer Vergrösserung (Seibert9
in Gombination mit Zeiss' apochromat. 4 Ocular), so zeigte es
sich deutlich, dass die Bänder der Zellen, ich meine jene Zonen,
die man als Hüllen bezeichnen könnte, nicht selten von den Hüllen
der Nachbarzellen abstehen, d. h. es bleibt zwischen je zwei
Nachbarzellen noch eine schmale ungefärbte Zone übrig, die wir
vorläufig, der gebräuchlichen Annahme entsprechend, als Zwischen-
substanz bezeichnen wollen. Ich werde auf die theoretische Be-
trachtung der Zwischensubstanzen zwar nicht eingehen, aber ich
muss mich später des Ausdruckes bedienen, um die Schilderung
der wichtigeren Stellen verständlich zu machen. Die stärkere
Vergrösserung habe ich übrigens hauptsächlich deshalb gewählt,
um einen besseren Einblick in die Kerne zu erlangen.
Wenden wir uns nun zur Betrachtung jener Häufchen von
Formelementen, die sich tiefer als die Umgebung tingiren.
Vor mir liegt ein solches Häufchen (a, Fig. 2), in welchem ich in
einer Ebene der Quere nach fünf, senkrecht darauf sechs Kerne
zähle, es werden also, da das Häufchen keine regelmässige
Begrenzung hat, annäherungsweise etwa 30 Kerne nebeneinander
liegen ; überdies taucht bei einer tieferen Einstellung eine zweite
Reihe von Kernen auf, von denen man allerdings nicht sicher
wissen kann, ob sie nicht mit den oberen Kernen im Zusammenhang
stehen. Von einigen derselben ist ihrer Lagerung nach wenigstens
wahrscheinlich, dass sie abgegrenzt sind. Stellenweise erkennt man
noch ganz deutlich die Grenzen, respective die Hüllen der alten
Zellen und mit Bücksicht darauf, sowie auf die Grössenverhältnisse
darf wohl vermuthet werden , dass mehrere Zellen zur Entstehung
(6)
602 Berggrün.
des EemhanfeDS beigetragen haben. Stellenweise, sagte ich, sind
die Beste der früher vorhanden gewesenen Zellen noch nachweis-
bar, an anderen Stellen ist dies aber nicht der Fall und wir
können das ganze Conglomerat eben nicht anders als ein Con-
glomerat von Kernen mit etwas Zwischensnbstanz betrachten.
Ob man diese Zwischensnbstanz hier als Zellleib auffassen and
das Conglomerat von Kernen als zu einer Biesenzelle gehörig
betrachten soll, lasse ich nnerörtert. Uns interessirt hier haupt-
sächlich die Thatsache, dass wir es unzweifelhaft mit einer Ver-
mehrung von Kernen in circumscripten Begionen zu thun haben.
Von besonderem Belange scheint auch der Umstand zu sein, dass
auf dem Areale der neugebildeten Kerne jedenfalls eine geringere
Quantität Protoplasma oder Zellleib, respective Zellleiber vorhanden
sind, als in den benachbarten normalen Begionen. Die Kerne
haben sich also vermehrt, die Masse der Zellleiber ist
vermindert worden.
Die einzelnen Kerne eines solchen Gonglomerates lassen
in der Begel je eine scharf gezeichnete periphere Zone, also eine
KernhtiUe erkennen. Diese Hülle hat selbstverständlich zwei Gon-
teuren, eine äussere gegen die Zwischensubstanz, und eine innere
gegen die Kernsubstanz hin. Diese Kemhülle erscheint dunkler
gefärbt als die übrige Substanz des Kernes. Innerhalb der Kem-
hülle erkennt man eine dunkler gefärbte Zeichnung auf einem
helleren Grunde. Die dunklere Zeichnung entspricht in der Begel
einer zusammenhängenden Figur. An einzelnen Kernen bildet diese
Figur ein deutliches Gerüste, ein Maschenwerk, an anderen wieder
ist das Gerüst nicht ausgesprochen, es sind einzelne grössere
dunkle Körper, über deren Zusammenhang die Einstellung in einer
Ebene keinen sicheren Aufschluss gibt, die aber bei Verstellung
der Schraube dennoch durch dünnere Fäden zusammenzuhängen
scheinen. Insofeme also hier thatsächlich Figuren vorhanden sind,
die sich stärker tingiren als die Umgebung, werde ich vielleicht
nicht fehlgehen, wenn ich sie als chromatische Figur, im Sinne
der neueren Nomenclatur, bezeichne.
Die hellere Zwischensubstanz, welche in den Maschenräumen
des Gerüstes, respective zwischen den Balken und Fäden der
Figur sichtbar ist, erscheint aber gleichfalls dunkler gefärbt, als
(6)
Ein Beitrag zur Lehre von der Eemvermelirang. 603
die entsprecheüden Bestandtheile der Kerne an normalen Stellen
des Larvenschwanzes. Es hat also die Färbbarkeit des gesammten
Kernes der Norm gegenüber zagenommen. Neben diesen Kernen
finde ich in einem der Häufchen (i, Fig. 3) eine einzelne Kern-
theilungsfignr im Sinne der neuen Lehre. Diese einzelne Figur scheint
für die Beurtheilung des Ganzen nicht ohne Belang zu sein, denn einer-
seits schützt dieselbe uns vor dem Vorwurfe, dass die Kemtheilungs-
figuren überhaupt nicht sichtbar geworden seien, weil die Technik
eine mangelhafte gewesen sei (denn wo eine Figur sichtbar wurde,
konnten, soweit es von der Technik abhing, auch die anderen
in Erscheinung treten, wenn sie überhaupt vorhanden gewesen
wären) ; andererseits lehrt aber diese Kemtheilungsfigur, dass auch
hier wie in den Nachbarkemen ohne typische Figur, die Fäden
oder Balken dunkler gefärbt sind als die Zwischensubstanz der-
selben Figur, dass aber andererseits die letztere immer noch viel
dunkler ist als die Zwischensubstanz in den benachbarten schein-
bar wenigstens normalen Kernen. Endlich ist hier bemerkenswerth,
dass die Kemfigur von einer Seite her von einem grösseren un-
gefärbten Areale umgeben ist und dass, wie die Zeichnung
andeutet, es den Eindruck macht, als ob die Figur in einer
grösseren Zelle oder in einem vergrösserten Kerne läge, welche
sich an der regen Kemwucherung nicht in dem Grade betheiligt
hat, wie die nächsten Nachbarkeme desselben Gonglomerates.
Aus diesen Beobachtungen geht nun Folgendes hervor : Die
Kemtheilung im Sinne der Kaiyokinese ist bei der regeren Ver-
mehrung in Folge von mechanischen Eingriffen sicherlich nicht
als die Regel., sondern nur als die Ausnahme an-
zusehen.
Diese Schlussfolgerung wird femer noch unterstützt durch
die Befunde in einem anderen Präparate, welches in gleicher
Weise aus dem Larvenschwanze genommen wurde und in welchem
die Kemtheilungen etwas reichlicher vorhanden sind, aber merk-
würdigerweise nicht an den Stellen, wo sich die Kemhäufchen
finden (wo also die Vermehrung der Kerne offenkundig eine regere
war), sondern zerstreut im Gewebe, an Orten, an welchen keinerlei
sonstige Zeichen einer Gewcbsneubildung zu erkennen sind. Wohl
aber liegen diese Kemtheilungen hie und da in Zellen, an welchen
Med. Jahrbücher. 1887. ^ (7)
604 Berggrttn.
Merkmale einer vor sieh gehenden Theilang zu finden sind. Diese
Gebilde wollen wir nun näher beschreiben.
Wir sehen hie und da Zellen, die schon bei massiger Ver-
grOsserung ganz deutlich das Bild der Einschnürung bieten. In
Fig. 4 ist eine dieser Formen abgebildet, und sie entspricht
wohl auch einem der Theilungsbilder , welche Flemming^) im
Jahre 1879 beschrieben und abgebildet hat. Wir haben Stellen vor
uns, welche etwas in die Länge gezogen, mittlere £inschntirungen,
also gleichsam Biscuitformen zeigen und in je einem Kopfe des
Biscuits eine ziemlich tief gefärbte Eerntheilungsfigur enthalten.
Wenn man so ein Bild mit stärkerer Vergrösserung unter-
sucht, so ergibt es sich bald mit grösserer, bald mit geringerer
Deutlichkeit, dass die Einschnürungsbuchten durch Vacuolen zu
Stande kommen, d. h. das Bild macht den Eindruck, als ob die
Bucht eben nur einen Theil der Gircumferenz einer Vacuole bilden
würde, welche in der Flanke der gestreckten Zelle entstanden
ist. Solcher Vacuolen können vielleicht mehrere existiren, oder es
kann eine einzige sich rings um den eingeschnürten Stiel erstrecken.
Ich betone nur das, was ich gesehen habe und stütze mich
besonders darauf, dass man an einzelnen Stellen noch die äussere
Grenze der Vacuole gleichsam als eine über die Bucht gespannte
Brücke (Best der Zellhülle ?) erkennt. Indem ich diesen Eindruck
schildere, soll damit nicht gesagt sein, dass sich* diese Zellen nicht
in Wirklichkeit zum Theilen anschicken.
Ich beschreibe eben nur das Gesehene, um darauf aufmerksam
zu machen, dass diese Theilungsbilder nicht nothwendig durch
eine Einschnürung, durch eine Bewegung des Zellleibes entstanden
sein müssen. Die Bilder können möglicherweise durch Vacuolen-
bildung hervorgerufen , und die endliche Zerklüftung der Zelle
in zwei Stücke durch Vergrösserung der Vacuole verwirklicht
werden. Die Betrachtung eines solchen Falles wird uns um so näher
gelegt, als ja durch eine Einschnürung der Epithelzellen in solcher
Weise, wie es uns die Abbildungen zeigen, nothwendig sich inter-
stitielle Räume bilden müssen, in welche entweder Flüssigkeiten
oder Fortsätze von Nachbarzellen eindringen. So lange, als man
^) Flemming, Arcliiy f. mikrosk. Anat. 1879«
(8)
Ein Beitrag znr Lehre von der Eemvermeliraiig. 605
die anscheinend in Theilang begriffenen Zellen sich gleichsam
so isolirt denkt, wie man sie abbildet, fällt dieser Umstand wohl
nicht in's Gewicht; diese Zellen sind aber eben nicht isolirt,
sie bilden einen Theil des Epithelgefuges , and in den Bäumen,
welche durch die Einschnürung gebildet werden, findet man eben
keine Formelemente, keine Zellbestandtheile. Wir müssen daher
yermnthen, dass diese Bäume, falls dieselben in yivo vorhanden,
von Flüssigkeit erfüllt waren. Ob diese Formen der Zelltheilung
thatsächlich diejenigen sind, durch welche sich die Epithelien
des Larvenschwanzes in der Begel vermehren, ist mit der Er-
kenntniss des genannten Theilungsbildes noch nicht erwiesen.
Im Epithel solcher Larvenschwänze, die ich vor der Prä-
parirung nicht künstlich gereizt habe, kommen gleichfalls Kem-
hanfen vor, ähnlich denen, die ich an den künstlich gereizten be-
schrieben habe, nur ist die Zahl der Kerne in je einem Häufchen
geringer und die Häufchen selbst seltener, nur hie und da
anzutreffen. Ich zähle in einem solchen Häufchen, in einem
mir vorliegenden Falle fünf Kerne, deren drei so enge aneinander
liegen, dass ihre Selbstständigkeit, Isolirtheit mit dem Mikroskope
kaum zu erweisen ist. Es scheint, als ob sie an den Gontact-
stellen noch zusammenhängen. Offenbar muss hier entweder eine
Kerntheilung oder irgend eine andere Form der Kernvermehrung
stattgefunden haben. Keiner aber von den fünf Kernen zeigt
eine Kemfigur, sie verhalten sich so, wie ich es früher an der
künstlich gereizten Larve beschrieben habe, nur ist ihre Fär-
bung nicht so dunkel wie jene an den gereizten Stellen. Bings um
den aus fünf Kernen bestehenden Häufchen liegt aber eine Zone
von kernhaltigen Epithelien, die auch nicht mehr das Aussehen
der übrigen, ich möchte am liebsten sagen, Normalepithelien
besitzen, die vielmehr einen Uebergang zu dem Kemhaufen zu
bilden scheinen. In einer solchen Zelle erblicke ich nun wieder
eine Kemfigur neben einem zweiten Kerne, der keine Figur auf-
weist, sondern nur eine KemhüUe und im Innern einige feine
Granula zeigt. Ob diese Kemhäufchen wirklich der Norm ent-
sprechen oder ob sie etwa die Folge einer mechanischen Beizung
sind, welche auf die Larve ohne mein Zuthun gewirkt hat , bleibt
selbstverständlich unentschieden.
47» (9)
606 BerggrüB.
Eine dritte Reihe von Objecten habe ich mir durch die
Präparation der Froschcomea verschafft, a. zw. im entzündeten
Znstande, in welchem ja, wie heute allgemein anerkannt wird,
eine lebhafte Zelltheilung stattfindet. Die Entzündung habe ich
durch Einführung eines Bindfadens, in der den Pathologen be-
kannten Weise, gesetzt. Die Untersuchung wnrde in den Monaten
Mai-Juni ausgeführt, welche Angabe darum von Belang ist, weil
die Frösche um diese Jahreszeit bekanntermassen sehr lebhaft
sind und sehr gut reagiren. Der Entzündungserreger, resp. der
geknüpfte Bindfaden ist einmal 24 Stunden, ein andermal 48 Standen
liegen geblieben. Dann wurde die Cornea ausgeschnitten und sofort
in die Chromosmiumsäure-Eisessigmischung gebracht. Nachdem
die Färbungsproceduren nach Vorschrift zu Ende waren, machte ich
den Versuch, die Cornea zu lamelliren. Die Spaltung der Cornea
in Lamellen gelingt aber an derart behandelten Präparaten nur
sehr schwer, es können nur Bisspräparate angefertigt werden.
Indessen reichen ja die Bisspräparate vollkommen aus, um sich
über die Eemformation in den Zellen zu unterrichten. In einem
solchen Präparate nun sieht man die Grundsubstanz ziemlich hell
durchscheinend und nur wenig gefärbt. Es ist gleichsam nur ein
lichtröthlicher Ton vorhanden.
Das Gleiche gilt von den ZelUeibem. Zwar lässt es sich
an solchen Präparaten nicht entscheiden, ob man, strenge
genommen, noch von ZelUeibem sprechen darf. Man sieht von den
Zellen nur die äussere scharfe Begrenzung eines hellen Territoriums,
in welchem Territorium die tiefer gerärbten und scharf abge-
grenzten Kerne liegen. Ob die Territorien wirklich Zell-
leiber sind, oder ob wir in dem veränderten Präparate nur mehr
Hülsen von Leibern vor uns haben, vermöchte ich nicht zu unter-
scheiden. Diese Frage kommt aber für uns gar nicht in Betracht,
denn dass die äusseren Grenzen wirklich Zellgrenzen sind, und
dass die, dunkel tingirten , überaus charakteristischen und scharf
gezeichneten Körper Kerne sind , daran ist kein Zweifel. Dass
die Kerne der weitaus grossen Mehrzahl nach nicht mehr den
Kernen der normalen Hornhaut entsprechen, ergibt sich auf den
ersten Blick. Die Kerne der normalen Cornea sind, wie das schon
m
!
I Ein Beitrag zur Lehre toh der Kemvermehrnng. g07
I aus den Abbildungen von Stricker u. Norrigi) hervorgeht, eigen-
thiimliche platte Gebilde, und zwar liegt in je einem Hornhaut-
körperchen nur je ein Kern. An diesen Objecten aber , die mir
vorliegen (Fig. 5), sind erstens die Formationen der Kerne andere,
und dann entscheidet auch ihre Zahl über die Frage, ob normal
oder nicht. Man findet in je einer Zelle zwei oder drei und selbst
vier Kerne; diese Kerne sind selbstverständlich kleiner als die-
jenigen der normalen Cornea und bieten uns übrigens alle möglichen
Uebergänge der Abschnürung. Die einzelnen Kerne in einer Zelle
sind zuweilen ganz isolirt, oder sie hängen noch durch Brücken
zusanmien, und so erblickt man alle möglichen Phasen der Ab-
schnürung. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, wir haben
es hier mit einer lebhaften Kemtheilung zu thun. Dass aber
dieser Kerntheilung eine Zelltheilung folgt, — resp. unter den ge-
eigneten Bedingungen folgt, — das ist ja, wie ich schon erwähnt
habe, allgemein anerkannt. In Fig. 5 habe ich übrigens das Bild
von mehreren an einander gelagerten Zellen dargestellt, welches
mit Rücksicht auf das, was an der lebenden Cornea und an den^
lebenden Zellen beobachtet worden ist, mit Wahrscheinlichkeit
als eine fixirte Phase der Zelltheilung zu betrachten ist. Doch
kommt ja die Frage nach dem thatsächlichen Vollzüge der Zell-
theilung hier nur ganz secundär in Betracht. Wichtig ist, dass sich
die Kerne theilen und dass hier, soweit ich in diesen Präparaten
Umschau halten kann, innerhalb des Parenchjms der Cornea
jene typischen Kemfiguren, welche der Kaiyokinesis entsprechen,
nicht auffindbar sind. Die Kerne sind, wie schon hervorgehoben
wurde, scharf gezeichnet , sie besitzen eine tief tingirte Aussen-
zone, und innerhalb derselben Rudimente von Oerüsten oder isolirte
Körperchen innerhalb einer helleren Masse. Anschliessend an diese
Beschreibung muss ich bemerken, dass die in Gold gefärbte
Cornea die Kemtheilungsbilder genau in der Weise darstellt, wie
die Flemming^sche Tinction.
Zum Schlüsse habe ich zu bemerken, dass ich in der Cornea
allerdings auch Kemfiguren gesehen habe, und zwar Figuren, die
auf eine Kemtheilung im Sinne der Karyokinese hindeuten, aber
*) Stricker, Studien, 1869.
(11)
608 Barggrttn. Ein Beitrag zur Lehre von der Kemvermelinmg.
diese Kernfigaren liegeu in oberflächlichen Epithelzellen and in
Regionen, in welchen das Epithel kein Zeichen einer lebhaften
Zellvermehmng aufweist.
Erklärung der Tafel
Flg. 1. Uebersichisbild (Objectiv Hartnack 4. Ocular II). Abgeschälte Platte
eines Froschlarvenschwanzes. Die mit a beseichneten Stellen zeigen die
durch den Entzttndungsreiz scharf von der ümgebnng sich abhebenden,
dunkler tingirten Partien an. Zahlreiche yielstrahlige Pigmentzellen dorcli-
ziehen das Epitbelgefilge.
Flg. 2. Yielstrahlige Pigmentzelle mitten in dem Epithel sich aasbreitend. Bei
a allmftliger Uebergang von dem normalen in das durch mechanische
Reizung pathologisch veränderte Gewebe. (Yergrössernng etwa lOOOfach,
ebenso die folgenden Figuren.)
Fi|^. 8. Vereinzelte Kemtleilungsfigur (bei 6, Tonnenform} in einem durch sehr
rege Kemtheilung und -Vermehrung sich auszeichnenden Gonglomerate.
Fig. 4. ZeUe mit mittlerer Einschnürung, in je einem Kopfe eine Kemtheilunga-
flgur enthaltend.
Flg. 6. Entzündete Cornea. Einzelne ZeUen enthalten eine grössere Anzahl von
Kernen als denorma. Im unteren Abschnitte des Bildes finden sich mehrere
an- und nebeneinander gelagerte Zellen, welche als eine fixirte Phase der
Zelltheilung zu betrachten sind.
•HOK*
(IS)
xxvin.
Das Verhalten des Yeratrins gegen Schimmel
pilzwachsthom.
Von
Dr. Arnold Paltanf^
Aasistent am ger.-med. Inatitate sn Wien.
(Am 10. November 1887 von der Bedaction ül)ernommen.)
Die nachfolgende kleine Untersuchung wurde über Anregung
des Herrn Prof. Ludwig in dessen Laboratorium vorgenommen.
Derselbe hatte einen angeblich mit Veratrin versetzten ver-
schimmelten Schmam^) zur gerichtlich-chemischen Untersuchung
erhalten, in dem ein anderer Chemiker vorher die Anwesenheit
von Veratrin constatirt hatte. Herr Professor Ludwig konnte es
dagegen nicht nachweisen, worauf ersterer dieses negative £r-
gebniss dadurch erklärte, dass das Veratrin durch den Einfluss der
unterdessen auf dem Schmam zur Entwicklung gelangten Schimmel-
pilze zerstört worden sei. Gerichtlicherseits wurde die Verfolgung
auf Professor Ludwig's Gutachten hin eingestellt
Das Verhalten der Alkaloide gegen Verschimmelung und
Fäulniss u. dergl. ist, soviel ist bekannt, ein sehr verschiedenes ;
nur wenige Alkaloide sind diesbezüglich Gegenstand der Unter-
suchung gewesen ; * das Veratrin bis nun nicht. Sohin konnte
obige Frage auch nicht exact entschieden werden. Um diese, wie
') Schmam ist eine Mehlspeise, die durch Eintragen eines ans Mehl, Ei
nnd Wasser bestehenden Teiges in heisses Fett hergestellt wird.
(1)
610 Paltanf.
dies Vorkommniss ergibt, dem gerichtlichen Chemiker wichtige
Frage zu beantworten, habe ich einige entsprechende Versnche
unternommen.
Ich versetzte eine Reihe von Portionen von in gewöhnlicher
Weise bereiteten „Schmams'', soviel als ein kleiner Speiseteller
eben fasste, mit Veratrin und bestrente sie mit einem Gemisch
von Zncker nnd Veratrin. Die eine Hälfte enthielt je an 12, die
andere je an 25 Milligramm des reinen Alkaloids. Je eine Probe
wurde sofort nach der Mischung, die anderen in längeren Zeit-
räumen untersucht, nachdem sie in einen feuchten Keller dem
Verschimmeln waren überlassen worden. Ausserdem stellte ich mir
Nährlösungen her, wie man sie sonst zur Cnltur von Schimmelpilzen
verwendet, versetzte sie mit je 5 Milligramm Veratrin, inficirte sie
mit Piben und überliess auch sie monatelang dem Wachsthum.
Der Weg der Untersuchung des Schmams war der beim
Alkaloidnachweis gewöhnlich angewendete : Ausziehen mit saurem
Alkohol. Der mit Wasser aufgenommene Rückstand sauer, sodann
alkalisch mit Aether ausgeschüttet, diesen Rückstand in essig-
saures Salz übergeführt, damit reagirt. Dem Nachweis des Alkaloids
hielt ich ausser durch die allgemeinen Alkaloidreactionen noch
durch die dem Veratrin eigenthümlichen mit Schwefelsäure (Brom-
wasser), mit Salzsäure, mit Schwefelsäure und Zucker für erbracht.
Das essigsaure Salz stellte stets eine kaum gefärbte, sehr spröde,
hornartige, amorphe Masse dar.
Beide frisch untersuchten Schmamproben ergaben ein positives
Ergebniss.
Nach 8 Wochen und nach 10^/s Monaten untersuchte ich wieder
je eine Probe der beiden Mischungen; alle vier Schüsseln zeigten
Schimmelbildung, besondera reichliche die länger gestanden
habenden. Das Ergebniss beidenfalls wie vorher.
Die Nährlösungen wurden in kleinen Bechergläsern und Eprou-
vetten aufbewahrt. DasWachsthum der Pilze wurde erst ein reichliches,
als ich auch stickstofiFhaltige organische Salze (weinsaures Ammon)
zusetzte. Zuckerlösung allein förderte nicht wesentlich. Auch in
diesen Lösungen constatirte ich zunächst die Nachweisbarkeit des
Giftes in der frischen Probe, sodann aber auch in sämmtlicben
mit reichlichen Pilzcolonien bedeckten bis fünf Monate alten
(8)
Das Verhalten des Yeratrins gegen Schimmelpilz wachsthnm. gH
Flüssigkeiten. Sie warden nur filtrirt, alkaliseh gemacht n. s. w.
Da ich bemerkt hatte, dass Nährlüsungen darch Schimmelpilz-
wachsthum gelblich und bräunlich gefärbt wurden, so nahm ich
mit solchen, doch nicht mit Veratrin versetzten , durch Monate
gestandenen Lösungen dieselbe Procedur des Nachweises vor,
der einen kaum gefärbten amorphen Rückstand ergab, der mit
Phosphorwolframsäure und Jodwismuthkalium einen dünnen
Niederschlag, mit Schwefelsäure eine lichte Lösung gab, die durch
Stehen an der Luft oder Erwärmen braunroth wurde, nach
42 Stunden entfärbt war, in concentrirter Schwefelsäure nicht
flaorescirte, mit Salzsäure durch längere Zeit gekocht, farblos oder
kaum merklich gelb wurde. Eine Verwechslung mit Veratrin
wäre nur durch oberflächliche Beachtung ersterer Beaction
möglich, die durch das Ausbleiben der zweiten aber sofort
geklärt würde. Dieses Product dürfte wohl je nach der Nährlösung
und vielleicht auch der Art der Pilze ein ganz verschiedenes sein.
Das Präparat, auf seine Reinheit geprüft , zeigte in seiner
Reaction die von Dragendorff angegebenen Empfindlichkeits-
grenzen.
Es steht somit fest, dass Veratrin, auch in einer die tägliche
Maximaldosis nicht erreichenden, nicht letalen Menge im Laufe
von lOVa Monaten durch Schimmelpilzvegetation nicht zerstört
wird, ausserdem^ dass fünf Milligramm des Giftes in Lösung durch
fünf Monate langes Schimmeln nicht zersetzt werden. Es gehört
somit nicht zu den leicht zerstörbaren Alkalien, die oben ange-
zogene Behauptung ist daher falsch.
Es darf aber trotzdem nicht bähauptet werden, am wenigsten
von gerichtlichen Sachverständigen, dass Veratrin, nachdem es
durch Monate unter seiner Zersetzung günstigen Bedingungen sich
befunden, nicht zersetzt werden könne. Es ist ja bekannt, dass
Atropin noch nach einem Jahre aus faulen Leichentheilen nach-
gewiesen werden konnte, dasStrychnin noch nach längerer Zeit;
und doch zeigte Soyka, dass diese Alkaloide unter gewissen
Bedingungen schon nach wenigen Monaten bis zur Hälfte der in
Verwendung gebrachten Substanz zersetzt werden konnten.
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Med. Jahrbücher. 1887. 48 CB)
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Bergen, Ktrntrtnttiruig.
Verlag von Alfred Holder, k.k.Hi
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lUniversiläts-BuchhaniJler In Wien,
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TJekr die Tuberculose der Brustdrftse.
Von
Dn Ludwig Piskaöek^
gew. Operateur an Prof. Albert's, z. Z. Assistent an Hofr. Breiaky's Klinik in Wien.
(Aus der chirurgischen Universitits-Klliilk des Herrn Prof. E. llbert In Wien.)
(Hierzn Taf. XZYn--XXX.)
(Am 24. November 1887 von der Bedaction übernommen.)
Einleitung.
Am 22. Februar 1884 warde mir die Ehre zatheil, in der
k. k. Gesellschaft der Aerzte ein Präparat von wahrer Tuber-
culose der Brustdrüse zu demonstriren, welche Tags zuvor, nach
richtig gestellter Diagnose, an der Klinik des He rm Prof. Albert
amputirt wurde.
Es war dies damals der vierte Fall, der innerhalb eines
Jahres an obiger Klinik zur Beobachtung kam, der erste jedoch,
für den eine Indication zur Amputation der erkrankten Brust*
drtise vorlag.
Herr Prof. Albert hatte die Güte, mich mit der Aufgabe
zu betrauen, diesen Fall genau zu untersuchen, die früher vor-
gekommenen und noch nachkommenden zusammenzufassen und
mit den bereits anderwärts bekannten einer Betrachtung zu unter-
ziehen.
Med. Jahrbücher. 1887. 49 (i)
614
PiakaCek.
Bii^ Ende October 1886 wurdeo denn ancb drei weitere
Fälle T011 wahrer Tabercalose der Bmetdrfise an genannter Klinik
beobachtet, während ich noch einen weiteren Fall bei einer
Gravida im Gebärbaaee zn sehen Gelegenheit hatte.
Von diesen 8 Fällen wnrde nur bei zweien die Amputation
der erkrankten BrastdrUee TOrgenommen, weshalb nur von diesen
der bist'. logische Nachweis der Tubercnlose geliefert werden
konnte.
Bei den übrigen 6 Fällen kam es zn keinem radicalen
Eingriff, da theils keine Indication zu einem solchen vorlag,
theils wegen des sonstigen somatischen Wohlbefindens der Kranken,
von letzteren die Abtragung der Brnstdrüse nicht zugegeben
wurde.
Eine Patientin insbesondere war durch die jahrelang dauernde
EiteniDg so stark herabgekommea , dass & priori ein radicaler
operativer Eingriflf ausgeschloBsen erschien.
I. Literatur.
Die Anzahl der bis jetzt mit Sicherheit diagnosticirten und
publicirtcii Fälle der Tubercnlose der Brnstdrüse ist eine sehr
spärliche; die Literatur deshalb nicht umfangreich.
Zw.ir wnrde schon von Velpean'} im Jahre 1854 die
Ansicht .luagesprochen, „dass die Brustdrüse, wenn ancb selten,
doch der Sitz von Abseessen werden kann, welche man sowohl
wegen ihres Verhaltens, als auch besonders wegen der E^igen-
thümlicLkeit des dabei vorhandenen Eiters als tuberculÖB be-
zeichnen kann", doch blieb es damals blos bei dieser Ver-
muthmig.
Sir Astley Cooper') sagt, dass er bei Frauen, welche
Anschwellungen der Halsdriisen haben, Geschwülste von scrophu-
löser Natur in ihren Brüsten beobachtet habe, welche sich
meistens aaf eine Geschwulst in der einen Brust beschränkten,
deren er aber in einem Falle auch zwei in der einen Brost und
eine in der anderen sah.
') Telpean, TraiU des nwladiee dn sein. P&ris 185i.
') Emafcheiteii der Brostdrfisei ans dem Engl. Weimar 1
üeber die Tubercnlose der Brustdrüse. 615
Johannet^) beschreibt einen Fall, der eine 40jährige
Frau betraf, die bis dahin gesund war und durch Schmerzen auf
eine Geschwulst in der Axilla aufmerksam gemacht wurde.
Gleichzeitig Husten und Hämoptoe. Nach einiger Zeit Schwellung
der rechten Brustdrüse ohne Schmerzempfindung. Vereiterung '^
der Axillardrüsen und Fistelbildnng. 7 Monate später stellten
sich in der rechten Brustdrüse, unter gleichzeitiger Zunahme der
Schwellung, Schmerzen ein. — Incision und Entleerung grosser
Mengen Eiters. — Nach weiteren 4 Wochen Tod.
Die Section ergab Tuberculose mit Phthise der Lungen,
ausserdem einen subpleuralen Knoten, der durch den 3. Inter-
costalranm gegen die Mamma durchgebrochen war und diese
inficirte. Dieser Fall betrifft; also eine Perforation in die Mamma.
Die pathologischen Anatomen haben sich, bis vor einigen
Jahren, dahin ausgesprochen, dass nach ihren Erfahrungen
Tuberkeln in der Brustdrüse nicht vorkommen.
Herr Hofr. Billroth*) berichtet über einen Fall, der
seinerzeit an der y. Langenbec k'schen Klinik beobachtet und
für Tuberculose der Brustdrüse gehalten wurde. Er betraf ein
junges, blondes, gut genährtes Mädchen, von entschieden scrophu-
lösem Habitus, welches an einer Brust mehrere hasel- bis wall-
nussgi'osse Knoten hatte, die einen gelben käsigen Eiter ent-
hielten. Durch Incision der einzelnen Herde und Gauterisation
derselben mit Arg. nitr. kam es zur Ausheilung.
Ein zweiter Fall, der in demselben Werke beschrieben
wird, bezieht sich auf eine wegen Tuberculose der Lungen am
22. August 1877 auf die LöbeTsche Abtheilung in's allgemeine
Krankenhaus aufgenommene Frau, die hier 3 Tage nach der
Aufnahme starb. Im Sectionsprotokolle (1. c.) heisst es: „Chronische
Tuberculose der Lungen mit Phthisis beider Oberlappen. Ulcera
tuberculosa im Dickdarm. Tuberculose der rechten Milch-
drüse. Beide Mammae sehr welk, klein, ihre Haut runzelig.
') Johannet, Tnmeiir tnbercnlense du sein avec tabercTilefl pnlmonaires.
Revue m6d.-chirarg. de Malgaigne. 1853. (Aus Ohnacker, Arch. f. klin.
Chir. T. 28.) •
*) Billroth, Die Krankh. d. weibl. Brnstdrase. Handbuch der Frauen-
krankheiten.
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nirgends excoriirt oder ulcerirend. Warzen nnd Warzenhöfe
dunkel pigmentirt. Die rechte Mamma etwas grösser als die linke,
einen scheibenförmigen Körper von circa 10 Cm. Durchmesser
und 2 Cm. Dicke bildend, von aussen knotig anzufühlen,
während die linke gleichmässig weich und locker ist. Beim
Durchschnitt zeigt sich die rechte Mamma durchsetzt von buchtigen,
mit käsigen, bröckligen Massen erfüllten Herden, welche hie
und da ein tuberkelartiges Fluidum im Centrum enthalten, ausser-
dem kleine, hanfkomgrosse, käsige Herde.*"
Dieser Fall wurde vom Docenten Dr. C. Breus, der die
Obduction der Leiche vornahm, als Tuberculose der Brustdrüse
diagnosticirt. Billroth hält den Fall entschieden für wahre
Tuberculose der Brustdrüse.
Nachdem im Jahre 1872 Horteloup^) über einen Fall
von Tuberculose der Brustdrüse bei einem Manne berichtet, der
auch Tuberculose der Lungen und des Hodens hatte und Riebet*)
von tuberculösen Brustdrüsengeschwülsten spricht, können als
zwei weitere verbürgte Fälle die von Dubar«) im Jahre 1881
beschriebenen angesehen werden.
1. Fall Dubar's.
21jährige, ledige Person. Hat nie geboren. Affection der
Lungenspitzen. Vor 1 Jahre Hämoptoö. Zufallige Anschwellung
der Brustdrüse. Bald darauf Schmerzen und spontaner Durch-
bruch. Entstehung von Fisteln mit violetten Hanträndern. Incision
eines Abscesses. Langwierige Eiterung. Amputation der Mamma.
Glatter Wundverlauf. Innenfläche der Abscesshöhle mit pyogener
Membran ausgekleidet. Der Inhalt gelblicher, mit käsigen Bröckeln
untermischter Eiter. Die mikroskopische Untersuchung ergab
Tuberculose.
2. Fall Dubar's.
23jährige Patientin. In der Kindheit scrophulös. Im 12. Lebens-
jahre in der linken Axilla ein faustgrosser Tumor. Spontaner
^) Hortelonp, Des tumeurs dn sein chez rhomme. Paris 1872.
^) B i c h e t , Tnmenrs tabercnlevses de la glande mammaire. Graz. d. Hdp. 188 0.
') L. E. Dnbar, Des tnbercules de la mameUe. Paris 1881.
(4)
üeber die Tüberculose der Bmatdrüse. 617
Durchbruch. Zwei Jahre Fisteln. Im 21. Lebensjahre neben dem
ersten Tnmor ein zweiter entstanden. Ebenfalls spontaner Dureh-
bmch. Fistel, die sich nach 4 Monaten sehloss. Kurz darauf gebar
Patientin und säugte das Kind durch 3 Wochen. Zehn Monate
nach ihrer Entbindung kam sie wegen eines hühnereigrossen
schmerzhaften Tumors in's Spital. Der Tumor wird während der
Menses grösser und schmerzhafter. Bald darauf Fluctuation in der
Tiefe, Incision und Heilung. Neuerdings Schwangerschaft und Ent-
bindung, worauf neue Fisteln entstehen und langwierige Eiterung
verursachen. Endlich wird die Mamma amputirt. Am Durchschnitt
zahlreiche erbsen- bis bohnengrosse Abscesse, deren Wände mit
fungösen Massen ausgekleidet sind. Der Inhalt rahmiger Eiter. Die
mikroskopische Untersuchung ergab für Tuberculose positive Befunde.
An diese beiden Fälle schliessen sich zwei
weitere von Duret^) an.
„Der eine wurde bei einem 27jährigen, früher scrophulösen
Mädchen, der andere bei einer 32jährigen Frau beobachtet, die
dreimal geboren, ihre Kinder aber nie selbst genährt hatte. Bei
beiden sind alte verkäste Drüsen am Halse, aus der Achselhöhle
und unter der Clavicula exstirpirt worden. — Auftreten von
Drüsenabscessen mit VerkäBung. Die tuberculose Natur der
Mammaabscesse ist auf Grund der histologischen Untersuchung
angenommen worden."
Ohnacker^) machte Mittheilung über 2 Fälle
von Tuberculose der Brustdrüse, wovon der erste
durch einen positiven mikroskopischen Befund, der
2. durch positiven Impfversuch verbürgt ist.
Der erste Fall betraf eine 44jährige Frau, deren Eltern
ein hohes Alter erreichten und deren Geschwister immer gesund
waren. Sie selbst soll früher nie krank gewesen sein. Gegenwärtig
ist nur über der linken Lungenspitze der Percussionsschall etwa s
gedämpfter als über der rechten. Patientin gebar 5 Kinder, das
letzte 1871 und stillte alle, ohne irgendwelche Beschwerden
^) H. Dur et, Tabercolose mammaire et ad^nite axUlaire. Le Progrös
med. Pari8 1882, Nr. 9. — Eeterat ans Virchow-Hirsch, 1882, I, pag. 289.
*) C. Ohnacker, Die Tuberculose der wcibliclieii Brastdräse. Langen-
beck's Archiv für Hin. Chir. 1882.
(5)
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618
Piskaöek.
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seitens der Brustdrüsen. Erst 10 Jahre nach der Geburt des
letzten Kindes entdeckte Patientin in der rechten Brustdrüse
einen wallnussgrossen Knoten, der ohne bekannte Veranlassung
entstanden war, alhnälig unter Schmerzen grösser und weicher
wurde und im Herbste desselben Jahres nach Anwendung von
Cataplasmen durchbrach. Entleerung geringer Mengen Eiters.
Da hierauf eine Fistel entstand, die nicht zur Ausheilung kommen
konnte, überdies eine die ganze Brustdrüse umfassende Induration
sich entwickelt hatte, entschloss man sich, in Anbetracht der lang-
dauernden , die Frau beträchtlich schwächenden Eiterung und da
das Leiden nicht im Anschlnss an ein Wochenbett, sondern
spontan entstanden war, die erkrankte Brustdrüse zu amputiren.
Dies geschah auch ; gleichzeitig wurden auch die verkästen Axillar-
drüsen entfernt.
Schon die makroskopische Betrachtung der Abscesshöhle
ergab einen Befund, der der Tuberculose entsprach : „Die Innen-
fläche mit fungösen Granulationen von grauröthlicher bis grau-
gelblicher Farbe ausgekleidet, in welchen sich bereits zahlreiche,
durchscheinende, graue Knötchen erkennen Hessen." — Von ähn-
licher BeschaflFenheit war eine zweite Abscesshöhle. — Auch an
Durchschnitten des infiltrirten Parenchyms waren Knötchen zu
sehen.
Die mikroskopische Untersuchung ergab: „Infiltration des
Brustdrüsenparenchyms und der Wand der Ausfuhrungsgänge mit
Bildung von ausgesprochenen Miliartuberkeln. Das eigenthüm-
liche mit epitheloiden und Riesenzellen durchsetzte Granulations-
gewebe, welches sowohl die degenerirten Gänge, als auch die
grossen Höhlen auskleidete, die Gefässarmuth und die damit
im Zusammenhange stehende Neigung zum Zerfall, endlich die
tuberculös-käsige Erkrankung der benachbarten Achseldrüsen. ^
Der 2. Fall Ohnacker's betraf eine 33jährige kachektisch
aussehende Frau, deren Mutter im 65. Lebensjahre an einer
Lungenkrankheit, der Vater hingegen im 66. Jahre an Wasser-
sucht (?) starb. Fat. überstand vor drei Jahren angeblich eina
Lungenentzündung. Seit ihrem 24. Lebensjahre hat sie vier
Kinder geboren, das letzte im Februar 1881. Sie stillte es selbst.
Im Mai entdeckte sie einen Knoten in der rechten Brustdrüse,
(«)
Ueber die Tuberculose der Brustdrüse. glQ
der unter Schmerzen entstand, nach einigen Tagen jedoch ver-
schwunden war.
Den Sommer hindurch hatte Fat. ihr Kind an der Brust,
musste es aber, da die Milchsecretion aufhörte, im Herbst ab-
setzen, während gleichzeitig die Brustdrüse unter Schmerzen an
Umfang zunahm.
An der chirurgischen Klinik des Herrn Prof. Böse, woselbst
Fat. Hilfe suchte, wurde zunächst eine Incision gemacht, nach-
dem ein grösserer Abscess constatirt worden war. — Da die
Beschaffenheit der Innenfläche der Abscesshöhle mit Sicherheit
auf den tuberculösen Charakter der Erkrankung schliessen Hess,
wurde die Amp. mammae vorgenommen.
Mit dem bei der Frobeincision abgegangenen Granulations-
massen wurde an einem Kaninchen in der vorderen Augenkammer
jeine Impfung vorgenommen und nach 6 Wochen sowohl in den
käsigen Knoten der Lungen und der Augen Koch'sche Bacillen
nachgewiesen.
Obzwar der mikroskopische Befund nicht mit positiver
Sicherheit einen Schluss auf Tuberculose gestattete , so wurde
doch durch den positiven Impfversuch der Beweis für die Tuber-
culose geliefert. Der erste Fall dieser Art.
Der nächste Fall betraf einen Mann und ist
von Foirifer^) beschrieben worden. Es ist dies der
zweite bekannt gewordene Fall von Tuberculose
der Brustdrüse beim Manne. (Den ersten Fall beschreibt
Horteloup. (Siehe oben.)
Fatient 46 Jahre. Seit drei Monaten bemerkte er in der
rechten Brustdrüse einen querverlaufenden, sich gegen die Axilla
erstreckenden, über dem Fectoralis verschieblichen, druckempfind-
lichen Tumor.
Wegen Verdacht auf Syphilis wurde zunächst eine ent-
sprechende Cur eingeleitet, da jedoch der Tumor rasch zunahm,
schritt man zur Exstirpation. Der Tumor bestand aus einem
Hauptknoten, der käsigen, bröckligen Eiter enthielt. Die Wan-
^) Paul Poiriör, Des tnmenrs du sein chez Thomme. Thtoe. Paris 1883.
(Centralblatt filr Chir. 1884.)
(7)
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620
Piskaöek.
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düngen der Höhle waren von fungösen Membranen aasgekleidet.
Rings um diesen Knoten waren kleinere Infiltrate. Die mikro-
skopische Untersuchung ergab den Nachweis von epitheloiden
Zellen und Riesenzellen. Die Gefässe waren meist obliterirt, ihre
Wandungen verdickt.
Einen weiteren von Verneuil beobachteten Fall
beschreibt Verchfere.^)
Orthmann theilt darüber mit, „dass der mikroskopische
Nachweis von niederen Organismen in der Mamma geliefert wurde ^.
Nach Verneuil waren die Milch^nge und Drüsencanälchen
die Einbruchspforte für die Organismen.
Nepveu fand die Acini mit Mikroben angefüllt, die Koch-
sehen Bacillen glichen.
Die letzten zwei mir bekannt gewordenen Fälle
wurden von Orthmann^) beschrieben und sind im
Folgenden kurz wiedergegeben.
1. Fall. 42jähr. Frau, die vor 16 Jahren ein Kind geboren
hat. Im Jahre 1883 bemerkte Fat. ein Knötchen in der linken
Brustdrüse, das sie selbst eröffiiete und etwas Eiter entleerte.
Da die Geschwulst zunahm, consultirte sie einen Arzt, der eine
ausgiebige Incision machte und viel Eiter entleerte. Wegen Offen-
bleiben der Wunde und verzögerter Heilung, Aufiaahme auf einer
chirurgischen Klinik. Amputation. Zwischen dem Pectoralis und
der linken Brustdrüse eine grosse Abscesshöhle. Der mikro-
skopische Befund lehrte , dass von hier ' aus sich die Infiltration
in das Innere der Brustdrüse erstreckte und auf die Drüsenläppchen
und Ausftihrungscanälchen übergriff. Nachweis von einzeln und
in Gruppen stehenden Riesenzellen. Tnberkelbacillen wurden im
Brustdrüsengewebe nicht nachgewiesen, wohl aber in den ver-
kästen Axillardrüsen. Letztere zeigen mikroskopisch ausserdem
RundzeUeninfiltration und Riesenzellen.
^) F. Verchöre, Des portes d'entr^e de la tnberculose. Th^se pour le
doctorat en m^decin. Paris 1884. Ans Orthmann's Pnblication über Taber-
cQlose der Brustdrüse. (Virch. Arcb. Bd. 100.)
*) Dr. E. G. Orthmann, Ueber Tubercnlose der weiblichen Brnstdrüse
mit besonderer Berücksichtigung der RiesenzeUenbildung. Yirchov's Archiv.
1886, Bd. 100.
(8)
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Ueber die Tubercnlose der Brustdrüse. 621
■r:
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2. Fall. 44 J. alte Frau. Sie litt seit Herbst 1883 an Kurz- 1
athmigkeit und musste wegen dieser Beschwerden im März 1884
das Spital aufsuchen. lü der rechten Brustdrüse war ein Tumor
fühlbar, welcher den Verdacht beginnenden Carcinoms erregte
und nach der nachträglichen Erkundigung bei dem Ehemanne
seit 1^4 Jahren bestanden haben soll. Die Frau starb im Juni 1884.
Sectionsbefund: „Tuberculöse Pericarditis. Verkäsung
der Bronchial- und Mediastinaldrüsen. Disseminirte Tuberculose
der Lungen. Tuberkeln in der Leber und Milz. Stauungsleber.
Tuberculose des Peritoneums, besonders im Douglas^schen Kaume.
Brustdrüsen atrophisch, von zahlreichen Strängen, welche ver-
änderte Ausführungsgänge darstellen, durchsetzt. Dieselben sind
von ziemlich derber Beschaffenheit und dicker Wandung. Im
Inneren finden -sich eingedickte käsige Massen. Die in der Nähe
der Warze gelegenen grösseren Ausführungsgänge sind zum
grössten Theile vollkommen frei, mit weit offen stehendem Lumen
und ganz glatten Wandungen.'
Die mikroskopische Untersuchung lehrt, dass man es hier
vorzugsweise mit einer Tuberculose der Ausflihrungsgänge zu
thun hat. Das spärlich vorhandene Drüsengewebe zeigt ver-
schiedene Grade der Infiltration mit Rundzellen, epitheloiden und
Biesenzellen. In den Biesenzellen wurden nach langem
vergeblichen Suchen Tuberkelbacillen gefunden.
Grösse und Gestalt derselben wechselten mannig-
faltig.
n. Eigene Castiistik.
Dienun folgenden 8Fällebildeneinen weiteren
Beitrag zur Gasuistik der Mammatuberculose.
1. Fall (hierzu Taf. XX VH— XXIX): M. S., 38 Jahre alt,
aus Sieghardtskirchen in N.-Oe. — Pat. wurde am 16. Februar 1884
auf die Klinik des Herrn Prof. Albert aufgenommen.
Die Kranke ist unverheiratet und hat niemals geboren.
Ueber die Todesursache des Vaters weiss Pat. nichts anzugeben.
Die Mutter starb an keinem Lungenleiden. Geschwister hat sie
keine. Vom 7. bis zum 32. Lebensjahre litt sie an Drüsenschwellungen,
die im Winter an verschiedenen Körperstellen auftraten. Es kam
(9)
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622 Piskadek.
ZU spontanem Durchbrach und gegen Ende des Frühjahrs stets
zur Ausheilung. Vom 32. bis 37. Lehensjahre hlieh die Kranke
von Drüseneiterungen verschont. Im Frühjahre 1883 kam es neuer-
lich zu Drüsenschwellungen, und zwar in der rechten Achselhöhle
und bald darauf zu spontanem Auibruch. Die Fistel heilte zwar
bald, doch entstand vor sechs Monaten abermals eine Schwellung
neben der zugeheilten Fistel, es kam zu spontanem Durch brache
und besteht an dieser Stelle noch jetzt Entleerang molkigen, mit
käsigen Flocken untermischten Eiters. Vor 3 Monaten bemerkte
die Kranke einen über haselnussgrossen Knoten in der rechten
Brastdrüse. Dieser Knoten nahm langsam zu , ohne erhebliche
Schmerzen zu verursachen. Nach Anwendung von Gataplasmen
erweichte derselbe und in diesem Znstande kam die Kranke auf
die Klinik.
Status praes. Schwächliche, lymphatisch aussehende,
hysterische Person. Haare braun, Pupillen gleichweit, reagiren gut.
Schleimhäute des Gesichtes blassroth. Hautdecken blass, welk,
trocken. Fliegende Röthe im Gesichte. Hauttemperatur nicht
erhöht. Von früheren Drüseneiterungen herstammend: 6 Narben
im Gesicht, 3 unter dem Kinn, 8 am Hals, 2 über derClavicula
dextra.
Supraclaviculargruben massig markirt, Thorax schmal, kurz,
ziemlich flach. Respiration costo-abdominal, gleichzeitig.
In den Supraclaviculargruben voller, lauter Schall; ebenso
auf den Clavikeln. Unter der rechten Glavicula lauter normaler
Schall ; links etwas kürzer. Sonst überall normaler lauter Schall.
Ueber der linken Lungenspitze vorn lautes Vesiculärathmen,
rechts abgeschwächtes Athmen.
R. h. 0. etwas kürzerer (Musculatur stärker entwickelt),
1. h. 0. voller Percussionsschall.
L. h. 0. über den Spitzen verlängertes Exspirium.
Am Herzen nichts Abnormes. Das ganze Befinden ohne sub-
jective Beschwerden. Im Sputum keine Bacillen.
In der rechten Achselgrube eine über wallnussgrosse derbe
Schwellung. In der Kuppe der Achselgrabe zwei Fisteln, durch
welche man einige Gentimeter weit nach vorne oben gelangen
kann. Die rechte Brastdrüse etwas vergrössert und vorstehend.
V
? sy
üeber die Tnbercalose der Bmstdrüse. 623
Die Haut über derselben im äusseren oberen Viertel neben
der Areola, an einer über kreuzergrossen Stelle bläulich verfärbt.
An dieser Stelle lässt sich auch, insbesondere bei seitlicher
Compression der Brustdrüse, deutliche Fluctuation nachweisen.
Beim Betasten lässt sich durch die Haut ein kindsfaustgrosser,
derber, mit dem Pectoralis nicht verwachsener Tumor constatiren.
Nachdem die Diagnose auf Tuberculose der Brustdrüse durch
Herrn Prof. Albert gemacht wurde und die Frau durch die
langdauemde Eiterung aus den Fistelgängen bereits stark von
Kräften gekommen war, willigte sie in den Vorschlag einer
Amputation der erkrankten Brustdrüse ein.
Am 21. Februar 1884 Ablatio mammae und Exstirpation
der Achseldrüsen. In der Achselhöhle wurden dann die Hautränder
mit mehreren Enopfnähten vereinigt und hierauf ein antiseptischer
Verband angelegt.
An der in der Richtung der Abscesshöhle durchschnittenen
Brustdrüse (Taf. XXVU in der Richtung ab) liess sich nun eine
bohnengrosse , peripheriewärts gelegene (A) und eine wallnuss-
grosse (Ay) das Drüsenparenchym und das interacinäse Bindegewebe
betreffende Abscesshöhle nachweisen. Letztere entsprach der aussen
sichtbaren, bläulich verfärbten Stelle, an welcher die Fluctuation
deutlich nachweisbar war.
Der Inhalt der Abscesshöhlen war dicker, schmutzig-röthlicher
Eiter. Ihre Innenwände waren von einer violett-grauen, opaken,
leicht abstreifbaren Membran ausgekleidet, die von einer Unzahl
gelblicher, miliarer Knötchen durchsetzt war. Aehnliche, bis hanf-
komgrosse, Eiter enthaltende Knötchen waren in grosser Menge,
und zwar herdweise am Durchschnitt des Präparates sichtbar.
Die erbsen- bis bohnengrossen Achseldrüsen zeigten scharf um-
schriebene käsige Einlagerungen, die sich mit dem Schaft des
Scalpelles aus dem übrigen Drüsenparenchym herausheben Hessen.
Die Untersuchung des Eiters auf Tuberkelbacillen ergab, trotz
vieler, theils von mir, theils von CoUegen, unter genauester Be-
obachtung der vorgeschriebenen Regeln angefertigter Präparate,
negative Resultate.
H is tologisch-bacteriologisch er Befund. Derhisto-
logische Befund ist unter allen Umständen als ein positiver anzu-
(11)
624 PiskiCak.
gehen. Es wurden gegen 400 Schnitte geoan nntersocLt, die von
den verschiedenatenPartien der amputirten Brustdrüse herstammten.
Die Uni|:ebnng der Abscessböhlen , sowie das Stratam zwischen
beiden zeigten eine ununterbrochene tubercalüae Infiltration,
während weiter entfernt einzelne grössere und kleinere tnber-
cnlSse Herde wahrnehmbar waren. Nach innen ron der Mamille
war der grösste Theil normal beschafifenes Drüsengewebe, sowie
ein compactes bindegewebiges inliltrationsfreies interacinöses
Stroma. Die grösseren Gänge der normal erhaltenen Tbeile der
Drttse sind mit geschichtetem Pfiasterepithel ausgekleidet, während
die feineren Aestchen, sowie die Acini ein cnbisches Epithel be-
sitzen. Die aus der Umgebung der Abscesshöhlen angefertigten
Präparate zeigen, doss das Drüsengewebe, sammt dem dazu
gehörigen bindegewebigen Stroma durch knötchenförmige klein-
zellige gefässlose Herde (Tuberkel), die durch eine dichte Za-
sammenlageruDg der an der Peripherie gelegenen scharf gegen
die Umgebung abgegrenzt sind, verdrängt wird. Die kleinzelligen
lymphoiden Tuberkel sind Torwiegend. Einzelne Gruppen von
Tnberkelknötchen imponiren durch ihre doldenartigen Anordnungen,
als wären sie dlrect ans einem DrUsenlappen in der Weise ent-
standen, dass an Stelle eines jeden Acinus ein Tnberkelknötchen
getreten wäre. An vielen Stellen sieht man noch Uebergangs-
formen, indem mitten in einem Infiltrationsherd ein oder mehrere
mit desquamirten Epithelzellen erfüllte Acini liegen , wovon ein-
zelne die Uebergangsform zeigen , indem ausser einigen des-
quamirten Epithelzellen das übrige Lumen des Acinus mit einer
Rundzellenmasse erAlllt ist. Dass der Proce^ in unserem Falle
ein seit längerer Zeit bestehender sein moss, erhellt daraus, dass
die kleinzellige Infiltration die vorherrschende ist und dass, ins-
besondere an der Peripherie des DrUsengewebes, bereits eine
regressive Metamorphose platzgegriffen hat. Sie gibt sich kund
durch die hyaline Beschaffenheit der Knölchenmitten , durch das
verschwommene Aussehen der dicht aneinander gereihten Körnchen,
durch spärliches Vorhandensein des Beticulnms und durch Zerfall
und Verkäsung der Rnötchenmitten. In den meisten Tuberkelknötcben
haben die hyalinen, verschwommenen mittleren Partien die Farbe
nicht aufgenommen, so dass die pcripheriewärts gelegenen Zellen
I' .
Ml
Üeber die Tnberc alose der Brustdrüse. 625
tief gefärbt erscheinen, während die gegen das Centrum gelegenen
immer blässer werden, und die Mitte des Knötchens eine lichte
Scheibe darstellt, mag man mit welcher Farbe immer gefärbt haben,
Riesenzellen sind in einer überaus grossen Menge zu sehen. Sie
haben eine runde oder ovale Form und sind mit und ohne Fortsätze.
Von Schnitten, die aus der Umgebung der Abscesshöhle oder
aus dem Gewebsraum zwischen beiden stammten, ist selten einer
gewesen, der nicht mehrere Riesenzellen enthalten hätte. An
vielen Schnitten sind bei schwacher Vergrösserung (Reichert,
Oc. 4, Obj. 4) in einem Sehfelde bis zu zehn Riesenzellen zu
sehen. Ihr Sitz entweder in der im Gewebe zerstreuten Infiltration,
was der häufigere Fall ist, oder in Tuberkelknötchen. Weniger
ergiebig war das Suchen nach Tuberkelbacillen. Trotz peinlichster
Beobachtung aller Vorschriften bei der Anfertigung von Bacillen-
Präparaten ist es mir unter circa SOO Schnitten nur in zwei
Riesenzellen, hie und da im infiltrirten Glewebe und einmal in
einem käsigen Knoten gelungen, Bacillen zu finden, welche alle
jedoch verblasst sind, daher zur Anfertigung von Zeichnungen
nicht geeignet erscheinen, Herr Regimentsarzt Dr. Kowalski,
sowie Herr Dr. A m r u s hatten die Güte, eine grosse Anzahl von
Präparaten ebenfalls auf ein etwaiges Vorhandensein von Tuberkel-
bacillen zu färben. Von circa 80 Schnitten, die Herr Regiments-
arzt Kowalski untersucht hat, ist es ihm nur in einem Schnitte
gelungen, in einem Tuberkelknötchen eine Gruppe von Bacillen
nachzuweisen, die ich vor ihrem Verblassen noch zu sehen Gelegen«
heit hatte. Es waren Bacillen, an welchen Sporen und eine
deutliche Hülle zu sehen war, die jedoch, wie Herr Regiments-
arzt Dr. Kowalski selbst betont hat, breiter und länger waren
als die K 0 c haschen Bacillen aus tuberculösen Sputis. Bei abermals
vorgenommener Färbung dieser Schnitte konnte man keine Bacillen
mehr nachweisen.
Herr Dr. Amrus war ebenfalls so freundlich, eine Anzahl
von Präparaten zu untersuchen ^nd hat in zwei Präparaten
Bacillen nachgewiesen. Eines davon wurde in Canadabalsam ein-
gebettet und eine Zeichnung (Taf. XXIX, Fig. 1) angefertigt. Im
infiltrirten Gewebe in der Nähe einer epitheloiden Zelle befindet
sich eine Gruppe von sechs Bacillen, wovon drei die Grösse und
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das Aussehen von Bacillen besitzen, wie sie sich in Auswürfen
von Tuberculosen zeigen, während die drei anderen, die knapp
neben den ersten sich befinden, länger und breiter sind als diese.
Alle haben Sporen und eine deutlich wahrnehmbare Hülle.
Nach einer mir von der Patientin mitgetheilten Nachricht
ist seit Frühjahr 1886 die zweite Brustdrüse ebenfalls erkrankt,
ihr Allgemeinbefinden ein schlechtes.
2. Fall. M. Z., 52 Jahre alt, Tischlersgattin aus Losenstein
bei Steyr, wurde am 6. Mai 1886 auf die Klinik des Herrn
Prof. Albert aufgenommen. Pat. hat 6 Kinder geboren, das
letzte vor 15 Jahren. Die Kinder sind alle am Leben, nur leidet
das letzte an Conjunctivitis lymphatica. Bis zum 42. Jahre soll
Pat. immer gesund gewesen sein. Im 42. Jahre erkrankte sie
angeblich an Scharlach und bekam im Anschlüsse daran Nephritis.
Sie war damals 10 Wochen bettlägerig. Pat. säugte ihre Kinder
selbst und hatte immer gesunde Brüste. Ende des J. 1885 be-
merkte Pat. unter der rechten Papille einen haselnussgrossen
Knoten, dessen Entstehung sie mit einem, vor drei Wochen er-
folgten Trauma der rechten Brustdrüse in Zusammenhang brachte.
Der Knoten wurde immer grösser und ist nach Application ron
Cataplasmen aufgegangen. Es entstanden zwei Fisteln, während
gleichzeitig die Geschwulst bis zur Gänseeigrösse anwuchs. In
letzterer Zeit ist Pat. trotz guten Appetits stark abgemagert. Pat.
hatte 7 Geschwister, die alle in der Kindheit starben, eines davon
sicher an Tuberculose der Lungen. Ihr Vater starb im 38, Lebens-
jahre gleichfalls an Tuberculose. Pat. hustet seit 10 Jahren, hat
aber dabei keinen Auswurf.
Stat. praes. Pat. gross, mager, blass. Massig vergrösserte
Schilddrüse. Herzdämpfung vergrössert. Systolisches Geräusch
an der Herzspitze. Lunge: Beiderseits Spitzendämpftmg , links
rauhes In- und Exspirium, rechts bronchiales Exspirium. Vorne
links sehr rauhes In- und Exspirium, rechts bronchiales In- und
rauhes Exspirium. Keine Rasselgeräusche.
Bauch etwas aufgetrieben (bei täglichem Stuhlgang). Füsse
ödematös. Der Harn, bis auf etwas vermehrte Phosphate, normal.
Rechte Brustdrüse vergrössert und prominenter. Die untere
Hälfte der Drttse ersetzt durch eine circa 5 Cm. breite, 8 Cm.
(14)
1
üeber die TuberctQose der Brustdrüse.
627
lange, querliegende, massig derbe, bei Druck etwas schmerzhafte,
nach allen Richtungen auf der Unterlage leicht verschiebliche,
allmälig in's gesunde Parenchym übergehende Masse, von gleich-
massiger Oberfläche. Rechts unten von der Papille ein 3 Cm.
langes, fast lineares, von violetten unterminirten Rändern um-
gebenes Geschwür. Auf Druck lässt sich aus einer Fistel seröser,
mit käsigen Bröckeln untermischter Eiter entleeren. Ein ähnliches
Geschwür nach innen unten von der Papille. Zwei haselnuss-
grosse Drüsen hinter dem Pectoralisrand in der rechten Axilla
verschieblich, derb, nicht schmerzhaft.
Am 12. Mai wurde die erkrankte Mamma amputirt. Die
früher tastbar gewesenen Axillardrtisen konnten nicht gefunden
werden. Sublimatverband. Schon die makroskopische Betrachtung
der amputirten und in der Richtung des Abscesses aufgeschnittenen
Brustdrüse Hess keinen Zweifel zu, dass es sich um einen Fall
von w^ahrer Tuberculose der Brustdrüse handle. Der eben er-
wähnte seröse Eiter bildete mit grösseren und kleineren käsigen
Massen den Inhalt der Abscesshöhle. Die Wandungen derselben
waren mit einer grau-röthlichen, leicht abstreifbaren, von miliaren
Knötchen durchsetzten Membran ausgekleidet. Kleinere Abscesse
waren am Durchschnitt im Bereiche des infiltrirten Gewebes zu
sehen.
Von dem nach aussen von der Papille gelegenen Geschwür
konnte man mit einer Sonde in die Abscesshöhle gelangen.
Die Untersuchung des Eiters und der käsigen Massen
auf Tuberkelbacillen ergab ein negatives Resultat. Hingegen
zeigte die histologische Untersuchimg alle Eigenschaften der
Tuberculose. Kleinzellige Infiltration im ganzen Umkreis der
Abscesshöhle, sowohl im interacinösen Bindegewebe, als auch in
der etwas atrophischen Drüsensubstanz selbst. In diesen infiltrirten
Geweben finden sich zahlreiche, zum grossen Theil in der Mitte
käsig zerfallene Tuberkelknötchen. Riesenzellen findet man sowohl
in den Tuberkelknötchen, als auch zerstreut in der kleinzelligen
Infiltration. Sie sind theils einzeln, theils in Gruppen bis zu 5,
letztere meist in den Knötchen zu sehen. Die meisten Drüsen-
läppchen sind in der Umgebung der Abscesshöhle durch die
Infiltrationsmassen verdrängt, so dass von der Stmctur der Acini
(15)
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628 PiskaCek.
und der Ansführnngsgänge nichts zu erkennen ist Weiter peri-
pberiewärts wird die kleinzellige Infiltration diffuser und sind
meist die grossen AusfbhruDgsgänge sowohl mit Pfropfen zelliger
Massen erfüllt, als auch in dieselben eingeschlossen. Aehnlich
verhalten sich hier auch die Acini, indem auch in denselben
Pfropfe zu sehen sind, die vom gequollenen Epithel abgehoben
erscheinen, zum Theil dasselbe vollständig ersetzen, so dass hier
[^; die Infiltration sich in's interacinöse Bindegewebe erstreckt. Die
Gefasse sind nur spärlich vorhanden und da, wo sie vor-
handen sind, in ihren Wandungen verdickt. Die kleinzellige
Infiltration erstreckt sich weiter peripherwärts bis zwischen die
Fettläppchen. Bacillen konnten auch im Gewebe nicht nach-
gewiesen werden.
In den übrigen 6 Fällen, wobei kein operativer
Eingriff vorgenommen wurde, will ich mich kürzer
fassen und nur die zur Feststellung der Diagnose^
nöthigen Momente hervorheben.
3. Fall. M. G., 43 J. alt, Beamtensgattin aus Wien, stellte sich
am 1. Juli 1883 in der Ambulanz der Prof. A 1 b e r tischen Klinik
vor. Pat. soll von gesunden Eltern stammen. Vor 15 Jahren über-
stand sie einen Typhus. Vor 13 Jahren kurz nach der Hochzeit
Hämoptoe, die sich dann öfter wiederholte. Ein Jahr benöthigte
sie, bevor sie sich halbwegs erholte. Sie gebar dann in 12 Jahren
8 Kinder und säugte alle allein. Das 6. und 8. Kind starben
nach einigen Monaten an Meningitis tuberculosa. Vi J^hre nach
der Geburt des letzten Kindes (1880) bemerkte Pat. angeblich
nach einem Trauma eine Anschwellung in der linken Axilla, die
mit einer gleichzeitigen Anschwellung des linken Schultergelenkes
einherging. Einige Wochen darauf traten Schmerzen im äusseren
oberen Viertel der linken Mamma auf. Die linke Brustdrüse
soll bis über 2 mannsfaustgross angeschwollen gewesen sein. Dabei
grosse Schmerzen. An einzelnen Stellen kam es zur Röthung der
Haut und zu spontanem Durchbruche. Ausserdem eröffnete ein
Arzt einen Abscess, aus dem sich eine grosse Quantität angeblich
dicken Eiters entleei*te. Die Eiterung besteht seit dieser Zeit
v^ (2 Jahre) fort, nur dass etwa seit einem Jahre der Eiter eine
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üeber die Tabercnlose der Brustdrüse. g^Q
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seröse Beschaffenheit angenommen hat und mit käsigen Bröckeln
untermischt ist.
Stat. praes. Schwächlich, anämisch, in der Ernährung im
höchsten Grade herabgekommen, lieber den Lungenspitzeti Däm-
pAing. Rechts h. o. bronchiales In- und Exspirium, links h. o. ver-
schärftes In- und bronchiales Exspirium. Im Sputum Koch'sche i
Bacillen. Am Herzen nichts Abnormes. Rechte Mamma massig
entwickelt und schlaff herabhängend. Die linke Mamma in
ihrer Substanz gänzlich atrophisch. Nur lateralwärts sind noch
einzelne Reste der Drüsensubstanz durch die Haut durchzufühlen.
An der Oberfläche der die Mamma bedeckenden Haut mehrere
eingezogene violette Narben, in deren Mitte Fisteln mit violetten,
unterminirten Rändern. Nach innen von der Papille ein 10 Gm.
langes, 3 Cm. breites, durch eine violette HautbrUcke in
2 Theile getheiltes Geschwür, an dessen oberem Rande die Sonde
3 Cm. weit in die Tiefe vorgeschoben werden kann, ohne auf
einen Knochen zu stossen. Aus den Fisteln sickert continuirlich
molkiger, mit feinen käsigen Bröckeln untermischter Eiter. Die
Papille in einer eingezogenen narbigen Hautfalte fast ganz ver-
steckt. Hier war ebenfalls eine Fistel, die vor einem Jahre zur
Ausheilung kam. Die Untersuchung des Eiters auf Bacillen ergab
ein negatives Resultat.
An der Frau wird wegen ihres hochgradigen Marasmus kein
operativer Eingriff vorgenommen. Es werden nur in die Fisteln
Jodoformstifte eingeführt, im Uebrigen von Zeit zu Zeit Jodoform-
verbände gewechselt.
4. F a 1 1. F. St., 32 J. alt, aus Adas-Tevel in Ungarn, stellte sich
an der Klinik am 6. Juni 1884 vor. Pat. hat 7mal geboren. Drei
Kinder sind gestorben, davon eines im 3. Jahre an Lungentuberculose.
Pat. hat einmal Zwillinge geboren. Im 5. Monate dieser Schwanger-
schaft Blutung. Die Geburt verlief spontan, im Wochenbett Para-
metritis, welche die Kranke ein ganzes Jahr an's Bett fesselte.
Im August 1884 eine Molenschwangerschaft. Während dieser Eczem
des linken Warzenhofes. Nachdem die Mole auf operativem Wege
entfernt war, bekam Pat. eine eitrige Entzündung der rechten
Brustdrüse. Spontaner Durchbruch oberhalb der Papille. Nach
3 Wochen musste wegen eines unterhalb der Papille entstandenen
Med. Jahrbücher. 1887. 50 (i?)
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630
Piakaöek.
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Abscesses eine tiefe Incision gemacht werden. Durch die hierauf
zurückgebliebene Fistel entleerte sich der Eiter mangelhaft, so
dass es wie heute zu Eiterverhaltungen kam.
Fat. hat nie Bluthusten gehabt.
Stat. praes. Fat. massig gut genährt, blass. lieber den
Lungenspitzen hinten gedämpfter Fercussionsschall, sowie beider-
seits bronchiales Exspirium. Im Sputum Bacillen. Am Herzen
nichts Abnormes. An der sonst gut entwickelten linken Brust
Eczem. Die rechte Mamma prominenter, in ihrer Substanz sich
härter anfUhlend, über dem Fectoralis verschieblich, von mehreren
Geschwüren bedeckt. Die Ränder der Geschwüre sind dünn, violett
verfärbt, unterminirt. Den Geschwüren entsprechen indurirte Par-
tien der Mamma, in deren Substanz man auch durch Fisteln mit
Sonden mehrere Gentimeter tief gelangen kann. Oberhalb der Fapille
ein 12 Cm. langer Fistelgang. An anderen Stellen sind eingezogene
Narben (so um die Fapille) vorhanden, denen auch Verhärtungen
entsprechen. Aus den Fisteln lässt sich seröser, mit käsigen Massen
untermischter Eiter in grösserer Quantität entleeren. Keine Drüsen-
schwellungen in der Axilla.
Im Eiter keine Bacillen nachgewiesen.
Da Fatientin nicht an der Klinik verbleiben will, wird ein
allgemeines Regimen angeordnet.
5. Fall. A. Gz., 30 Jahre alt, verheiratet, in Oberdöbling
wohnhaft, Gärtnersgattin, kam in die Ambulanz der Frof. Alb e r t-
schen Klinik im Juni 1884. Sie gab an, dass sie immer gesund
gewesen sei. Die Eltern sind noch am Leben ; der Vater 67, die
Mutter 63 Jahre und gesund. Sechs Geschwister der Fatientin
sind gleichfalls inmier gesund gewesen. Fat. hat zweimal geboren,
das erstemal vor 4, das ander emal vor P/a Jahren. Die Kinder
sind gesund. Beide wurden von der Mutter selbst gestillt; das
erste Kind durch 1 1 Monate mit beiden Brüsten ohne irgendwelche
Beschwerden seitens derselben.
Das zweite Kind stillte Patientin nur mit der rechten Brust,
weil das Kind die flache Warze der linken Brust nicht fassen
konnte. Wegen starker Spannung in dieser Brustdrüse drückte
Fatientin täglich eine Quantität Milch heraus. Nach 3 Wochen
schwoll jedoch die linke Brustdrüse unter Schmerzen an und
(18)
1''
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üeber die Tubercnlose der Brastdrfise. 631
fählte sich dabei sehr prall nnd hart an. Die Resistenz war ins-
besondere im äusseren unteren Viertel. Patientin machte sich
feuchtwarme Ueberschläge und als die Schmerzen nicht aufhörten,
Hess sie einen Arzt holen, der links unten von der Areola eine
Incision machte. Statt des erwarteten Eiters, entleerte sich jedoch
Blut und eine reichliche Menge Milch, die fortan durch 8 Tage
rein heraussickerte, vom 9. Tage angefangen mit Eiter unter-
nuscht war und durch 10 Monate in dieser Weise bis zu der
Zeit, wo die Frau das Kind absetzte, herausfloss. Hierauf hörte
die Milchsecretion auf und es kam von nun an aus der Fistel-
öffnung Eiter, der anfan^ eine dickliche, später seröse Beschaffen-
heit hatte. Hie und da entleerte sich auch Blut mit dem Eiter.
Bald nach der vorhin erwähnten Incision in die Brustdrüse ent-
stand in der rechten Fossa supraclavicularis eine aus 3 Höckern
bestehende Anschwellung, die keine Schmerzen verursachte. Die
Geschwulst war anfangs hart, nach 2 Monaten erweichte sie auf
Application von warmen Umschlägen, es bildeten sich Eiterpunkte,
schliesslich kam es zum Durchbruche. Die entleerten Massen be-
standen aus serösem, mit bröckligen Massen untermischtem Eiter.
Etwa 4 Monate nach der Entstehung der Geschwulst war die
Stelle übemarbt. Status praesens : Kräftig gebaute, gut genährte,
an den Wangen leicht geröthete Frau. An der Lunge und dem
Herzen nichts Abnormes nachweisbar. In den Sputis keine Bacillen.
Die rechte Mamma schlaff herabhängend. Das Drüsengewebe
derselben reichlich entwickelt. Die linke Mamma fast ebenso
gross. Im äusseren unteren Viertel ein etwa wallnnssgrosser
derb elastischer Knoten, der von normaler Haut bedeckt ist.
Links unten von der Areola ein circa erbsengrosses Geschwür
mit unterminirten, blauvioletten Rändern, auf dessen Grunde eine
feine Oeffiiung durch die eine Knopfsonde 3 Cm. tief n^ch oben
innen sich vorschieben lässt. Aus dieser Oeffnung ^iol^ert conti-
nuirlich seröser Eiter. In der Fossa supraclavicularis, : i;echtei|8eits
eine über kreuzergrosse violette , strahlige Narbe^ D^aa : Peripst
der rechten Glavicula unter dieser Narbe etwas verdickt.
Die Untersuchung des Eiters auf Tuberkelbaci^enjergab ßin
negatives Resultat. Da der Process keine weiterei^ Dimensionen
angenommen hat , die Frau im Uebrigen sich wohl befindet UQd
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632 PiBksöek.
ans der Anaheilong der Sapraclavicnlardrüsen rechterseits ein
guter Heilnngstrieb vorhanden za sein scheint, wnrde die Ftstel-
öffanng mit dem F a q n e 1 i n'Bchea Brenner canterisirt und hierauf
von Zeit zn Zeit Jodoformverbände angelegt. Nach einem Viertel-
jahre hörte die Secretion anf, die Fistel schloss sich und es blieb
eine violette Narbe znrlick.
6. F aj 1. (Hiezn Taf. XXX.) C. T., 34 Jahre alt, aus Kremsier.
Patientin ist verheiratet, Mutter von 3 Kindern, die alle am Leben
sind , das letztemal vor 3 Jahren geboren. Ein Mädchen hat
Maculae corneae. FatientiQ hat bis zum 12. Lebensjahre gekränkelt,
soll sehr schwach gewesen sein und viel gehastet haben. Vor
12 Jahren ttherstand sie Variola. Vor einem Jahre bekam sie
Schmerzen im inneren oberen Viertel der linken Brust , welche
mit einer Anscbwellnng dieses Theiles der Brustdrüse einher-
gingen. Es wurden allerlei Salben äpplicirt , bis es schliesslich
an dieser Stelle zum Durchbmche kam. Derselbe erfolgte an
2 Stellen, wovon eine an der Peripherie der Brustdrüse bereits
nach einigen Wochen zuheilte, während sich aus einer 2. Durch-
bruchsöfifhung neben der Mamilla (Mai 1884) molkiger Eiter in
grösserer Quantität entleert. Vor etwa 3 Monaten kam es zu
einer circnmscripteD, wallnnssgrossen Verliärtnng, etwa 8 Cm.
ober der Mamilla. Die Hant verfärbte sich an dieser Stelle
bläulich, und nach etwa sechs Wochen kam es auch an dieser
Stelle zum Durchbruche molkigen Eiters. Seit einigen Wochen
nächtliche Schweisse. Im Sputum BaciUen.
Status praesens: Mittelgrosse, anämische, kränklich aus-
sehende Frau. Ueber den Lungenspitzen gedämpfter Percussious-
schall. Linkerseits bronchiales In- und Exspirium, rechterseits
verschärftes In- und bronchiales Exspirium, Herz gesund. Rechte
Mamma atrophisch, schlaff herabhängend. An der linken Brust-
driise findet man nach aussen unten von der Areola eine strahlige
' Viislette, die Haut nach innen einziehende Narbe, in deren Tiefe
"eich eiri'^rbsCngrosses, von violetten Rändern umgebenes Geschwür
befindet,' an dessen Grunde eine Fistelöffnung ist , durch welche
' die Sonde 6 Cm. nach innen gegen die Drusensubstanz vordringen
'kann.j üGin .ähnlicher, seit einem Jahre bestehender 6 Cm. langer
Jilstelga'ng befindet sich nach innen oben von der Areola. Aus
1
üeber die Tnbercnlose der Brnstdr&se.
633
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dieser Fistel entleert sich seröser Eiter in reichlicher Menge seit
einem Jahre.
Direct oberhalb der Mamille ein längliches von blau-violetten
Rändern umgebenes Geschwür , dessen Grund serösen Eiter ab-
sondert. In der Axiila eine etwa haselnussgrosse Drüse. Fat. wird
an der Klinik aufgenommen, hier die Fisteln und Geschwüre mit
scharfen Löffeln ausgekratzt, mit dem Paquelin kauterisirt, im
Uebrigen mit Jodoform behandelt. Nach 6 Wochen konnte Fat.
geheilt entlassen werden.
Am 23. April 1885 stellte sich Fat. wegen Schmerzen in der
Gegend der 6. linken Kippe abermals an der Klinik vor. Die
Brustdrüse war wie zur Zeit der Entlassung im vorigen Jahre.
Da, wo die Durchbrüche erfolgten, waren tiberall violette Narben
zu sehen. An der schmerzhaften Rippe nichts Fathologisches
nachweisbar.
7, Fall. Marie W., 27 J., Taglöhnerin aus Wildungsmauer
bei Brück a* d. L., kam in die Ambulanz der Frof. A 1 b e r t'schen
Klinik am 23. Juli 1884.
Fat. hat V Male geboren. 5 Kinder sind am Leben und
angeblich alle gesund. Zwei davon sind gestorben, eines davon
an Gonvulsionen (Meningitis tuberculos<a ?) im 3. Jahre, das zweite
mit 1^/a Jahren an Phthise. Dieses Kind war ausserdem hydro-
cephalisch und rhachitisch. In der Reihenfolge waren die ver-
storbenen Kinder das dritte und vierte. Nach dem ersten Kinde
Mastitis links, die in Eiterung überging. Nur das fünfte Kind an
der Brust gehabt.
Die Eltern der Fat. sind gestorben. Fat. hat sie nicht ge-
kannt, weiss auch nicht die Todesursache anzugeben.
Vor 8 Wochen hat Fat. zuletzt geboren. Acht Tage nach der
Entbindung ist die rechte Brust unter Schmerzen und Röthung
angeschwollen. Nach Anwendung von erregenden Umschlägen
ist die geröthete Stelle vor 4 Wochen oberhalb der Areola auf-
gegangen. Vor 8 Tagen kam es zum Durchbruche einer gerötheten
Hautstelle im unteren inneren Viertel und zur Entleerung einer
grossen Menge dicklichen Eiters.
Stat. praes. Anämisches, schlecht genährtes Individuum*
Seit einem Vierteljahr nächtliche Schweisse. Im Sputum Bacillen.
/ (21)
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634 Piskadek.
Rechts Spitzencatarrh. Herz normal. Linke Mamma hängt welk
herab und zeigt die Eigenschaften einer Plurigravida. Die rechte
Brustdrüse etwas yergrössert und hängt ebenfalls in Form eines
Rachens herab. Sie hat die Grösse von etwa zwei Mannsfäusten,
ist von derber Consistenz, etwas Odematös, die Hautdecken um
die Areola bläulich verfärbt. 3 Cm. in gerader Richtung über
der rechten Warze ein über linsengrosses , weisslich belegtes,
von violetten, unterminirten Rändern umgebenes Geschwür. Die
unterminirte Partie beträgt 2 Cm. Im unteren inneren Viertel
ein nierenförmiges, etwa bohnengrosses, eine milchige Flüssigkeit
secemirendes, nach oben 3 Cm. weit uüterminirtes Geschwür mit
ebenfalls unterminirten Rändern. Nach unten innen von der
Areola eine Fistel, aus der sich seröser, mit käsigen Stückchen
untermischter Eiter entleert. In der Axilla zwei über erbsengrosse
Drüsen. Im Eiter konnten keine Bacillen nachgewiesen werden.
Jodoformsalbe. Für 8 Tage zum Verbandwechsel bestellt.
Fat. ist nicht mehr gekommen, konnte also nicht mehr weiter
beobachtet werden. Auf die Klinik wollte sie sich nicht auf-
nehmen lassen.
8. Fall. Anna R., 16 Jahre alt, aus Neu-Lerchenfeld, kam
am 26. October 1884 gebärend an die Klinik des Herrn Prof.
Späth. Sie gab an, dass ihr Vater im 33. Lebensjahre (wahr-
scheinlich an acuter Sepsis nach einer compl. Oberschenkelfractur)
gestorben sei. Die Mutter lebt und ist gesund. Von sechs Ge-
schwistern sind fünf gestorben. Zwei an Diphtheritis , eines an
Pneumonie, eines an Pleuritis und eines an Variola. Der jetzt
noch lebende 24jährige Bruder ist gesund. Bis auf Blattern, die
Pat. im dritten Jahre überstanden hat, soll sie immer gesund
gewesen sein. Mit 14 Jahren die ersten Menses. Anfangs Februar
1884 wurde sie gravid. In der Gravidität befand sich Pat. bis
Ende August ganz wohl. Um diese Zeit bemerkte sie, dass die
rechte Brustdrüse sich härter anfahle, als die linke, ohne dass
sie irgend welche Schmerzen dabei wahrgenommen hätte. Im
Verlauf von etwa zwei Wochen schwoll die rechte Brustdrüse
bedeutend an, unter gleichzeitiger bläulicher Verfärbung der Haut
über derselben. Pat. legte Leinsamenumschläge auf, worauf es
vor fünf Wochen zum Durchbruche und zur Entleerung grösserer
(22)
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Ueber die Taberculose der Brustdrüse.
635
Quantitäten Eiters kam. Der Eiter ist an sechs Stellen durch-
gebrochen und besteht noch immer aus mehreren Fisteln molken-
artige Secretion. Am 24. October wurde Pat. von einem 2350 Grm.
schweren und 45 Cm. langen lebenden Mädchen entbunden
(Steisslage).
Stat. praes. Mittelgross, schwächlich, massig gut genährt,
blond. Lunge und Herz normal. In der rechten Axilla zwei über
bohnengrosse Drüsen. Linke Brustdrüse gut entwickelt, die
Acini milchstrotzend. (Pat. befindet sich im Beginne des Wochen-
bettes.) Die rechte Brustdrüse von ungefähr derselben Grösse und
Gonsistenz, nur im äusseren unteren Viertel fühlt man einen
etwa walhiussgrossen, härteren Knoten. Am Hautüberzuge der
Brustdrüse theils violette Narben, theils Geschwüre mit unter-
minirten, violett verfärbten Rändern zu sehen. An zwei Stellen,
zwischen zwei nebeneinander sitzenden Geschwüren eine bläuliche
Hautbrücke. Von zwei Geschwüren gelangt man mehrere Centi-
meter tief durch Fistelgänge gegen die Drüsensubstanz und kann
durch einen concentrischen Druck auf die Brustdrüse aus der
Papille spärliche Quantitäten Milch und aus den Fisteln serösen
mit käsigen Massen vermischten Eiter entleeren. Weder im Eiter,
noch im Sputum Bacillen nachzuweisen gewesen.
Nachdem an 2 Durchbruchstellen spontane Schliessung er-
folgte, wird nur allgemeines Regimen beobachtet und alle 4 Tage
ein Jodoformverband angelegt. Die Fistelgänge wurden mit Lapis
in Substanz geätzt und hierauf Jodoformstifte eingeschoben. Im
Verlauf von 8 Wochen waren sämmtliche Geschwüre geheilt.
Wenn auch nur in einem Falle Bacillen im Ge-
webeder Mamma nachgewiesen wurden und blos bei
2 Kranken durch die histologische Untersuchung
der Nachweis der Tuberculose geliefert werden
konnte, so ist es auf Grund des klinischen Bildes
ausser Zweifel, dass wir es auch in den übrigen
6 Fällen mit wahrer Tuberculose der Brustdrüse zu
thun haben.
Bei 2 Kranken hat das Leiden ohne bekannte
Veranlassungangefangen, eine Kranke führt es auf
ein Trauma zurück, zweimal ist es im Wochenbett,
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m. Entstehungsformen.
Nach den beigebrachten Beobachtungen tritt die Frage an
ans heran, nach welchem Gesichtspunkte die Formen der Mamma-
tuberculose einzutheilen sind.
Die Brustdrüse kann durch continuirliche Ausbreitung der
Keime von den umgebenden Organen oder Geweben her erkranken
— Perforationstuberculose — es kann femer bei einem ander-
weitig tuberculösen Individuum von einem entfernteren Herde auf
dem Wege der Lymph- oder Blutgefässe der Infectionsstoff zur
Brustdrüse gelangen, secundäre Tuberculose, endlich ist
der Fall möglich, dass die Brustdrüse prim är tuberculös erkrankt,
ohne dass irgendwo im Organismus ein ähnlicher Herd etablirt wäre.
Während die erste Art der Entstehung wegen der relativen
Häufigkeit von Stemal- und Rippenaffectionen tuberculöser Natur
nicht gerade zu den allergrössten Seltenheiten gehören dürfte,
muss man nach den vorliegenden Erfahrungen eine in der Brust-
drüse selbstständig auftretende Tuberculose zu den seltensten
Ereignissen zählen. Es ist überhaupt fraglich, ob man die auf
die Mamima von der Nachbarschaft herübergreifende Affection
dieses Organs mit der selbststandig in der Mamma auftretenden
Form zusammenwerfen solle , da es ja gewiss einer ganzen An-
zahl von Beobachtern nicht beifällt, bei einem tuberculösen Herd
der von den Bippen oder Sternum herstammt, in die Gegend der
Mamma oder in diese selbst durchbricht und mit der Zeit das
Gewebe der letzteren in tieferer oder leichterer Weise mit afficirt,
als Tuberculose der Mamma zu bezeichnen. Eher wird das Auf-
treten der Tuberculose in diesem Organ nur als zuftlllige Com-
plication einer nach ihrem Ausgangspunkt zu benennenden Erank-
heitslocalisation angesehen.
Ich speciell habe von der Einbeziehung solcher Fälle in
diese Arbeit Umgang genommen und mich nur auf die Anftihrung
der Fälle beschränkt, in denen die Tuberculose der Mamma ohne
Affection der unmittelbaren Nachbarschaft auftrat.
(24)
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üeber die Tabercnlose der Brustdrüse. 637
BetrefiB der primären, solitären Abart der Mammatuberculose
wäre es wohl sebr erwünscht, dnrch eine Antopsie einen Fall
constatirt zn sehen , in dem die Tubercolose der Mamma der
selbstständige and einzige oder znm mindesten der primäre Herd
im Organismus sei. Die Mehrzahl der Beobachtungen lehrt, dass
ein solches Ereigniss bisher nicht angenommen werden konnte.
Meist war die Erkrankung der BrustdrUse die Theilerscheinung
einer den Organismus zur Zeit der Beobachtung an mehreren
Stellen gleichzeitig und so auch in der Mamma betreffenden
Tuberculose.
Dass die Diagnose einer, wenn auch nicht primären und
einzigen, so doch selbstständig ohne Uebergreifen von der Nach-
barschaft, auftretenden Tuberculose der Mamma einen Fortschritt
in der Erkenntnis s der Krankheiten der Brustdrüse bedeute, geht
daraus hervor, dass die Tuberculose der Mamma von den Eorj-
phäen der pathologischen Anatomie nicht beobachtet wurde, und
dass die Constatirung derselben durch histologisch-bacteriologischen
Beftmd in der Mamma zu den Errungenschaften der letzten Jahre
gehört.
Es würde sich, wie schon zu Anfang dieses Capitels erwäh nt,
nach dem eben Gesagten empfehlen, eine selbstständige Tuber-
culose der Mamma mit 2 Unterabtheilungen zu unterscheiden,
deren eine, die primäre, in der Weise bestünde, dass ausser der
Mamma der ganze Organismus frei von Tuberculose oder zum
mindesten die Erkrankung des übrigen Körpers zeitlich der der
Mamma gefolgt wäre, während die zweite Unterabtheilung (die
secundäre Tuberculose) jene Formen der Mammatuberculose in
sich fassen würde, welche als Simultanlocalisation mit anderen
am Körper sich findenden tuberculösen Herden oder als eine
von bereits vorhandenen Tuberkeln ausgehende, jedoch discon-
tinuirliche Infection der Mamma anzusehen wäre.
Zu dieser Unterabtheilnng würde die Ueberzahl der bisher
beobachteten Fälle gehören, mit Ausnahme der in der folgenden
Classe zu erwähnenden. Diese 2. Classe würde Fälle von conti-
nuirlicher tubercnlöser Infection der Mamma in sich begreifen,
entstanden durch Fortleitung der Keime von Seite der nach-
barlichen Organe oder Gewebe. Dies wäre der Fall bei Lymph-
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638
Piskaiek.
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drüseneiterimgeD, Sternal- und Rippencaries, bei retromammären
kalten AbscesBen, oder sogar, wie der Horteloup'sche Fall
illnstrirt, bei sabplenralen tabercolösen Herden, die durch die
Intercostalräome gegen die Bmstdriise dorchgebrochen sind
(Perforationstaberculose) .
IV. Diagnose und Verlauf.
Wenn wir die Erscheinungsweise der Krankheit nach Aus-
schluss der von der Nachbarschaft übergreifenden Tuberculose
betrachten wollen , so macht sich in dem Ej'ankheitsbilde eine
Lücke bemerkbar, nämlich unser Nichtvertraatsein mit dem
Anfangsbilde der Brustdrüsentaberculose.
In allen den beschriebenen Fällen wurde die Diagnose ent-
weder an bereits sehr weit vorgeschrittenen Stadien der Krankheit
oder sogar erst bei der Obdaction gemacht.
Es ist wohl anzunehmen, dass die Mammatuberculose in
früheren Zeiten ebenso häufig vorgekommen ist wie heutzutage, und
doch besitzen wir aus den früheren Zeiten nur sehr dürftige und
vermuthungsweise Beschreibungen des Processes. Es wird eben
dasselbe wie bei der Tuberculose der Zunge vorgekommen sein,
welche auch erst in der letzten Zeit bewusst intra vitam als
solche erkannt worden ist, während sie früher, wie aus den in
den Protokollen fehlenden Diagnosen zu schliessen ist, höchst
wahrscheinlich unter die Rubrik Garcinom subsumirt wurde.
Ebenso dürfte bei der Mammatuberculose der Process zumeist
mit einem schrumpfenden Scirrhus verwechselt worden sein,
welcher bei oberflächlicher Betrachtung der tuberculösen Affection
der Brustdrüse mit ersterem Leiden eine Aehnlichkeit hat. Es
ist auch aus dem eben Gesagten mit einiger Wahrscheinlichkeit
anzunehmen, dass ein grosser Theil der operativ dauernd geheilten
Fälle von Mammacarcinom auf Rechnung der Tuberculose zu
stellen ist.
Wir müssen uns in Anbetracht des Mangels an einschlägigen
Fällen der Beschreibung der Anfangsstadien der Mammatuber-
culose ftlr enthoben betrachten und können nur eine solche von
zumeist nur vorgeschrittenen Fällen liefern, wie sie uns und
anderen Beobachtern vorgekommen sind.
(26)
I
üeber die Taberculose der Brustdrüse.
639
Im Allgemeinen würde nach denselben die Erscheinungs-
weise der Tuberculose eine zweifache sein, entweder dnrch Er-
griffensein nur eines T heiles der Brustdrüse oder durch das
gleichzeitige Vorkommen von mehreren isolirten
H e r d e n an den verschiedenen Stellen des Organes.
Für das Vorkommen der ersteren Art ist schon der Anblick
ein ungemein charakteristischer. Das in seiner Lage, in seiner
totalen Form und Grösse von der anderen Mamma kaum wesent-
lich differente Organ zeigt um die Mamilla herum zerstreut mehrere
Geschwüre", welche kurzweg gesagt alle Charaktere der tuber-
culdsen Ulcera an sich tragen, nämlich : Geschwüre mit bläulich-
violetten verdünnten, unterminirten Rändern, oft ebenso beschaffene
Hautstreifen, die brückenartig das Geschwür überspannen. Die
Umgebung des Geschwüres pflegt im grösseren Umkreis gleich-
falls bläulich verfärbt zu sein.
Der Greschwürsgrund ist von wässerigen, blassen, schlaffen
Granulationen bedeckt und secemirt einen molkigen oder dünnen
serösen Eiter. Dieses Geschwür documentirt sich als eine Per-
forationsstelle eines tuberculösen Herdes, um welchen dem Ge-
schwüre entsprechend, ein wenn auch nicht umfängliches Infiltrat
oder knollige Verdichtung eingelagert ist. Solche Herde können
mehrere in der Drüse bestehen.
Es ist zu vermuthen, dass die Anfänge der Krankheit derben
knolligen Verdichtungen der Mamma mit oder ohne Verwachsung
der Haut, mit oder ohne Fluctuation in den Knoten, ähnlich sein
werden.
Diese Einlagerungen in den Geweben sind um so deutlicher
zu tasten, als die Haut bei Individuen, die von einer solchen
Consumptionskrankheit befallen sind, ziemlich wenig fettunter-
polstert erscheint und auch das Organ selbst der Atrophie ver-
fallen ist.
Die vorgeschritteneren Formen, mögen sie aus einem oder
mehreren Herden bestehen, lassen eine centrale Zerfallshöhle wahr-
nehmen, um welche sich eine den Höhendurchmesser auch 2 bis
3mal überragende Bindegewebskapsel angebildet hat. Selbstver-
ständlich — so wenigstens war es in unseren Fällen — erleichterte
die Diagnose einer selbstständigen Mammatubercalose der Umstand,
(27)
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640 Piskaiek.
da88 die Knoten weder der Fascie, noch dem von ihr umschlossenen
Pectoralis adhärirten, wiewohl die Möglichkeit des Fortschreiteins
des Leidens gegen die letzteren Gebilde ebenso wie gegen die
Haut zugegeben werden mnss.
Sind derlei Adhäsionen vorhanden, so ist selbstverständlich
schon das zweifellose primäre Aaftreten des Processes in der
Drüse selbst nicht mehr so feststehend, als wenn die von der
Tnbercnlose befallene Mamma über der Fascie noch mobil ist.
Geradezu verdächtig auf das Uebergreifen des Processes von
der Nachbarschaft her sind jene Fälle, wo die Drüse an irgend,-
welche dem Thorax anhaftende Infiltrate fixirt erscheint, da ja
der Ausgangspunkt in den Hippen oder dem Stemnm und Per-
foration in die Drüse gesucht werden kann.
Sowie bei allen tuberculösen Processen participiren an der
Tuberculose der Mamma sehr bald die regionären Lymphdrüsen.
Bezüglich der Diiferentialdiagnose dürften die Anfangsstadien
des Processes ziemlich bedeutende Schwierigkeiten darbieten, in-
sofern, als ein resistenter, derber, isolirter Ejioten in der Manmia
insbesondere im climacterischen Alter beobachtet, leicht für ein
Carcinom, in den früheren Jahren filr eine adenomatöse Wucherung
des Drüsenparenchyms gehalten werden könnte.
Bezüglich der die Affection vielleicht einleitenden Symptome,
als Schmerzen, Druckempfindlichkeit, wie sie bei vielen tuberculösen
Afiectionen beobachtet werden, lässt sich nichts Bestimmtes aus-
sagen, da in unseren Fällen solche theils vorhanden waren, theils
fehlten.
Kam es zur Erweichung des Herdes, so wird allerdings die
Diagnose gegen das Carcinom und Adenom immer leichter, gegen
andere Geschwülste der Mamma, wie das Cystosarcom, sowie gegen
seröse und Milchcysten immer schwieriger. Das Alter, welches bei
der Tuberculose der Mamma auf Grund unserer Fälle zwischen
15 und 45 Jahren schwankt, ist in den extremen Fällen für das
Carcinom, schwer aber für die letztgenannten Geschwülste ein
günstiger differential-diagnostischer Behelf.
Nach einem von uns beobachteten und genau histologisch
und bacteriologisch untersuchten Falle ist eine Verwechslung mit
einer chronischen, eitrigen, nicht puerperalen, in unserem Falle
(«8)
lieber die Tnbercnlose der Brustdrüse. 641 ^
-»•1
■'S
ätiologisch nicht aufgeklärten Mastitis denkbar. In diesem Falle ^
befand sich in der Mamma ein nahezu faustgrosser, chronischer
Abscess. Das Drlisenparenchym war geschwunden bis aaf geringe
Reste. Die Achseldrtisen waren nicht geschwollen. Die Mamma
wurde amputirt, in der Meinung, es handle sich hier um eine
tuberculöse Mastitis ; jedoch lehrte die histologisch-bacteriologische
Untersuchung, dass von einer Tuberculöse keine Merkmale vor-
handen seien. Die Annahme der Mammatuberculose war in diesem
Falle noch durch den Umstand unterstützt, dass seit 11 Jahren
keine Geburt erfolgt ist und vor einem Jahre Bluthusten bestand.
Soweit unsere Erfahrungen reichen, lässt sich auch an der
Charakteristik der Axillar- und Retropectoraldrüsen oft die zum
Mindesten nicht carcinomatöse Natur des Leidens erkennen, da
den Drüsen die kugelige harte Gestalt fehlt und die bei Carcinom
typischen lancinirenden Arm- und Halsschmerzen nicht vorhanden
sind. Das gleichzeitige Auftreten anderer tuberculöser Affectionen,
meist in den Lungen, oder das Vorhandensein scrophulöser Narben
an anderen Eörperstellen kann mit Nutzen zur Sicherung der
Diagnose herangezogen werden.
Von grosser diagnostischer Wichtigkeit ist die BeschaflTenheit
des Eiters. Sowohl bei den abscedirenden tuberculösen Lymph-
drüsen, als auch bei den tuberculösen Abscessen der Brustdrüse
hat der Eiter immer eine seröse und molkige Beschaffenheit. Der
Eiter ist stets mit käsigen Bröckeln untermischt. Oft enthält die
ganze Abscesshöhle einen käsigen Klumpen, der sozusagen einen
Abguss der ganzen Höhle darstellt. Sowohl der seröse Eiter, als
auch die käsigen Massen können Tuberkelbacillen enthalten, ob-
zwar der Umstand, dass keine Bacillen gefunden werden konnten,
keineswegs die Diagnose der Tuberculöse strittig macht. Sowohl
bei den meisten von unseren Fällen , als auch bei jenen anderer
Beobachter war oft der Nachweis von Bacillen, trotz peinlichster
Beobachtung der vorgeschriebenen Methoden, unmöglich. Es hängt
dies damit zusammen, dass die Fälle durchwegs in weit vorge-
schrittenen Stadien d^ Processes sich befanden.
Auch durch Ueberimpfung lässt sich, wie in Ohnacker's
zweitem Falle, die tuberculöse Beschaffenheit des Eiters fest-
stellen.
(29)
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642 Piikaeeb.
Ganz sieber kann die Diagnose gestellt werden, wenn dnrcb
eine ausgiebige Ineision das Innere der Abacesshtihle blossgelegt
wird. Entfernt man den oben beschriebenen Inhalt der Höhle,
so sieht man die Innenwand ansgekleidet mit einer opaken,
röthlich-brannen Membran — der pyogenen Hembran — in wel-
cher dicht aneinander miliare, graulich- weisse , circa hirsckom-
grosse Knötchen eingebettet sind. Diese Membran hat gewöhnlich
eine Dicke von 3 — 4 Mm. Sie lässt sich meist leicht mit einer
Fincette abstreifen.
Erstreckt sich die tnbercnlöse Infiltration anf die Umgebung
der Äbscesshühle , so sieht man in dem anscheinend normalen
Gewebe zerstreut stehende miliare TnherkelknOtchen.
Dieses Bild entspricht jenen Formen der Tuberculose. wo
in der BrnstdrUse ein Herd etablirt ist, wo, wie Diibar sich
ausdrückt, die conglobirte Form der Tnbercnlöse besteht.
Bei der disseminirten Form hat man das eben beschriebene
Bild an mehreren Stelleu der Brustdrüse.
So viel Über die Feststellung der Diagnose dnrch den makro-
skopischen Befund.
Der mikroskopische Befand erstreckt sich anf den histo-
logischen Nachweis der tnbercalösen Infiltration nnd auf den
Nachweis von Tnberkelbacillen. Da aber das Aufßnden der letz-
teren, aus dem früher erwähnten Grunde — anch an Schnitten
— äusserst schwierig, oft sogar raimöglich wurde, muss die
histologische Untersuchung als ausschlaggebend betrachtet werden.
Hier gilt ausser der diffusen kleinzelligen Infiltration des
Drtlsenstromas der Nachweis von Tuberkelknötchen in der Drüsen-
Substanz sowohl als anch im interacinSsen Bindegewebe.
Die Knötchen' können aus kleinzelliger Infiltration allein
bestehen, oder es können ausserdem Riesenzellen darin eingebettet
sein. Es finden sich auch letztere, mitten in einer diffusen klein-
zelligen Infiltration , einzeln oder in Gruppen stehend , im inter-
acinösen Bindegewebe.
Der Umstand, dass die Biesenzellen im interacinüsen Binde-
gewebe alleinstehend nachgewiesen werden können, ohne dass
irgendwo in der Nabe auch nur eine Spur von Drüsensuhstanz
zu bemerken wäre, spricht für die Annahme Orthmann's, dass
üeber die Tubercülose der Bnutdrüse. 643
*
die Bildung der Riesenzelien aus den epitheloiden Zellen durch
allmälige Yergrösserung sich vollzogen habe, während Dubar
der Ansicht ist, dass die Riesenzellen aus Drüsenschläuchen ent-
standen seien.
Der Nachweis von Bacillen kann gelingen sowohl in den
Riesenzellen, den epitheloiden Zellen, in den Tuberkelknötchen
und im diffus infiltrirten Gewebe.
Im letzteren Falle haften die Bacillen meist in der. Nähe
der Riesen- und epitheloiden Zellen.
Wie meist bei Tubercülose, ist der Verlauf des Leidens ein
langwieriger.
Von den durch directes Uebergreifen des Processes von der
Nachbarschaft bedingten Fällen abgesehen, kann von langer Zeit
her der Infectionskeim in der Brustdrüse latent vorhanden sein,
ohne welche Beschwerden zu verursachen und ohne sich durch
irgendwelche Symptome zu äussern.
Die Keime sind bei irgend einer Gelegenheit auf dem Wege
der Blut- und Lymphgefässe von irgend einem primären Herde
in die Brustdrüse gelangt und, ohne von ihrer Lebensfähigkeit
zu verlieren, daselbst verblieben.
Wenn nun durch congestive Zustände in der Mamma das
Gewebe aufgelockert vnirde und für die Entwicklung der infec-
tiösen Keime ein günstiger. Nährboden entstanden ist , bemerkt
Patientin einen Knoten in der Brustdrüse, der nach ihrer Aus-
legung „ohne bekannte Veranlassung^ entstanden sei.
In der Pubertät ist es zumeist die Zeit der Menses, wäh-
rend welcher stets Congestivzustände in der Brustdrüse bestehen.
In einem viel höheren Grade ist dies der Fall während der
Gravidität. Den günstigsten Nährboden ftlr die Entwicklung
infectiöser Keime bildet die Brustdrüse im Puerperium und wäh-
rend der ganzen Zeit der Lactation. Es erklärt sich auch daraus
der Umstand, dass die meisten Fälle von Tubercülose der Brust-
drüse nach dem Puerperium beobachtet wurden.
Congestivzustände in der Brustdrüse werden auch durch
Traumen hervorgerufen. In diesen Fällen ftlhren die Ej*anken
den Anfang des Leidens auf das Trauma zurück.
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644 PiskaSek.
Wie in der Diagnose echon erwähnt, wird die Erkennung
der AnfangBStadien sehr schwierig and auch dies hängt mit der
langsamen Entwicktang des ProceBses zusammen.
Die Kranken stellen sieb erst dann dem Arzte vor, wenn
sie dnrch ein spannendes Gefühl oder Schmerzen in der Brust-
drüse anf das Vorhandensein eines Leidens aufmerksam gemacht
werden. Da die Schmerzen bei Entwicklang eines tubcrciilüsen
Processes nicht bedentend, oft gar nicht YOrhanden sind, bekommt
man den Fall erst dann zu Gesicht, wenn an irgend einer Stelle
der Mamma bereits ein Knoten entstanden ist. Der Knoten hat
anfangs eine derb-elastische Beschaffenheit und nimmt langsam
an Umfang zu. Die Axillardrttsen der erkrankten Seite schwellen
an und kennen oft za fanstgrossen Paketen anwachsen. Die
früher schlaff herabhängende Brustdrüse wird Totumiuüser. Ist
das Infiltrat grösser und verursacht es eine Spannung der Haut,
so wird diese glänzend. AUmälig erweicht der Knoten nnd mau
kann deutliche Fluctuation nachweisen. Ist die Schmelzung bis
zur Haut vorgerückt, so wird an der dünnsten Stelle ein violetter
Fleck bemerkbar, gerade so, als wäre vor kurzer Zeit durch ein
Tranma eine Soffusion entstanden. Schliesslich schmilzt auch die
Haut an dieser Stelle ein nnd die meist langwierige Eiterung
nimmt ihren Anfang.
Einen ähnlichen Verlauf beobachtet man bei den geschwell-
ten Axillardrüsen.
Einige Zeit nach dem erfolgten Durchbrnch ist die Eiterung
eine stärkere ; bald aber wird diese spärlicher und pereistirt dann
fhr lange Zeit als Eiterung aus einer Fistel. Es kann, nachdem
eine solche Fisteleitemng einige Monate, in manchen Fällen auch
Jahre lang bestanden hat, die Abscesshöble sich verkleinern und
ihre Umgebung bindegewebig Bchrumpfen, woranf sich dann die
Fistel schÜesst und eine Heilung durch Auseiterung erfolgt.
Lässt die Eiterung nicht nach, greift der Proeess im Gegen-
theil weiter um sich, so wird der ganze Organismus in Mitleiden-
Hchaft gezogen und das Individuum geht, wie bei jeder lang-
dauernden Eiterung, namentlich bei gleichzeitigem Afficirtsein der
Langen, bald zu Grunde.
Uüber die Tnberculose der Brustdrüse.
645
Ab und zu lässt sich wenigstens die Schwäcliuug des
Organismus von Seite der Brustdrüse dadurch beheben, dass das
ganze ergriflFene Organ sammt den angehörigen Lymphdrüsen
entfernt wird*
Wohl in der Mehrzahl der Fälle wird das Wohlbefinden,
ja oft ein förmliches Aufblühen nach einem solchen Eingriff nur
ein vorübergehendes, durch Entfernung des Eiterherdes hervor-
gerufenes sein, indem nach einiger Zeit in dem einmal inficirten
Organismus neue Herde auftauchen.
Es kann auch, wie bei den tuberculösen Processen so häufig,
der Verlauf ein solcher sein, dass , nachdem in der Brustdrüse ein
deutlich nachweisbarer Infiltrationsknoten von derb-elastischer Be-
schaffenheit vorhanden war und auch die Schwellung der Axillar-
drüsen constatirt werden konnte, der Zustand einige Zeit stationär
bleibt. Nach längerem Bestände schwinden die Axillardrüsen, der
Knoten wird kleiner und persistirt schliesslich als eine schwielige
Verdickung an Stelle der früheren Infiltration. Es kommt zu einer
Heilung durch Abkapselung, indem das den Knoten umgebende
bindegewebige Stroma eine schützende Hülle bildet und sozusagen
die infectiösen Keime absperrt. Dass in einem solchen Falle der
Process damit nicht abgethan sein muss und in einem günstigen
Momente zu neuerlichen Exacerbationen fahren kann, liegt im
Bereiche der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit. Günstige äussere
Einflüsse können jedoch einen dauernden Stillstand zur Folge haben.
Wir haben bei unserer bisherigen Betrachtung des Verlaufes
insbesondere jene Fälle vor Augen gehabt , wo die Infiltration
einen Theil der Brustdrüse betraf, während ein grosser Theil der
Brustdrüse vom tuberculösen Infiltrat verschont blieb. Es kann
jedoch gleichzeitig an mehreren Stellen eine knotige Verdickung
auftreten. Die Knoten können durch allmäliges Anwachsen bis
zur Berührung kommen und nun die ganze Bn^tdrüse einnehmen.
Der Durchbrach erfolgt dann an mehreren Stellen und die sich
daran schliessende Fisteleiterung absorbirt die Kräfte der Kranken
in einem viel höheren Grade. Wir haben dann vor uns jene Form,
dieOhnackerdie confluirende bezeichnet. Während D u b a r
von einer conglobirten und disseminirten Form der Tuberculose
spricht, ist Ohnacker der Ansicht, „dass jedesmal zuerst eine
Med. Jakrbücher. 1887. gi (33)
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:3t' 646 PiskaCek.
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y. Therapie mid Prognose.
Wenn auch das rationellste Verfahren bei sicher constatirter
^i Mammatabercnlose in der Amputation der Brustdrüse und Aus-
räumung der Achselhöhle besteht, so fragt es sich doch , ob man
nicht bei gewissen Formen und in gewissen Stadien des Leidens
auf einem anderen Wege Heilung erzielen könnte.
Es spricht daftir wenigstens der Umstand, dass bei vielen
tuberculösen Processen auch Heilung nach conseryativer Behandlung
eintritt
D u b a r schlug vor Amputation der Brustdrüse bei conglobirter
Form der Tuberculose, während er der Ansicht war, dass man
bei der disseminirten Form palliativ vorgehen soll.
Auf Grund der klinischen Beobachtungen wäre gerade in
jenen Fällen, wo in der Brustdruse an mehreren Stellen tuber-
culose Herde vorhanden sind, die Amputation vorzunehmen, vor-
(34)
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conglobirte, nach längerem Bestände eine disseminirte und schliess-
lich die confluirende Form entsteht". Die klinischen Beobachtungen
sprechen dafUr, dass die conglobirte Form als solche ihren Verlanf
nehmen kann, währen d die disseminirte meist in die confluirende
Form übergeht.
Was das Alter betrifift, welches zur Entstehung der Mamma-
tuberculose disponirt, müssen wir der Ansicht Ohnacker's, auf
Grund der klinischen Beobachtungen, beistimmen, dass die Zeit i
vom Eintritte der Pubertät bis zum beginnenden Climax die
^ günstigsten Bedingungen für die Infection der Brustdrüse und Ent-
wicklung des tuberculösen Processes in derselben schafft. Es
wird dies also, wie schon erwähnt, die Zeit vom 15. bis zum
45. Lebensjahre sein. Dass ausserhalb dieses Alters die Brustdrüse
^; auch tuberculös erkranken kann, liegt im Bereiche der Möglichkeit
^r' und auch wir haben einen Fall zu veraeichnen, wo der Process
nach einem Trauma im 52. Lebensjahre seinen Anfang nahm. Es
wurde eben durch das Trauma ein Congestivzustand geschaffen,
p: : durch welchen die in die Brustdrüse gelangten Keime ftlr ihre
Entwicklung einen günstigen Nährboden bekamen. Die jüngste
von uns beobachtete Patientin acquirirte die Tuberculose im
16. Lebensjahre in der Gravidität.
J
I
1
Ueber die Tuberculose der Brustdrüse.
647
ausgesetzt, dasa der allgemeine Kräfteziistaud diese eiiaabt. Es
ist bei palliativer Behandiang der disseminirten Form der Tuber-
culose ein Ding der Unmöglichkeit, gleichzeitig alle Herde in
Angriff zu nehmen, während nur auf diese Weise die conservative
Therapie eingeleitet werden kann.
Bei der conglobirten Form ist es leichter, eine radicale
Heilung bei conservativem Verfahren zu erzielen, weil bei Inangriflf-
nahme des einzigen Herdes eher alle Keime vernichtet werden können.
Das palliative Verfahren besteht darin, dass man ausgiebige
Incisionen macht, die pyogene Membran mit einem scharfen Löffel
aus der Abscesshöhle entfernt, das Gewebe unter der Membran
mitnimmt und auf ähnliche Weise auch mit den Fistelgängen ver-
fährt. Hierauf kann die Höhle mit Jodtinctur ausgepinselt und mit
Jodoformgaze ausgestopft werden. Die weitere Behandlung unter-
liegt dann den üblichen chirurgischen Regeln.
Weit besser ist es, nach Excochleation der Abscesshöhle
die Verschorfung mit dem Thermocauter zu besorgen.
Ist keine Abscesshöhle vorhanden, sondern nur Fistelgänge,
so wird nach erfolgter Excochleation und Cauterisation der
Wundcanal durch eingeführte Jodoformstäbchen aseptisch gehalten.
Wurde eine Amputation der Mamma und Ausräumung der
Achseldrüsen vorgenommen an einem Individuum, wo der tuber-
culose Herd primär in der Brustdrüsse entstanden war, ohne dass
das somatische Befinden eine Störung erlitten hätte, so kann die
Prognose günstig lauten.
Bei Individuen, wo gleichzeitig andere Theile des Organismus
erkrankt sind, hängt die Prognose auch vom Grade dieser Leiden ab.
Aeussere günstige Verhältnisse , wie der Aufenthalt in guter
Luft, gute Emährungsverhältnisse fallen sehr in die Waagschale.
• - -wa
•^i.
VI. Stattstik.
Zum Schlüsse wollen wir das Procentverhältniss der Mamma-
tuberculose zu den übrigen Mammatumoren berücksichtigen und
wählen hierzu den Zeitraum, aus welchem die von uns beschrie-
benen Fälle datiren.
Es ist dies, wie schon eingangs erwähnt, die Zeit vom
1. October 1881 bis Ende September 1886.
51 • (85)
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Piskaöek. üeber die Tubercalose der Brnstdröse.
In diesem Zeiträume stellten sich an der Klinik des Herrn
Prof. Albert in der Ambulanz (Poliklinik) 21471 Kranke vor.
Von diesen waren 359, wovon 352 Frauen und 7 Männer,
an der Brustdrüse erkrankt.
Es entfallen also an obiger Klinik für den genannten Zeitraum
unter den Brustdrllsentumoren 222% auf die Manmiatuberculose.
Gleichzeitig wurden in die klinische Behandlung aufge-
nommen 5161 Kranke, wovon 2215 Weiber und 2946 Männer.
Die meisten stellten sich vorher in der Ambulanz vor.
Da nun unter den an der Klinik behandelten Kranken 4 mit
Tuberculose der Brustdrüse behaftet waren, so kommen auf
sämmtliche klinischen Patienten:
007 o/o auf Tuberculose der Mamma. Von den kranken
Frauen waren 0*18 o/o an Mammatuberculose erkrankt.
Unter den 2215 kranken Frauen hatten 242 Brustdrüsen-
tumoren. Es entfallen somit unter den letzteren an genannter
Klinik l'6ö^fo auf die Tuberculose der Brustdrüse.
Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. E. Albert,
bin ich für die gütige Zutheilung dieser Arbeit, sowie die freund-
liche Fördening derselben zu tiefgefühltem Danke verpflichtet.
Wien, im Juli 1887.
Erklärung der Tafeln.^)
(XXVII, XXVIII nnd XXIX zum ersten FaU gehörig.)
Taf. XXVII. Die in der Kiclitnng ab durchschnittene Brustdrüse. A uod A,
Abscesshöhlen.
Taf. XXVI II. XJebersichtsbild nach einem mikroskopischen Schnitt gezeichnet
(Beichert, Ocul. 3, Obj. 4). Quergetroffener grösserer Milchgang, zum
Theil infiltrirt. Eechts oben zwei, links unten ein TuberkeUtnötchen.
In den ersteren Riesenzellen. Das interacinöse Bindegewebe von klein-
zelliger Infiltration durchsetzt.
Taf. XXIX, Fig. 1. In der Mitte des Sehfeldes 6 Bacillen in der Nähe einer
epitheloiden Zelle (Beichert mit Oelimmenion).
Taf. XXIX, Fig. 2. RiesenzeUen mitten in kleinzelliger Infiltration des Binde-
gewebes (Beichert, Ocul. 4, Obj. 7).
Taf. XXX. Sechster Fall unserer Casuistik.
>) Tafel XXVIII und XXIX sind vom Cand. med. Herrn C. Henning
angefertigt.
(36) Druck von GotUieb Gittel * Comp, in Wien.
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